ESt-Vorauszahlungen, Änderung fehlerhafter bestandskräftiger Anrechnung: § 130 Abs. 2 Nr. 4 AO enthält ermessenslenkende Vorgaben (intendiertes Ermessen). Deshalb ist eine Anrechnungsverfügung im Allgemeinen im Interesse von Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung zurückzunehmen, wenn der Begünstigte deren Rechtswidrigkeit erkannt oder lediglich infolge grober Fahrlässigkeit nicht erkannt hat. Diese Regelfolge des § 130 Abs. 2 Nr. 4 AO ist grundsätzlich nicht begründungsbedürftig. - Urt.; BFH 26.6.2007, VII R 35/06; SIS 07 28 33
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte
(Kläger) wendet sich gegen einen Abrechnungsbescheid des
Beklagten und Revisionsklägers (Finanzamt - FA - ), in dem
entgegen den Anrechnungsverfügungen der bestandskräftigen
Einkommensteuerbescheide 1990, 1991 und 1992 die Vorauszahlungen
nur zur Hälfte angerechnet worden sind.
Die Vorauszahlungen waren in den
Streitjahren gegen den Kläger und seine damalige Ehefrau
festgesetzt. Durch Verrechnungsscheck bzw. Inkasso des
Vollziehungsbeamten sind hierauf Leistungen erbracht worden. Der
Kläger, der bis 1985 zusammen mit seiner Ehefrau zur
Einkommensteuer veranlagt worden war, hat für die Streitjahre
1990 und 1991 die getrennte Veranlagung, für das Streitjahr
1992 eine Einzelveranlagung beantragt und in seiner beim FA im Juli
1997 eingegangenen Einkommensteuererklärung für 1991
mitgeteilt, dass er von seiner Ehefrau getrennt lebe. Das FA hat
den Kläger entsprechend veranlagt und die vorgenannten
Vorauszahlungen in der Anrechnungsverfügung auf seine
Einkommensteuerschuld bzw. den Solidaritätszuschlag in voller
Höhe angerechnet. Nachdem die frühere Ehefrau des
Klägers dagegen Einwendungen erhoben hatte, wurde die
Angelegenheit mit dem Kläger an Amtsstelle besprochen, welcher
dabei unter anderem die Auffassung vertrat, die Voraussetzungen des
§ 130 der Abgabenordnung (AO) für eine nachträglich
abweichende Anrechnung lägen nicht vor. Ungeachtet dessen hat
das FA eine hälftige Aufteilung der Vorauszahlungen 1990 bis
1992 vorgenommen und den Kläger hierüber durch
Verfügung vom 15.11.2001 unterrichtet. Als der Kläger die
von ihm entsprechend zu leistenden Steuerzahlungen nicht erbrachte,
hat es einen Abrechnungsbescheid für die Jahre 1989 bis 1992
erlassen, in dem es die Vorauszahlungen nur zur Hälfte auf die
Einkommensteuerschuld des Klägers angerechnet hat. Der
hiergegen erhobene Einspruch hatte wegen der Vorauszahlungen 1990
bis 1992 keinen Erfolg. Das FA vertrat in der
Einspruchsentscheidung die Auffassung, mangels Anhaltspunkten
für eine andere Tilgungsabsicht seien die Zahlungen als
für Rechnung beider Eheleute vorgenommen anzusehen. Eine
Bindung an die Anrechnungsverfügungen bestehe nicht, weil
§ 218 Abs. 2 AO eine gegenüber §§ 130, 131 AO
vorgreifliche Sonderregelung darstelle.
Das Finanzgericht (FG) gab der hiergegen
erhobenen Klage aus den in EFG 2007, 394 = SIS 07 02 62
veröffent-lichten Gründen statt und hob den
Abrechnungsbescheid vom 11.3.2002 in der Fassung der
Einspruchsentscheidung vom 19.7.2002 auf. Es führt im
Wesentlichen aus, dass das FA die Anrechnungsverfügung nur
unter den Voraussetzungen des § 130 Abs. 2 AO habe
zurücknehmen dürfen, die allerdings vorgelegen
hätten. Denn der Kläger habe Kenntnis davon gehabt, dass
die Anrechnung der Vorauszahlungen rechtswidrig gewesen sei. Das FA
habe aber die erforderliche Ermessensausübung
versäumt.
Mit seiner Revision gegen dieses Urteil
rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts. In einem
Abrechnungsbescheid könne ohne Bindung an frühere
Anrechnungsverfügungen über die Verwirklichung von
Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis entschieden
werden.
