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I. Die im März 1987 geborene Tochter
der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin) lebte seit
dem Jahr 2005 in einer Wohnform des betreuten Wohnens. Die Kosten
hierfür übernahm der Beigeladene als
Jugendhilfeträger. Diese Hilfe für junge Volljährige
wurde zum 31.8.2006 wegen Rückkehr der Tochter in den Haushalt
der Klägerin beendet.
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Im März 2006 beantragte der
Beigeladene, das Kindergeld für die Tochter an ihn auszuzahlen
(abzuzweigen), weil die Klägerin sich weigere, Barunterhalt
für die Tochter zu leisten. Mit Bescheid vom 3.4.2006 zweigte
die damals zuständige Familienkasse R das Kindergeld ab April
2006 in Höhe von 154 EUR an den Beigeladenen ab mit der
Begründung, die Abzweigung sei in dieser Höhe angemessen,
weil die Klägerin ihrer Tochter keinen Unterhalt gewähre
und das Kindergeld insoweit für den Kindesunterhalt bestimmt
sei.
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Mit ihrem Einspruch machte die
Klägerin geltend, sie sei nicht damit einverstanden gewesen,
dass der Beigeladene ihrer Tochter das Wohnen außerhalb des
Elternhauses ermögliche. Sie habe ihm mitgeteilt, dass der
Tochter ein eigenes Zimmer im Haus der Eltern zur Verfügung
stehe und ansonsten der Unterhalt innerhalb der Familie
gewährt werde. Ein Anspruch auf Barunterhalt bestehe
nicht.
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Der Einspruch wurde als unbegründet
zurückgewiesen. Die Voraussetzungen für eine Abzweigung
lägen vor, da die Klägerin ihrer gesetzlichen
Unterhaltspflicht nicht nachkomme. Die nach Ansicht des
Beigeladenen tiefgreifende Zerrüttung der Beziehungen zwischen
Eltern und Kind rechtfertige den Auszug des Kindes aus der
elterlichen Wohnung und damit den Barunterhaltsanspruch.
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Das Finanzgericht (FG) gab der Klage gegen
die - während des finanzgerichtlichen Verfahrens
zuständig gewordene - Familienkasse P (Beklagte und
Revisionsklägerin - Familienkasse - ) mit Urteil vom
14.10.2008 12 K 2884/06 (EFG 2010, 575 = SIS 10 06 94) statt und
hob den Abzweigungsbescheid sowie die Einspruchsentscheidung
auf.
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Es führte im Wesentlichen aus, die
Voraussetzungen für eine Abzweigung des Kindergeldes
lägen nicht vor. Die Klägerin sei ihrer Unterhaltspflicht
durch das Anbieten von Naturalunterhalt und Zahlung des Schulgeldes
nachgekommen. Diese Bestimmung über die Art der
Unterhaltsgewährung sei gegenüber der Tochter wirksam
getroffen worden und gelte, weil sie nicht missbräuchlich sei,
auch gegenüber Dritten.
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Mit ihrer Revision rügt die
Familienkasse die Verletzung des § 74 Abs. 1 Sätze 1 und
4 des Einkommensteuergesetzes (EStG).
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Die Familienkasse beantragt, das Urteil des
FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Die Klägerin beantragt, die Revision
zurückzuweisen.
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Der Beigeladene hat keinen Antrag
gestellt.
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II. Die Revision ist begründet. Sie
führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur
Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen
Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der
Finanzgerichtsordnung - FGO - ).
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1. Entgegen der Auffassung des FG liegen im
Streitfall die Voraussetzungen für eine Abzweigung des
Kindergeldes an den Beigeladenen dem Grunde nach vor.
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a) Das für ein Kind festgesetzte
Kindergeld nach § 66 Abs. 1 EStG kann gemäß §
74 Abs. 1 Sätze 1 und 4 EStG an die Person oder Stelle
ausgezahlt werden, die dem Kind Unterhalt gewährt, wenn der
Kindergeldberechtigte dem Kind gegenüber seiner gesetzlichen
Unterhaltspflicht nicht nachkommt.
