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I. Der im Jahr 2003 verstorbene Vater (V)
der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) wurde
von seiner Ehefrau, der Mutter (M) der Klägerin, aufgrund
eines sog. Berliner Testaments allein beerbt. Erbschaftsteuer war
für diesen Erwerb von Todes wegen nicht festzusetzen, weil die
der M zustehenden Freibeträge (§§ 16 und 17 des
Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes in der u.a. für
die Jahre 2003 und 2004 geltenden Fassung - ErbStG - ) nicht
überschritten waren. Die Klägerin ist die Alleinerbin der
im August 2004 verstorbenen M.
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Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das
Finanzamt - FA - ) setzte die Erbschaftsteuer gegen die
Klägerin durch den unter dem Vorbehalt der Nachprüfung
(§ 164 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung - AO - ) ergangenen
Bescheid vom 25.2.2005 fest, ohne den der Klägerin wegen der
Enterbung durch V gemäß § 2303 Abs. 1 des
Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) zustehenden
Pflichtteilsanspruch als Nachlassverbindlichkeit
abzuziehen.
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Mit Schreiben vom 5.4.2005 teilte die
Klägerin dem FA mit, sie mache als Tochter des V ihren
Pflichtteil geltend, da sie durch das Testament ihrer Eltern von
der Erbfolge nach V ausgeschlossen gewesen sei. Der
Pflichtteilsanspruch sei noch nicht verjährt. Sie bitte um
entsprechende Reduzierung des auf sie übergegangenen
Nachlasses der M.
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Das FA folgte diesem Begehren weder im
Änderungsbescheid vom 22.9.2005 noch in der
Einspruchsentscheidung vom 10.9.2007, in der es die Erbschaftsteuer
ausgehend von einem steuerpflichtigen Erwerb von 556.165 EUR vor
Abrundung (§ 10 Abs. 1 Satz 5 ErbStG) auf 98.850 EUR
festsetzte.
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Das Finanzgericht (FG) wies die Klage mit
der Begründung ab, der sich auf 70.536 EUR belaufende
Pflichtteilsanspruch der Klägerin sei nicht als
Nachlassverbindlichkeit abziehbar. Es sei nicht feststellbar, dass
die Klägerin den Anspruch gegenüber M i.S. von § 10
Abs. 5 Nr. 2 ErbStG geltend gemacht habe und er für M deshalb
eine wirtschaftliche Belastung dargestellt habe. Der Erklärung
der Klägerin im Schreiben vom 5.4.2005, sie mache den
Pflichtteil geltend, komme keine Bedeutung zu.
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Mit der Revision bringt die Klägerin
vor, sie habe den Pflichtteil mit dem Schreiben vom 5.4.2005
gegenüber dem FA wirksam geltend gemacht. Der
Pflichtteilsanspruch sei daher bei der Festsetzung der
Erbschaftsteuer für ihren Erwerb als Alleinerbin der M als
Nachlassverbindlichkeit abzuziehen.
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Die Klägerin beantragt, die
Vorentscheidung aufzuheben und die Erbschaftsteuer unter
Änderung des Erbschaftsteuerbescheids vom 22.9.2005 in Gestalt
der Einspruchsentscheidung vom 10.9.2007 in der Weise festzusetzen,
dass der Pflichtteilsanspruch von 70.536 EUR als weitere
Nachlassverbindlichkeit berücksichtigt wird.
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Das FA beantragt, die Revision als
unbegründet zurückzuweisen.
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II. Die Revision ist begründet. Sie
führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur
antragsgemäßen Herabsetzung der Erbschaftsteuer (§
126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO - ). Das FG
hat zu Unrecht angenommen, dass der Pflichtteilsanspruch der
Klägerin nicht als Nachlassverbindlichkeit abziehbar sei.
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1. Zu den nach § 10 Abs. 1 Satz 2 ErbStG
abzugsfähigen Nachlassverbindlichkeiten gehören
gemäß § 10 Abs. 5 Nr. 2 ErbStG u.a.