Der Kläger hält die Entscheidung
des FG für zutreffend und beruft sich auf die Rechtsprechung
des VII. Senats des Bundesfinanzhofs (BFH), die die Anwendung des
§ 130 Abs. 2 AO im Verfahren über den Abrechnungsbescheid
nicht ausschließe.
II. Die Revision des FA ist zulässig und
begründet. Das Urteil des FG, das Bundesrecht verletzt (§
118 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO - ), ist aufzuheben. Die
Klage ist als unbegründet abzuweisen (§ 126 Abs. 3 Satz 1
Nr. 1 FGO). Der Abrechnungsbescheid (§ 218 Abs. 2 AO) ist
rechtmäßig (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Der
Kläger ist hinsichtlich der geleisteten Vorauszahlungen auf
die Einkommensteuer nur zur Hälfte anrechnungsberechtigt.
Das FA durfte die vorgenommene Anrechnung der
geleisteten Vorauszahlungen zur Hälfte zurücknehmen. Das
FG hat zutreffend geurteilt, dass die Voraussetzungen für eine
Teilrücknahme der Anrechnungsverfügungen nach § 130
Abs. 2 Nr. 4 AO vorliegen. Danach darf ein rechtswidriger
Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen
Vorteil begründet, zurückgenommen werden, wenn seine
Rechtswidrigkeit dem Begünstigten bekannt oder infolge grober
Fahrlässigkeit nicht bekannt war.
1. Die Anrechnung der Vorauszahlungen
gemäß § 36 Abs. 2 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes
(EStG) auf die Einkommensteuerschuld des Klägers für die
Veranlagungszeiträume 1990 bis 1992 war nur zur Hälfte
berechtigt.
Nach § 36 Abs. 2 Nr. 1 EStG ist
anrechnungsberechtigt derjenige, auf dessen Rechnung die Zahlung
bewirkt worden ist, nicht derjenige, auf dessen Kosten die Zahlung
erfolgt ist. Es kommt also nicht darauf an, von wem und mit wessen
Mitteln gezahlt worden ist (Senatsurteile vom 15.11.2005 VII R
16/05, BFHE 211, 396, BStBl II 2006, 453 = SIS 06 08 89; vom
25.7.1989 VII R 118/87, BFHE 157, 326, BStBl II 1990, 41, 43 = SIS 89 23 56), sondern nur darauf, wessen Steuerschuld nach dem Willen
des Zah-lenden, wie er im Zeitpunkt der Zahlung dem FA erkennbar
ist, getilgt werden sollte.
Die Ansicht des FG, dass der Wille des
Klägers von dem FA als Zahlungsempfänger nur so ausgelegt
werden konnte, dass der Kläger auch auf die
Einkommensteuerschuld seiner damaligen Ehefrau eine Vorauszahlung
hat leisten wollen, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
Denn das FA als Zahlungsempfänger kann, solange eine Ehe
besteht und die Eheleute nicht dauernd voneinander getrennt leben,
was nach § 26 EStG die Voraussetzung für die
Zusammenveranlagung ist, davon ausgehen, dass derjenige Ehegatte,
der die Zahlung auf die gemeinsame Steuerschuld bewirkt, in
Ermangelung entgegenstehender Absichtsbekundungen, mit seiner
Zahlung auch die Tilgung der Steuerschuld des anderen Ehegatten
bewirken will (Senatsurteil in BFHE 211, 396, BStBl II 2006, 453 =
SIS 06 08 89).
Ob die Eheleute sich später trennen oder
einer der Ehegatten nachträglich die getrennte Veranlagung
beantragt, ist für die Beurteilung der Tilgungsabsicht nicht
maßgeblich, denn es kommt nur darauf an, wie sich die
Umstände dem FA zum Zeitpunkt der Vorauszahlung
darstellten.
Es handelt sich demnach im Streitfall um einen
rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakt.