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b) Nach §§ 1601 ff. des
Bürgerlichen Gesetzbuchs war die Klägerin verpflichtet,
ihrer Tochter Unterhalt zu gewähren. Die Verpflichtung zur
Unterhaltsgewährung blieb auch insoweit bestehen, als der
Beigeladene die Kosten für den Unterhalt und die Unterbringung
der Tochter getragen hat. Jugendhilfeleistungen sind zwar nach den
im Streitzeitraum April bis August 2006 geltenden Vorschriften nur
in eingeschränktem Umfang nachrangig, da sie dem Ausgleich
eines Erziehungsdefizits dienen und daher mit Unterhaltsleistungen
nicht „kongruent“ sind (Wiesner, SGB VIII,
§ 10 Rz 26). Sie führen nicht zu einem gesetzlichen
Übergang des Unterhaltsanspruchs des Kindes auf den
Jugendhilfeträger, sondern mindern die Unterhaltsverpflichtung
der Eltern, soweit der Bedarf des Kindes durch
Jugendhilfeleistungen gedeckt ist (§ 10 Abs. 2 Satz 2 des
Achten Buches Sozialgesetzbuch - SGB VIII - in der Fassung für
die streitigen Monate August bis Dezember 2006).
Unterhaltspflichtige Eltern sind aber an den Kosten durch einen
Kostenbeitrag zu beteiligen (§ 10 Abs. 2 Satz 1, § 91
Abs. 1 Nr. 5, § 92 Abs. 1 Nr. 5, § 94 Abs. 3 Satz 1 SGB
VIII). Diese Regelung setzt also einen zivilrechtlichen
Unterhaltsanspruch voraus. Trotz der Jugendhilfeleistungen bleibt
die zivilrechtliche Unterhaltspflicht der Eltern dem Grunde nach
bestehen (Urteil des Bundesgerichtshofs vom 6.12.2006 XII ZR
197/04, Zeitschrift für das gesamte Familienrecht 2007, 377,
a.E.).
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c) Die Klägerin ist ihrer gesetzlichen
Unterhaltspflicht nicht i.S. des § 74 Abs. 1 Satz 1 EStG
nachgekommen, da sie jedenfalls die zum Lebensbedarf ihrer Tochter
gehörenden laufenden Kosten für die Unterbringung nicht
getragen und die Zahlung eines Kostenbeitrags abgelehnt hat.
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Der Unterhaltspflicht nicht nachkommen
bedeutet, dass der Kindergeldberechtigte objektiv und dauerhaft
für den wesentlichen Unterhalt des Kindes nicht aufkommt. Auf
die Gründe für die Nichterfüllung der
Unterhaltspflicht kommt es nicht an (vgl. Senatsurteile vom
23.2.2006 III R 65/04, BFHE 212, 481, BStBl II 2008, 753 = SIS 06 30 01; vom 9.2.2009 III R 37/07, BFHE 224, 290, BStBl II 2009, 928
= SIS 09 15 26; vom 17.12.2008 III R 6/07, BFHE 224, 228, BStBl II
2009, 926 = SIS 09 15 27).
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2. Da die Voraussetzungen für eine
Abzweigung dem Grunde nach vorliegen, hängt die
Rechtmäßigkeit des Abzweigungsbescheids davon ab, ob die
Entscheidung der Familienkasse über die Abzweigung
sachgerechtem Ermessen entspricht. Dies kann der Senat aufgrund der
bisherigen Feststellungen des FG nicht abschließend
entscheiden; die Sache ist daher an das FG
zurückzuverweisen.
