Volljähriges behindertes Kind, Kindergeld, Abzweigung an Sozialhilfeträger: Die Voraussetzungen des § 74 Abs. 1 Satz 4 i.V.m. Satz 1 und 3 EStG für eine Abzweigung des Kindergeldes an den Sozialleistungsträger sind dem Grunde nach auch dann erfüllt, wenn der Kindergeldberechtigte nicht zum Unterhalt seines volljährigen, behinderten Kindes verpflichtet ist, weil es Grundsicherungsleistungen nach § 41 ff. SGB XII erhält. - Urt.; BFH 17.12.2008, III R 6/07; SIS 09 15 27
I. Der Beigeladene hat zwei 1971 und 1979
geborene, behinderte Kinder, die in seinem Haushalt leben und
für die er Kindergeld erhielt. Ab 1.1.2005 bezogen der
Beigeladene und seine Ehefrau Arbeitslosengeld II - ALG II -
(§§ 19 ff. des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch - SGB II -
), auf welches das Kindergeld als Einkommen angerechnet wurde. Sie
bekamen insgesamt 510,16 EUR monatlich.
Die Kinder erhielten vom Sozialamt der
Stadt B (Klägerin und Revisionsbeklagte - Klägerin - )
Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung
nach § 41 Abs. 1 Nr. 2 des Zwölften Buches
Sozialgesetzbuch (SGB XII), auf die das Kindergeld ebenfalls
angerechnet wurde.
Auf den Widerspruch des Beigeladenen, der
für seine Kinder als gesetzlicher Betreuer bestellt ist,
gewährte die Klägerin durch Bescheid vom 9.3.2005
rückwirkend ab 1.1.2005 Leistungen der Grundsicherung für
die Kinder ohne Anrechnung des Kindergeldes.
Gleichzeitig (Schreiben vom 9.3.2005)
stellte die Klägerin bei der Beklagten und
Revisionsklägerin (Familienkasse) einen Antrag auf Abzweigung
des Kindergeldes, den die Familienkasse mit Bescheid vom 18.3.2005
unter Berufung auf eine Anweisung des Bundeszentralamtes für
Steuern (Newsletter 1/2005) ablehnte. Danach komme eine Abzweigung
nur in Betracht, wenn der Unterhaltsverpflichtete seiner
Unterhaltspflicht gegenüber dem Kind nicht nachkomme. Eine
Unterhaltspflichtverletzung sei aber nicht gegeben, solange das
Kind im Haushalt des Berechtigten lebe. Der Einspruch der
Klägerin war erfolglos.
Durch Urteil vom 10.8.2006 14 K 4461/05 Kg
(EFG 2006, 1684 = SIS 06 43 82) hob das Finanzgericht (FG) die
Einspruchsentscheidung auf und verpflichtete die Familienkasse, die
Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des FG neu zu
bescheiden. Das FG führte im Wesentlichen aus:
Zu Unrecht habe die Familienkasse
angenommen, eine Abzweigung komme nicht in Betracht, weil der
Beigeladene seiner Unterhaltsverpflichtung durch Gewährung von
Unterkunft und Betreuungsleistungen nachgekommen sei. Denn etwaige
Sach- und Betreuungsleistungen des Beigeladenen seien keine
Unterhaltsleistungen, da sie entgegen § 1612 Abs. 1 des
Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) nicht als Geldrente gezahlt
würden. Einzelne Naturalleistungen könnten nicht an die
Stelle der gesetzlich vorgesehenen monatlichen Geldleistungen
treten.
Zwar habe der Beigeladene seine
Unterhaltspflicht nicht verletzt, so dass die Voraussetzungen des
§ 74 Abs. 1 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) für
eine Abzweigung nicht gegeben seien. Es sei aber der Tatbestand des
§ 74 Abs. 1 Satz 3 EStG erfüllt. Unstreitig sei der
Beigeladene mangels Leistungsfähigkeit nicht
unterhaltspflichtig gewesen. Dass tatsächlich kein Unterhalt
gezahlt werde, sei nicht erforderlich. Zudem seien die Kosten
für die Unterkunft der Kinder von den Leistungen der
Grundsicherung für die Kinder (§ 42 Satz 1 Nr. 2 SGB XII)
erfasst, sodass dem Beigeladenen insoweit keine Aufwendungen
für die Kinder entstehen könnten. Grundsätzlich sei
somit eine Abzweigung möglich. Die Familienkasse habe daher
erneut über den Abzweigungsantrag unter Ausübung des ihm
eingeräumten Ermessens zu entscheiden. Da nach § 76 Abs.
2 Nr. 5 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) das Kindergeld in
Höhe von 10,25 EUR nicht als Einkommen eines
Sozialhilfeempfängers angerechnet werde, könne sich auch
im Streitfall die Frage stellen, ob bei Betreuung der Kinder eine
Abzweigung des Kindergeldes an die Klägerin nur teilweise
geboten sei. Außerdem werden Art und Umfang etwaiger
Unterhaltsleistungen des Beigeladenen zu ermitteln sein.