2. Eine rechtswidrige
Anrechnungsverfügung kann aufgrund ihrer Bindungswirkung
für einen späteren Abrechnungsbescheid nur unter den
Voraussetzungen des § 130 Abs. 2 AO zurückgenommen
werden. Über das Verhältnis der Anrechnung von Steuern im
Zusammenhang mit der Festsetzung der Jahressteuerschuld und deren
Rücknahme (Änderbarkeit) - auch durch einen nachfolgenden
Abrechnungsbescheid - hat der erkennende Senat im Urteil vom
16.10.1986 VII R 159/83 (BFHE 148, 4, BStBl II 1987, 405 = SIS 87 07 51) und dem Urteil vom 15.4.1997 VII R 100/96 (BFHE 182, 506,
BStBl II 1997, 787 = SIS 97 19 74) wie folgt entschieden:
a) Der erkennende Senat hat in der
Entscheidung in BFHE 182, 506, BStBl II 1997, 787 = SIS 97 19 74
dargelegt, dass die Anrechnungsverfügung einen Verwaltungsakt
mit Bindungswirkung darstellt, der als begünstigender
Verwaltungsakt aufgrund des durch ihn begründeten Vertrauens
durch einen nachfolgenden Abrechnungsbescheid (§ 218 Abs. 2
AO) nur unter den Voraussetzungen des § 130 Abs. 2 AO
geändert werden kann. Die Anrechnungsverfügung wirkt zwar
nicht rechtsbegründend (konstitutiv), da sie keine Rechte und
Pflichten zur Entstehung bringt, die der Steuerpflichtige nicht
auch ohne sie hätte. Es handelt sich aber um einen
deklaratorischen (bestätigenden) Verwaltungsakt, dessen
Außenwirkung (§ 118 AO) sich je nach dem Ergebnis der
Anrechnung in einem Leistungsgebot oder in einer
Erstattungsverfügung äußert. Aus der rechtlichen
Einordnung der Anrechnungsverfügung als deklaratorischer
Verwaltungsakt folgt, dass diese, wenn sie einen Fehler zugunsten
des Steuerpflichtigen enthält und es sich somit um einen
begünstigenden Verwaltungsakt handelt, nur zurückgenommen
bzw. geändert werden kann, wenn eine der Voraussetzungen des
§ 130 Abs. 2 AO gegeben ist. Denn die Definition des
begünstigenden Verwaltungsaktes im Sinne dieser Vorschrift
umfasst auch Verwaltungsakte, die ein Recht oder einen rechtlichen
Vorteil nur bestätigen, nicht aber begründen.
b) Auch in seinem Beschluss vom 13.1.2005 VII
B 147/04 (BFHE 208, 404, BStBl II 2005, 457 = SIS 05 17 29) ist der
erkennende Senat nicht etwa - wie das FA ausführt - von seiner
ständigen Rechtsprechung zur Bindungswirkung einer
Anrechnungsverfügung gegenüber einem später
erlassenen Abrechnungsbescheid abgewichen. In dem Beschluss hat der
Senat im Gegenteil seine ständige Rechtsprechung
ausdrücklich bestätigt, dass die in einem
Einkommensteuerbescheid vorgenommene Anrechnung von Steuern wie der
Lohnsteuer, der Kapitalertragsteuer und der Körperschaftsteuer
eine bestandskräftige Regelung darstellt und eine
Bindungswirkung für den späteren Abrechnungsbescheid
entfaltet. Lediglich einschränkend hat der Senat
ausgeführt, dass nicht alles, was das FA in den
Abrechnungsteil eines Einkommensteuerbescheides aufnimmt, eine
bestandskräftige Regelung darstellt, für die die
Bindungswirkung des § 130 Abs. 2 AO gilt. Der Senat
differenziert die auf dem Gesetz beruhende Anrechnung von
Steuerzahlungen auf die Einkommensteuer gemäß § 36
Abs. 2 EStG, die bei Bestandskraft Bindungswirkung auch für
einen späteren Abrechnungsbescheid entfaltet, von den
sonstigen Entscheidungen des FA - inwiefern Ansprüche aus dem
Steuerschuldverhältnis durch bestimmte Zahlungen bereits
getilgt sind und Erstattungsansprüche aus solchen Buchungen
resultieren -, die eben gerade keine Bindungswirkung für einen
späteren Abrechnungsbescheid begründen.
c) Zu Unrecht meint das FA, die Frage der
Zuordnungsentscheidung, bei wem also die Vorauszahlungen
anzurechnen seien, betreffe nicht die auf dem Gesetz beruhende
Anrechnung von Vorauszahlungen auf die Einkommensteuer. Von dieser
Entscheidung solle demnach keine Bindungswirkung ausgehen.
Diese Rechtsauffassung der Revision steht mit
der Rechtsprechung des Senats in seiner Entscheidung in BFHE 208,
404, BStBl II 2005, 457 = SIS 05 17 29 nicht in Einklang. Ob die
Vorauszahlung auf die Einkommensteuer dem Ehemann oder der Ehefrau
gutgeschrieben wird, stellt eine Vorfrage zu der Entscheidung
über die Anrechnung der Vorauszahlungen auf die
Einkommensteuer gemäß § 36 Abs. 2 EStG dar. Ohne
Beantwortung dieser Frage wäre eine Entscheidung über die
Anrechnung nicht zu treffen.