Verbindlichkeiten aus geltend gemachten Pflichtteilen (§§
2303 ff. BGB). Damit übereinstimmend gilt ein
Pflichtteilsanspruch gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG
erst dann als Erwerb von Todes wegen, wenn er geltend gemacht
wird.
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a) Dem bloßen Entstehen des Anspruchs
auf einen Pflichtteil mit dem Erbfall (§ 2317 Abs. 1 BGB)
kommt erbschaftsteuerrechtlich noch keine Bedeutung zu, und zwar
sowohl gegenüber dem Berechtigten als auch gegenüber dem
Verpflichteten. Dieses zeitliche Hinausschieben der
erbschaftsteuerrechtlichen Folgen eines Pflichtteilsanspruchs ist
im Interesse des Berechtigten geschehen und soll
ausschließen, dass bei ihm auch dann Erbschaftsteuer
anfällt, wenn er seinen Anspruch zunächst oder dauerhaft
nicht erhebt (Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 7.10.1998 II
R 52/96, BFHE 187, 50, BStBl II 1999, 23 = SIS 99 01 05; vom
19.7.2006 II R 1/05, BFHE 213, 122, BStBl II 2006, 718 = SIS 06 35 32, und vom 31.3.2010 II R 22/09, BFHE 229, 374, BStBl II 2010, 806
= SIS 10 18 83, Rz 11).
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b) Die „Geltendmachung“ des
Pflichtteilsanspruchs besteht in dem ernstlichen Verlangen auf
Erfüllung des Anspruchs gegenüber dem Erben. Der
Berechtigte muss seinen Entschluss, die Erfüllung des
Anspruchs zu verlangen, in geeigneter Weise bekunden (BFH-Urteil in
BFHE 213, 122, BStBl II 2006, 718 = SIS 06 35 32). Ist dies
geschehen, entsteht die Erbschaftsteuer für den Erwerb des
Pflichtteilsanspruchs (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG) nach § 9
Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b ErbStG mit dem Zeitpunkt der Geltendmachung.
Hinsichtlich des Abzugs des Pflichtteils als
Nachlassverbindlichkeit wirkt dessen Geltendmachung hingegen auf
den Zeitpunkt der Entstehung der Steuer gegenüber dem Erben,
also auf den Zeitpunkt des Todes des Erblassers (§ 9 Abs. 1
Nr. 1 ErbStG) zurück, stellt also ein rückwirkendes
Ereignis i.S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO dar.
Nachlassverbindlichkeiten können nicht isoliert, sondern nur
im Rahmen der Festsetzung der Erbschaftsteuer berücksichtigt
werden.
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c) Verstirbt der Pflichtteilsverpflichtete
seinerseits, bevor der Pflichtteilsanspruch durch Erfüllung
(§ 362 Abs. 1 BGB) oder aus anderen Gründen, etwa
aufgrund eines Erlassvertrags (§ 397 Abs. 1 BGB), erloschen
ist, geht die Verbindlichkeit gemäß §§ 1922,
1967 Abs. 1 BGB zivilrechtlich auf dessen Erben über, ohne
dass es auf die vorherige Geltendmachung des Anspruchs ankommt. Die
Verpflichtung zur Zahlung des Pflichtteils stellt dabei abweichend
vom Zivilrecht erbschaftsteuerrechtlich nur dann eine vom
Pflichtteilsverpflichteten als Erblasser herrührende Schuld
und somit eine gemäß § 10 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Abs.
5 Nr. 1 ErbStG abziehbare Nachlassverbindlichkeit dar, wenn der
Pflichtteilsberechtigte den Pflichtteilsanspruch zu Lebzeiten des
Verpflichteten geltend gemacht hatte oder ihn nunmehr geltend
macht. So kann etwa der Berechtigte, der den Verpflichteten nicht
beerbt, den Pflichtteil gegenüber dessen Erben geltend
machen.