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a) Die nach § 74 Abs. 1 EStG
(„kann“) im Ermessen der Familienkasse stehende
Entscheidung, ob und in welcher Höhe das Kindergeld abgezweigt
wird, ist gerichtlich nur auf Ermessensfehler überprüfbar
(§ 102 FGO). Stellt das Gericht einen Ermessensfehler fest,
kann es nicht selbst Ermessen ausüben, sondern ist darauf
beschränkt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben.
Lediglich dann, wenn nur eine Entscheidung ermessensgerecht
erscheint (sog. Ermessensreduzierung auf Null), ist das Gericht
befugt, seine Entscheidung an die Stelle der Ermessensentscheidung
der Familienkasse zu setzen (Senatsurteil in BFHE 224, 290, BStBl
II 2009, 928 = SIS 09 15 26, m.w.N.).
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b) Bei der Ausübung des Ermessens ist
insbesondere der Zweck des § 74 Abs. 1 EStG zu
berücksichtigen (§ 5 der Abgabenordnung). Trägt der
Kindergeldberechtigte überhaupt keine Aufwendungen für
den Unterhalt des Kindes, soll das gesamte Kindergeld nicht ihm,
sondern entweder dem Kind oder aber demjenigen zugute kommen, der
dem Kind tatsächlich Unterhalt gewährt. Auch geringe
Unterhaltsleistungen des Kindergeldberechtigten sind aber bei der
Ermessensausübung zu berücksichtigen (Senatsurteil in
BFHE 212, 481, BStBl II 2008, 753 = SIS 06 30 01). Entstehen dem
Kindergeldberechtigten Unterhaltsaufwendungen mindestens in
Höhe des Kindergeldes, ist nach der Rechtsprechung des Senats
allein die Auszahlung des vollen Kindergeldes an den
Kindergeldberechtigten ermessensgerecht (Senatsurteil in BFHE 224,
290, BStBl II 2009, 928 = SIS 09 15 26).
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Eine Abzweigung des vollen Kindergeldes an den
- die Unterhaltskosten tragenden - Jugendhilfeträger kann
nicht darauf gestützt werden, dass er nach § 94 Abs. 3
Satz 2 SGB VIII, § 74 Abs. 2 EStG einen Erstattungsanspruch in
Höhe des Kindergeldes hat. Denn in einem finanzgerichtlichen
Verfahren über die Rechtmäßigkeit einer Abzweigung
kann nicht eingewendet werden, die Auszahlung sei aufgrund eines
Erstattungsanspruchs gerechtfertigt (Senatsbeschluss vom 13.8.2007
III B 51/07, BFH/NV 2007, 2276 = SIS 08 00 99).
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Gewährt wie im Streitfall ein
Jugendhilfeträger aufgrund von Jugendhilfemaßnahmen nach
§§ 41, 34, 39 SGB VIII dem Kind Unterkunft und Unterhalt
außerhalb des Elternhauses, kann der Kindergeldberechtigte
gegen die Abzweigung des Kindergeldes nicht einwenden, er habe dem
Kind ein Zimmer im Elternhaus und Unterhalt innerhalb der Familie
angeboten. Denn er ist Kraft Gesetzes verpflichtet, einen
Kostenbeitrag zu den vom Jugendhilfeträger übernommenen
Kosten zu leisten (§ 94 Abs. 3 SGB VIII).
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c) Die Familienkasse hat ihre
Abzweigungsentscheidung allein darauf gestützt, dass die
Klägerin keinen Barunterhalt für Unterkunft und
Verpflegung geleistet habe. Sie hat nicht geprüft, ob die
Klägerin andere Zahlungen, wie z.B. das behauptete Schulgeld,
erbracht hat, die bei der (Ermessens-)Entscheidung über die
Abzweigung des Kindergeldes zu berücksichtigen sind. Das FG
hat - aus seiner Sicht zu Recht - bisher nicht ermittelt, ob und in
welcher Höhe die Klägerin derartige Zahlungen erbracht
hat und welche Auswirkungen dies auf die Ermessensentscheidung
hat.
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