Auf die Revision der Klägerin wird das
Urteil des Finanzgerichts Köln vom 14.3.2012 2 K 476/06 = SIS 12 20 71 aufgehoben.
Die Sache wird an das Finanzgericht Köln
zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des
Revisionsverfahrens übertragen.
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I. Streitig ist im Rahmen der
Überprüfung der Rechtmäßigkeit eines
Lohnsteuerhaftungsbescheids, ob Telefoninterviewer als Arbeitnehmer
nichtselbständig tätig waren.
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Die Klägerin und
Revisionsklägerin (Klägerin) betreibt ein Unternehmen im
Bereich der Markt- und Meinungsforschung. Für sie waren im
streitigen Zeitraum (Januar 1998 bis September 2002) u.a. zwischen
450 und 620 Interviewer tätig, die Befragungen per Telefon
durchführten.
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Die Klägerin stellte dazu den
Telefoninterviewern in A 60 und in B 40 Computerarbeitsplätze
in Büroräumen zur Verfügung. Dort führten die
Telefoninterviewer die Interviews. Grundlage waren vorgegebene, an
den Bildschirmen angezeigte Fragebögen, die Antworten wurden
im Computersystem erfasst. Interviews dauerten, teilweise von einem
sog. Supervisor überwacht, zwischen fünf und 25 Minuten.
Die Interviewer waren zumeist in Zeitblöcken von je vier
Stunden tätig. Vertragliche Grundlage der Tätigkeit war
jeweils eine mit den Interviewern abgeschlossene sog.
Rahmenvereinbarung; deren § 1 regelte, dass der Interviewer
als freier Mitarbeiter tätig sei, sich die Tätigkeit nach
dem Einzelauftrag richte und Honorarhöhe, Arbeitsumfang und
Ablieferungstermin umfasse. § 2 regelte, dass die
Tätigkeit eine freiberufliche Nebentätigkeit für das
Markt– und Meinungsforschungsinstitut sei, der freie
Mitarbeiter die vorgeschlagenen Interviewzeiten ablehnen könne
und auch keinen zeitlichen Bindungen unterliege. In späteren
Fassungen der Vereinbarung war auch noch ausdrücklich
geregelt, dass der Interviewer sich für die Annahme von
Aufträgen nicht bereithalten müsse, es keine
Einsatzpläne gebe und zu den Öffnungszeiten beliebig
kommen und gehen könne; Arbeitszeiten gebe es nicht, die vom
Institut angegebenen Termine seien nur für übernommene
Aufträge einzuhalten. Weiter regelte die Rahmenvereinbarung,
dass die im Einzelfall durchzuführenden Interviews ein
einheitliches Werk i.S. des § 631 des Bürgerlichen
Gesetzbuchs seien. Die Honorare waren danach für jeden
Einzelauftrag gesondert vereinbart und vom freien Mitarbeiter
monatlich in Rechnung zu stellen. Der Ablauf des Interviews
richtete sich nach festen durch ein Computerprogramm vorgegebenen
Regeln.
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Die Klägerin qualifizierte die
Telefoninterviewer als selbständig Tätige und behielt
deshalb für die ausgezahlten Honorare weder Lohnsteuer noch
Sozialversicherungsbeiträge ein.
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Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das
Finanzamt - FA - ) qualifizierte dagegen nach einer
Lohnsteuer-Außenprüfung die für die Klägerin
tätigen Telefoninterviewer als Arbeitnehmer und erließ
einen entsprechenden Haftungsbescheid über Lohnsteuer nebst
Annexsteuern. Der Einspruch dagegen blieb insoweit
erfolglos.
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Die Klage war aus den in EFG 2012, 1650 =
SIS 12 20 71 veröffentlichen Gründen nur teilweise
erfolgreich. Das Finanzgericht (FG) gelangte in Bezug auf die im
Revisionsverfahren allein noch streitige Haftungsinanspruchnahme
für die Tätigkeit der Telefoninterviewer zu der
Auffassung, dass die Telefoninterviewer Arbeitnehmer seien.
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Die Klägerin rügt die Verletzung
materiellen und formellen Rechts.
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Sie beantragt, das Urteil des FG Köln
vom 14.3.2012 2 K 476/06, den Haftungsbescheid über
Lohnsteuer, Solidaritätszuschlag und Kirchensteuer für
den Zeitraum vom 1.1.1998 bis 30.9.2002 vom 10.2.2003 in Gestalt
des Änderungsbescheids vom 14.12.2005 sowie die dazu ergangene
Einspruchsentscheidung vom 4.1.2006 aufzuheben.