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Geschieht dies vor der Verjährung des
Anspruchs (§§ 195, 202 Abs. 2 BGB, früher §
2332 Abs. 1 BGB, vgl. dazu Art. 229 § 23 des
Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch), so gilt
der Pflichtteilsanspruch gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1
ErbStG als Erwerb des Pflichtteilsberechtigten von Todes wegen. Der
Erbe des Verpflichteten kann dann die Verbindlichkeit aus dem
geltend gemachten Pflichtteilsanspruch gemäß § 10
Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Abs. 5 Nr. 1 ErbStG als
Nachlassverbindlichkeit abziehen.
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Dies gilt auch dann, wenn der
ursprüngliche Verpflichtete nicht damit rechnen musste, den
Pflichtteilsanspruch zu Lebzeiten erfüllen zu müssen, und
deshalb durch diesen nicht wirtschaftlich belastet war; denn die
Geltendmachung des Pflichtteils wirkt, wie bereits dargelegt,
hinsichtlich dessen Abzugs als Nachlassverbindlichkeit auf den
Eintritt des ursprünglichen Erbfalls (hier: Tod des V)
zurück. Der BFH hat bereits mit Urteil vom 2.3.2011 II R 5/09
(BFH/NV 2011, 1147 = SIS 11 19 17, Rz 87) auf die
eingeschränkte Bedeutung des Kriteriums der wirtschaftlichen
Belastung des Erblassers für den Abzug von
Nachlassverbindlichkeiten hingewiesen.
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Welche Folgen sich ergeben, wenn der
Berechtigte den Pflichtteil erst nach dessen Verjährung
gegenüber dem Erben des ursprünglichen Verpflichteten
geltend macht und dieser den Anspruch trotz der Verjährung
erfüllt, kann in der vorliegenden Streitsache dahingestellt
bleiben.
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d) Ist der Pflichtteilsberechtigte der
Alleinerbe des Verpflichteten, so erlöschen sowohl der
Pflichtteilsanspruch als auch die entsprechende Verbindlichkeit des
ursprünglichen Erben durch die Vereinigung von Forderung und
Schuld in einer Person (Konfusion, vgl. dazu z.B. Urteil des
Bundesgerichtshofs vom 23.4.2009 IX ZR 19/08, Neue Juristische
Wochenschrift-Rechtsprechungs-Report Zivilrecht 2009, 1059, Rz 19
f.; BFH-Urteil vom 7.3.2006 VII R 12/05, BFHE 212, 388, BStBl II
2006, 584 = SIS 06 25 19). Zivilrechtlich kann die Erfüllung
des Anspruchs dann im Regelfall nicht mehr verlangt werden. Nur in
bestimmten Ausnahmefällen gelten die infolge des Erbfalls
durch Vereinigung von Recht und Verbindlichkeit erloschenen
Rechtsverhältnisse zivilrechtlich als nicht erloschen, so bei
Nachlassverwaltung und Nachlassinsolvenzverfahren (§ 1976 BGB)
sowie bei der Erhebung der Dürftigkeitseinrede (§ 1991
Abs. 2 BGB).