Mit ihrer Revision trägt die
Familienkasse vor, nach § 74 Abs. 1 Satz 3 EStG sei das
Kindergeld nur dann abzuzweigen, wenn kein Unterhalt geleistet
werde. Eine Abzweigung sei jedoch nicht möglich, wenn die
Eltern Unterhaltsleistungen mindestens in Höhe des
Kindergeldes erbringen würden. Der Beigeladene leiste aber
durch die Aufnahme der Kinder in seinen Haushalt Unterhalt, der
mindestens die Höhe des Kindergeldes erreiche. Sofern hieran
Zweifel bestünden, sei der Umfang der Aufwendungen noch zu
ermitteln.
Die Familienkasse beantragt, das Urteil des
FG aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise die Sache zur
anderweitigen Verhandlung und Entscheidung
zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision
zurückzuweisen.
II. Die Revision ist unbegründet und
deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der
Finanzgerichtsordnung - FGO - ).
1. Das FG hat im Ergebnis zu Recht angenommen,
dass die Voraussetzungen für eine Abzweigung dem Grunde nach
gegeben sind.
Nach § 74 Abs. 1 Satz 4 i.V.m. Sätze
1 und 3 EStG kann das für ein Kind festgesetzte Kindergeld
nach § 66 Abs. 1 EStG auch an die Person oder Stelle
ausgezahlt werden, die dem Kind Unterhalt gewährt, wenn der
Kindergeldberechtigte seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht
nachkommt, mangels Leistungsfähigkeit nicht
unterhaltspflichtig ist oder nur Unterhalt in Höhe eines
Betrages zu leisten braucht, der geringer ist als das für die
Auszahlung in Betracht kommende Kindergeld.
Eine Abzweigung setzt voraus, dass der
Kindergeldberechtigte zivilrechtlich zum Unterhalt verpflichtet
ist, aber keinen Unterhalt leisten will, keinen Unterhalt leisten
kann oder als Unterhalt nur einen geringeren Betrag als das
Kindergeld zu leisten braucht.
Nach § 1601 BGB sind Verwandte in gerader
Linie verpflichtet, einander Unterhalt zu gewähren.
Unterhaltsberechtigt ist nach § 1602 BGB aber nur, wer
außerstande ist, sich selbst zu unterhalten.
Zum unterhaltsrechtlich maßgeblichen
Einkommen zählen grundsätzlich sämtliche
Einkünfte, die geeignet sind, den gegenwärtigen
Lebensbedarf des Einkommensbeziehers sicher zu stellen. Dazu
zählen auch Grundsicherungsleistungen, soweit sie nicht
subsidiär sind. Nach § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB XII bleiben
Unterhaltsansprüche der Leistungsberechtigten gegenüber
ihren Eltern unberücksichtigt, sofern deren jährliches
Gesamteinkommen i.S. des § 16 des Vierten Buches
Sozialgesetzbuch unter 100.000 EUR liegt. Daher sind im Streitfall
die Grundsicherungsleistungen für die Kinder des Beigeladenen
nicht nachrangig und mindern den unterhaltsrechtlichen Bedarf
(Urteil des Bundesgerichtshofs - BGH - vom 20.12.2006 XII ZR 84/04,
Zeitschrift für das gesamte Familienrecht - FamRZ - 2007,
1158). Sie führen nicht zu einem gesetzlichen Übergang
der Unterhaltsansprüche der Kinder gegen ihre Eltern auf den
Leistungsträger (§ 94 Abs. 1 Satz 3 Halbsatz 2 SGB XII),
sondern lassen die Unterhaltspflicht der Eltern in diesem Umfang
erlöschen (Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom
8.2.2007 B 9b SO 5/06 R, FamRZ 2008, 51). Da die
Grundsicherungsleistungen das Existenzminimum der Kinder sichern,
braucht der Beigeladene seinen Kindern keinen Unterhalt zu
zahlen.
Gleichwohl bleibt der Beigeladene dem Grunde
nach zum Unterhalt gegenüber seinen Kindern verpflichtet, auch
wenn die Unterhaltsansprüche der Kinder nach § 43 Abs. 2
Satz 1 SGB XII aufgrund seiner Einkommensverhältnisse
unberücksichtigt bleiben. Würde er Unterhalt leisten,
wären die Leistungen auf die Grundsicherung anzurechnen
(BGH-Urteil in FamRZ 2007, 1158). Daher ist der Tatbestand des
§ 74 Abs. 1 Satz 3 EStG (keine Unterhaltspflicht mangels
Leistungsfähigkeit) erfüllt.
2. Ebenfalls im Ergebnis zutreffend ist das FG
davon ausgegangen, dass der Beigeladene durch die Aufnahme der
Kinder in den elterlichen Haushalt keine Unterhaltsleistungen
mindestens in Höhe des Kindergeldes erbracht hat, die eine
Abzweigung an die Klägerin ausschließen würden.
Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs
(BFH) sind zwar bei der Ausübung des Ermessens, ob und in
welcher Höhe das Kindergeld an den - dem Kind anstelle des
Kindergeldberechtigten Unterhalt gewährenden -
Sozialleistungsträger abzuzweigen ist, auch geringe
Unterhaltsleistungen der Eltern zu berücksichtigen. Sind die
Leistungen mindestens so hoch wie das Kindergeld, wird eine
Abzweigung nicht als ermessensgerecht angesehen (Senatsurteil vom
23.2.2006 III R 65/04, BFHE 212, 481, BStBl II 2008, 753 = SIS 06 30 01, m.w.N.).
Dem Beigeladenen sind durch die Aufnahme der
Kinder in seinen Haushalt aber keine Unterhaltsleistungen
entstanden. Den Unterhalt für die Kinder hat die Klägerin
durch die Leistungen der Grundsicherung, die auch Unterkunft und
Verpflegung umfassen, erbracht. Der Beigeladene und seine Frau
erhalten ALG II, das nur Regelleistungen sowie Unterkunft und
Heizung für ihren Bedarf umfasst. Da die Kinder
volljährig sind und selbst Leistungen der Grundsicherung
beziehen, enthält das ALG II für den Beigeladenen und
seine Ehefrau keinen Zuschlag für Kinder. Der Beigeladene und
seine Ehefrau verfügen deshalb nur über die für
ihren Unterhalt notwendigen finanziellen Mittel. Es ist daher davon
auszugehen, dass der Beigeladene, der als Betreuer für seine
Kinder eingesetzt ist, den Unterhalt der Familie aus den erhaltenen
Mitteln (ALG II und Grundsicherung) bestreitet (sog. Wirtschaften
aus einem Topf). Für die Annahme, der Beigeladene könnte
aus seinem ALG II Leistungen für die - über eigene Mittel
verfügenden - Kinder erbringen, ist nichts ersichtlich.
3. Zu Unrecht hat das FG jedoch unter Berufung
auf § 76 Abs. 2 Nr. 5 BSHG (keine Anrechnung des Kindergeldes
in Höhe von 10,25 EUR als Einkommen eines
Sozialhilfeempfängers) angenommen, bei Betreuung der Kinder
könne eine Abzweigung des Kindergeldes an die Klägerin
nur teilweise geboten sein. Denn diese Regelung des nur bis
31.12.2004 geltenden BSHG ist weder für das ALG II nach SGB II
noch für die Hilfe zum Lebensunterhalt nach SGB XII
übernommen worden. Vielmehr gilt das Kindergeld für ein
minderjähriges Kind als Einkommen des Kindes (§ 11 Abs. 1
Satz 3 SGB II, § 82 Abs. 1 Satz 2 SGB XII), und das Kindergeld
für volljährige Kinder, soweit es nicht an das Kind
abgezweigt ist, als Einkommen des Kindergeldberechtigten
(BSG-Urteil in FamRZ 2008, 51, m.w.N.). Bei der
Ermessensentscheidung, in welcher Höhe das Kindergeld an den -
dem Kind anstelle des Kindergeldberechtigten Unterhalt
gewährenden - Sozialleistungsträger abzuzweigen ist, sind
Betreuungsleistungen nur insoweit zu berücksichtigen, als dem
Kindergeldberechtigten Aufwendungen entstanden sind.
Ob im Streitfall allein eine Abzweigung des
vollen Kindergeldes in Betracht kommt, kann dahinstehen. Da nur die
Familienkasse, nicht auch die Klägerin Revision eingelegt hat,
kann der Senat nur die Revision der Familienkasse
zurückweisen, nicht aber das FG-Urteil aufheben und zugunsten
der Klägerin durcherkennen. Die Familienkasse hat somit erneut
über den Antrag der Klägerin auf Abzweigung zu
entscheiden.
Bei der Ausübung des Ermessens wird die
Familienkasse zu berücksichtigen haben, dass der Beigeladene
aufgrund seiner geringen finanziellen Mittel kaum Aufwendungen
für die Kinder erbracht haben kann. Unterhaltsleistungen des
Beigeladenen an seine Kinder hätten im Übrigen zur Folge,
dass diese Leistungen auf die Grundsicherungsleistungen für
die Kinder anzurechnen wären (BGH-Urteil in FamRZ 2007, 1158).
Für den Beigeladenen wäre die Auszahlung des Kindergeldes
auch keine finanzielle Entlastung, da es als Einkommen auf das ALG
II anzurechnen wäre (BSG-Urteil vom 6.12.2007 B 14/7b AS 54/06
R, FamRZ 2008, 886). Das Kindergeld käme damit letztlich der
das ALG II auszahlenden Arbeitsgemeinschaft (ARGE) zugute. Zweck
des § 74 Abs. 1 Satz 4 EStG ist es aber, das Kindergeld an die
Person oder Einrichtung auszuzahlen, die anstelle des
Kindergeldberechtigten die Kosten des Unterhalts trägt (vgl.
Senatsurteil in BFHE 212, 481, BStBl II 2008, 753 = SIS 06 30 01).
Wird der Kindergeldberechtigte aber trotz zusätzlichen
kindbedingten Aufwands wegen der Kürzung des ALG II durch die
Auszahlung des Kindergeldes nicht entlastet, entspräche es
sachgerechtem Ermessen, das Kindergeld in voller Höhe an die
Klägerin, die den Unterhalt für die Kinder trägt,
abzuzweigen.