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Das FA beantragt, die Revision
zurückzuweisen.
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II. Die Revision der Klägerin ist
begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung
und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen
Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der
Finanzgerichtsordnung - FGO - ). Die Gesamtwürdigung des FG
berücksichtigt nicht vollständig die maßgeblichen
Umstände, die für und gegen das Vorliegen eines
Arbeitsverhältnisses sprechen. Dies stellt einen
materiell-rechtlichen Fehler dar. Das FG wird deshalb im zweiten
Rechtsgang unter Einbeziehung aller entscheidungserheblichen
Umstände nach Maßgabe der Urteilsgründe erneut den
Sachverhalt zu würdigen haben.
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1. Nach § 42d Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. §
38 Abs. 3 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) haftet der
Arbeitgeber für die Lohnsteuer, die er für Rechnung des
Arbeitnehmers bei jeder Lohnzahlung vom Arbeitslohn einzubehalten
und abzuführen hat. Zum Arbeitslohn rechnen nach § 19
Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG u.a. Bezüge und Vorteile, die
für eine Beschäftigung im öffentlichen oder privaten
Dienst gewährt werden. Gemäß § 1 Abs. 2
Sätze 1 und 2 der Lohnsteuer-Durchführungsverordnung
(i.V.m. § 51 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a EStG), die nach
ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) den
Arbeitnehmerbegriff zutreffend auslegen, liegt ein
Dienstverhältnis vor, wenn der Angestellte (Beschäftigte)
dem Arbeitgeber seine Arbeitskraft schuldet.
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Dies ist der Fall, wenn die tätige Person
in der Betätigung ihres geschäftlichen Willens unter der
Leitung des Arbeitgebers steht oder im geschäftlichen
Organismus des Arbeitgebers dessen Weisungen zu folgen verpflichtet
ist (Senatsurteile vom 14.6.1985 VI R 150-152/82, BFHE 144, 225,
BStBl II 1985, 661 = SIS 85 20 25; vom 20.11.2008 VI R 4/06, BFHE
223, 425, BStBl II 2009, 374 = SIS 09 05 15; jeweils m.w.N.).
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Unter Beachtung dieser Bestimmung beurteilt
sich die Frage, wer Arbeitnehmer ist, nach dem Gesamtbild der
Verhältnisse. Der erkennende Senat hat in seinem Urteil in
BFHE 144, 225, BStBl II 1985, 661 = SIS 85 20 25 zahlreiche
Kriterien (Indizien) beispielhaft aufgeführt, die im Rahmen
dieser Würdigung nach dem Gesamtbild der Verhältnisse
für die Abgrenzung Bedeutung haben können und im
konkreten Einzelfall jeweils zu gewichten und gegeneinander
abzuwägen sind. Diese Indizien stehen allerdings nicht
für sich allein. Denn in die Würdigung ist insbesondere
auch einzubeziehen, wie das der Beschäftigung zugrunde
liegende Vertragsverhältnis ausgestaltet worden ist, sofern
die Vereinbarungen ernsthaft gewollt und tatsächlich
durchgeführt worden sind. Darauf hat der erkennende Senat
bereits in seinem Urteil in BFHE 144, 225, BStBl II 1985, 661 = SIS 85 20 25 ausdrücklich hingewiesen.
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2. Gemessen daran hält die
Vorentscheidung revisionsrechtlicher Überprüfung nicht
stand. Es ist zwar eine im Wesentlichen vom FG als Tatsacheninstanz
im Rahmen einer Gesamtwürdigung zu entscheidende Frage, ob
nach dem Gesamtbild der Verhältnisse eine Tätigkeit
selbständig oder nichtselbständig ausgeübt wird.
Dementsprechend ist die im Wesentlichen auf tatrichterlichem Gebiet
liegende Beurteilung revisionsrechtlich nur begrenzt
überprüfbar (Senatsurteil in BFHE 223, 425, BStBl II
2009, 374 = SIS 09 05 15, II.1.a, m.w.N.). Es stellt allerdings
einen materiell-rechtlichen Fehler dar, wenn die Tatsacheninstanz
die nach der Rechtsprechung des BFH maßgeblichen
Umstände nicht vollständig oder ihrer Bedeutung
entsprechend in ihre Überzeugungsbildung einbezieht. Eine
solche Gesamtwürdigung des FG ist rechtsfehlerhaft; sie bindet
den Senat dementsprechend auch nicht gemäß § 118
Abs. 2 FGO (Senatsurteile vom 28.3.2012 VI R 87/10, BFHE 236, 553,
BStBl II 2012, 800 = SIS 12 13 80; vom 20.5.2010 VI R 12/08, BFHE
230, 136, BStBl II 2010, 1069 = SIS 10 26 88).