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Das Erbschaftsteuerrecht folgt hinsichtlich
der Konfusion nicht der zivilrechtlichen Beurteilung. Vielmehr
gelten die infolge des Erbanfalls durch Vereinigung von Recht und
Verbindlichkeit oder von Recht und Belastung erloschenen
Rechtsverhältnisse gemäß § 10 Abs. 3 ErbStG
als nicht erloschen. Diese Fiktion umfasst auch das Recht des
Pflichtteilsberechtigten, der der Alleinerbe des
Pflichtteilsverpflichteten ist, die Geltendmachung des Pflichtteils
fiktiv nachzuholen. Gibt der Pflichtteilsberechtigte dem
zuständigen Finanzamt gegenüber vor der Verjährung
des Pflichtteilsanspruchs eine entsprechende Erklärung ab, hat
es diese zu berücksichtigen und sowohl hinsichtlich der
Besteuerung des Erwerbs des Pflichtteils gemäß § 3
Abs. 1 Nr. 1 ErbStG als auch hinsichtlich des Abzugs der
Pflichtteilsschuld als Nachlassverbindlichkeit die sich hieraus
unter Berücksichtigung der jeweils maßgebenden
Freibeträge ergebenden steuerrechtlichen Folgerungen zu ziehen
(ebenso Gebel in Troll/Gebel/Jülicher, ErbStG, § 3 Rz
232, § 10 Rz 98, 183; Schuck in Viskorf/Knobel/Schuck,
Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz, Bewertungsgesetz, 4.
Aufl., § 10 ErbStG Rz 85; Pahlke in Christoffel/Geckle/Pahlke,
ErbStG, 1. Aufl. 1998, § 10 Rz 61; Muscheler, Zeitschrift
für Erbrecht und Vermögensnachfolge - ZEV - 2001, 377,
381 f.; Moench, DStR 1987, 139, 144; Markus Hardt, ZEV 2004, 408;
a.A. FG München, Beschluss vom 27.7.1990 10 V 3806/89, EFG
1991, 199; Geck in Kapp/Ebeling, § 10 ErbStG Rz 78; Tetens in
Rödl/Preißer u.a., Erbschaft- und Schenkungsteuer, 2009,
§ 10 Kap. 6.3.3; Högl in Gürsching/Stenger,
Bewertungsrecht, § 10 ErbStG Rz 57).
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Wie zu entscheiden ist, wenn der
Pflichtteilsanspruch bereits beim Tod des Verpflichteten oder bei
der fiktiven Nachholung der Geltendmachung des Pflichtteils durch
Erklärung gegenüber dem Finanzamt verjährt war, kann
im vorliegenden Fall auf sich beruhen (vgl. dazu einerseits
BFH-Beschluss vom 15.5.2009 II B 155/08, BFH/NV 2009, 1441 = SIS 09 26 69; FG München, Urteile vom 7.10.1992 4 K 5239/89, UVR
1993, 55, und vom 24.7.2002 4 K 1286/00, EFG 2002, 1625 = SIS 02 99 21; FG München, Beschluss vom 30.11.2006 4 V 4323/06, EFG
2007, 369 = SIS 07 05 40; Weinmann in Moench/Weinmann, § 10
ErbStG Rz 67; andererseits Gebel, a.a.O., § 3 Rz 232, §
10 Rz 98, 183; Muscheler, ZEV 2001, 377, 383 f.).
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2. Der der Klägerin wegen der Enterbung
durch V zustehende Pflichtteilsanspruch ist danach unabhängig
davon, ob ihn die Klägerin bereits gegenüber M geltend
gemacht hatte und ob M damit rechnen musste, den Anspruch zu
Lebzeiten erfüllen zu müssen, als Nachlassverbindlichkeit
bei der Festsetzung der Erbschaftsteuer für den Erwerb der
Klägerin als Erbin der M abzuziehen. Die Klägerin hat vor
der Verjährung des Pflichtteilsanspruchs gegenüber dem FA
erklärt, sie mache ihn geltend, und damit die Geltendmachung
mit für das Steuerrecht verbindlicher Wirkung fiktiv
nachgeholt.
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Daraus ergibt sich folgende
Steuerberechnung:
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Steuerpflichtiger Erwerb vor Abrundung bisher
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556.165
EUR
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./.
Pflichtteil
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70.536
EUR
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steuerpflichtiger Erwerb vor Abrundung
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485.629
EUR
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steuerpflichtiger Erwerb nach Abrundung
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485.600
EUR
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Steuersatz gemäß § 19 Abs. 1 ErbStG: 15 %
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festzusetzende Erbschaftsteuer
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72.840
EUR
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