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So liegt der Fall hier. Denn in der
Würdigung des FG fehlen wichtige Aspekte, die geeignet sind,
die tatrichterliche Gesamtwürdigung zu beeinflussen.
Darüber hinaus sind entscheidende Gesichtspunkte nicht ihrer
Bedeutung entsprechend in die Abwägung eingeflossen.
Angesichts dessen ist die vom FG angestellte Gesamtwürdigung
rechtsfehlerhaft. Die Vorentscheidung ist deshalb aufzuheben und
die Sache an das FG zurückzuverweisen.
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a) Vereinbaren die Vertragsparteien eine
Vergütung auf der Basis von Erfolgshonoraren, ist dies ein
wesentliches Indiz dafür, dass kein lohnsteuerrechtlich
erhebliches Beschäftigungsverhältnis vorliegt, sofern
diese Vereinbarung den tatsächlichen Verhältnissen nicht
widerspricht. Diesen Umstand hat das FG nur unzureichend
berücksichtigt. Das FG hat ein Unternehmerrisiko der
Interviewer damit verneint, dass die Klägerin faktisch
„ein begrenzt variables Stundenhonorar“ gezahlt
habe. Eine solche Würdigung verkennt indessen bereits, dass
Stundenhonorare auch im Rahmen von selbständigen und
gewerblichen Tätigkeiten durchaus üblich sind. So rechnen
etwa selbständig tätige Handwerker ihre Leistungen
regelmäßig auf Stundenbasis ab und auch selbständig
tätige Rechtsanwälte stellen Honorare auf Stundenbasis in
Rechnung (Senatsurteil in BFHE 144, 225, BStBl II 1985, 661 = SIS 85 20 25). Die Erwägung des FG, ein maßgebliches
Unternehmerrisiko sei nicht darin zu sehen, dass es die jeweiligen
Interviewer nach Maßgabe des Rahmenhonorars in der Hand
gehabt hätten, durch mehr Befragungen pro Zeiteinheit ihr
Honorar zu steigern, berücksichtigt nicht hinreichend, dass
auch andere zweifelsohne selbständig Tätige ihre
Einkünfte ebenfalls nur durch entsprechend zügigere oder
zusätzliche Arbeit steigern können, etwa wenn es
branchen- oder ortsübliche Stundenhonorarsätze gibt.
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b) Nicht nachvollziehbar ist die
Würdigung des FG, nach der das festgestellte Risiko eines
möglichen Honorarausfalls bei einem Interviewabbruch kein
Unternehmerrisiko darstelle. Denn ein möglicher Honorarausfall
entspricht der typischen wirtschaftlichen Situation eines
selbständig Tätigen, findet sich dagegen praktisch nicht
bei Arbeitnehmern. Das mithin gegebene Unternehmerrisiko
entfällt auch nicht dadurch, dass nach den Feststellungen der
Vorinstanz in rund 90 % der Fälle die Interviews zu Ende
geführt worden waren. Denn dies bedeutet zugleich, dass in 10
% der Fälle das Honorar ausgefallen war und es damit zu einem
für Arbeitnehmer untypischen Vergütungsausfall kam.
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c) Rechtsfehlerhaft hat das FG im Rahmen
seiner Würdigung des Merkmals Unternehmerrisiko auch nicht die
Rechtsprechung des erkennenden Senats berücksichtigt, dass
dann, wenn - wie im hier gegebenen Streitfall - Auftragnehmer im
Falle einer Erkrankung oder Urlaubsabwesenheit keine Aufträge
ausführen und keine Einnahmen erzielen können,
typischerweise keine Arbeitnehmertätigkeit vorliegt
(Senatsurteil in BFHE 144, 225, BStBl II 1985, 661 = SIS 85 20 25).
Entsprechendes gilt, wenn die Mitarbeiter - wie im Streitfall -
darüber hinaus sogar die Möglichkeit hatten,
Aufträge abzulehnen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die
betreffenden Mitarbeiter von dieser Möglichkeit in
großem Umfang Gebrauch gemacht haben. Entscheidend ist
vielmehr, ob sich dies aus den getroffenen Vereinbarungen ergibt
und diese so tatsächlich auch vollzogen werden.
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d) Des Weiteren lässt sich ein fehlendes
Unternehmerrisiko entgegen der Auffassung des FG nicht daraus
ableiten, dass die Interviewer nach der Rahmenvereinbarung
ausschließlich im Rahmen einer Nebentätigkeit, also in
nur geringem zeitlichen Umfang arbeiten sollten. Denn der Umfang
des wirtschaftlichen Risikos richtet sich nicht nach dem
Verhältnis der tatsächlichen zu der maximal
möglichen gesamten Wochen- oder Monatsarbeitszeit;
dementsprechend trägt auch ein ganztägig
Beschäftigter nicht allein deshalb ein Unternehmerrisiko, weil
er in Vollzeit tätig ist. Es ist im Streitfall auch nichts
dazu festgestellt, dass die Klägerin arbeitgeberähnlich
ein wirtschaftliches Risiko der Interviewer aufgefangen hätte.
Zudem spricht ein geringer zeitlicher Umfang einer Tätigkeit
nach der Rechtsprechung des Senats eher für eine
selbständige als für eine nichtselbständige
Tätigkeit, weil in den Fällen, in denen der Auftragnehmer
jeweils nur kurz mit dem Betrieb des Auftragsgebers in
Berührung kommt, die Eingliederung in den Betrieb fehlen kann
(so schon Senatsurteil in BFHE 144, 225, BStBl II 1985, 661 = SIS 85 20 25, m.w.N.).
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e) Auch die Würdigung, dass die
Nichtgewährung von Sozialleistungen, insbesondere die
Nichtgewährung von Lohnfortzahlungen im Urlaubs- und im
Krankheitsfall nicht für die Selbständigkeit der
Interviewer spreche, weil die Interviewer nur in Teilzeit im Rahmen
einer Nebentätigkeit beschäftigt gewesen seien, findet in
der bisherigen Rechtsprechung des erkennenden Senats keine
Grundlage. Vielmehr hat der erkennende Senat die Merkmale
Urlaubsanspruch, Anspruch auf sonstige Sozialleistungen und
Anspruch auf Fortzahlung der Bezüge im Krankheitsfall als
Merkmale, die für eine Arbeitnehmereigenschaft sprechen,
beurteilt (Senatsurteil in BFHE 144, 225, BStBl II 1985, 661 = SIS 85 20 25); das entspricht auch der Rechtsprechung des
Bundessozialgerichts (Urteil vom 30.10.2013 B 12 KR 17/11 R, juris,
Rz 27 der Gründe).
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3. Nachdem die Revision aus materiellen
Gründen zur Aufhebung der Vorentscheidung führt, kann
offenbleiben, ob dem FG die von der Revision gerügten
Verfahrensfehler unterlaufen sind (dazu Senatsurteil vom 11.2.2010
VI R 65/08, BFHE 228, 421, BStBl II 2010, 628 = SIS 10 08 18,
m.w.N.). Dies gilt auch im Hinblick auf das Revisionsvorbringen,
dass das FG gegen Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes verstoßen
habe, indem es der Klägerin keine Gelegenheit gegeben habe,
sich zu dem Inhalt der Schätzung zu äußern, wonach
40 % der Interviewer der Lohnsteuerklasse I und 10 % der
Lohnsteuerklasse VI unterlegen hätten, dass 40 % ihre
Zahlungen bereits versteuert hätten und 10 % als
geringfügig Beschäftigte anzusehen seien. Entsprechendes
gilt für das Vorbringen der Klägerin, dass es für
die vom FG gewählte Aufteilung keinerlei tatsächliche
Grundlagen gebe, das FG diese Aufteilung auch in keiner Weise
begründet habe und deshalb das Urteil insoweit keine
Begründung enthalte. Zur Frage der Darlegung und
Begründung einer Schätzung verweist der Senat auf sein
Urteil vom 29.5.2008 VI R 11/07 (BFHE 221, 182, BStBl II 2008, 933
= SIS 08 29 15) zu einem vergleichbaren Fall. Danach müssen
die Schätzergebnisse schlüssig, wirtschaftlich
möglich und vernünftig sein. Weiter muss die
finanzgerichtliche Entscheidung in einer für die
Revisionsinstanz nachprüfbaren Weise erkennen lassen, dass die
finanzgerichtliche Schätzung den Anforderungen an eine
möglichst wirklichkeitsnahe Schätzung entspricht.
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4. Die Übertragung der Kostenentscheidung
auf das FG folgt aus § 143 Abs. 2 FGO.
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