Geht nun von der auf dem Gesetz beruhenden
Anrechnung von Vorauszahlungen auf die Einkommensteuer
gemäß § 36 Abs. 2 EStG bei Bestandskraft eine
Bindungswirkung aus, so muss diese sich auch auf die Vorfrage
erstrecken, ohne die über die Anrechnung selbst nicht
entschieden werden kann.
d) Mit dieser Rechtsprechung weicht der Senat
nicht in entscheidungserheblicher Weise von den Urteilen des I.
Senats ab (vgl. BFH-Urteile vom 28.4.1993 I R 100/92, BFHE 171,
397, BStBl II 1993, 836 = SIS 93 20 44; vom 28.4.1993 I R 123/91,
BFHE 170, 573, BStBl II 1994, 147 = SIS 93 17 28), so dass eine
Anrufung des Großen Senats des BFH nach § 11 Abs. 2 FGO
nicht geboten ist (vgl. BFH-Urteil in BFHE 182, 506, BStBl II 1997,
787 = SIS 97 19 74; ebenso: Völlmeke, Probleme bei der
Anrechnung von Lohnsteuer, DB 1994, 1746, 1751).
3. Die Voraussetzungen für eine
Rücknahme der Anrechnungsverfügung nach § 130 Abs. 2
Nr. 4 AO liegen im Streitfall vor. Der Kläger hatte, wie das
FG festgestellt hat, Kenntnis von der Rechtswidrigkeit der
Anrechnungsverfügungen. Denn ihm war der Inhalt des an seine
damalige Ehefrau gerichteten Schreibens seiner Rechtsanwälte
bekannt, in dem die Vertreter die nur hälftige Anrechnung der
geleisteten Vorauszahlungen auf die Einkommensteuerschuld des
Klägers als gerechtfertigt erachteten.
4. Zu Unrecht hat das FG angenommen, die
Teilrücknahme der Anrechnungsverfügungen sei aufgrund
Ermessensunterschreitung rechtswidrig. Denn die Teilrücknahme
der Anrechnungsverfügungen war die einzig
rechtmäßige Entscheidung, die das FA hat treffen
können, so dass sein Ermessen auf Null reduziert war.
§ 130 Abs. 1 und 2 AO enthält keine
Grundsätze für die Ausübung des Ermessens. Die
Behörde muss sich deshalb bei ihrer Ermessensausübung
gemäß der in § 5 AO für alle
Ermessensvorschriften getroffenen Regelung an dem Zweck der
Ermächtigung orientieren. Da der Gesetzgeber die
Zurücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte nicht für
obligatorisch erklärt hat, kann der Zweck der
Ermessensermächtigung nur darin gesehen werden, zwischen der
materiellen Gerechtigkeit einerseits und dem insbesondere bei
Bestandskraft eingetretenen Rechtsfrieden andererseits als dem
äußeren Rahmen für die Ausübung des durch
§ 130 Abs. 1 AO eingeräumten Ermessens eine Abwägung
zu treffen, wobei letzterer nach Bestandskraft besonderes Gewicht
erhalten muss.
Soweit das FG aus dem Fehlen von
Ermessenserwägungen in dem Abrechnungsbescheid folgert, dieser
sei wegen Ermessensnichtgebrauchs rechtswidrig, verkennt es die
Besonderheiten, die sich im vorliegenden Fall aus der Anwendbarkeit
der Grundsätze über das gelenkte bzw. intendierte
Ermessen ergeben. Ist danach eine ermessenseinräumende
Vorschrift dahin auszulegen, dass sie für den Regelfall von
einer Ermessensausübung in einem bestimmten Sinne ausgeht, so
müssen besondere Gründe vorliegen, um eine gegenteilige
Entscheidung zu rechtfertigen. Liegt ein vom Regelfall abweichender
Sachverhalt nicht vor, versteht sich das Ergebnis der Abwägung
von selbst; dann bedarf es insoweit auch keiner das
Selbstverständliche darstellenden Begründung (Urteil des
Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - vom 5.7.1985 8 C 22.83,
BVerwGE 72, 1).
Als ermessenslenkende Norm wird die Vorschrift
des § 48 Abs. 2 Satz 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes
(VwVfG) angesehen, die ihrem Inhalt nach § 130 Abs. 2 Nr. 4 AO
entspricht, wonach Verwaltungsakte bei Vorliegen bestimmter, in der
Person des von ihnen Begünstigten liegender Umstände
„in der Regel mit Wirkung für die
Vergangenheit“ (§ 48 Abs. 2 Satz 4 VwVfG)
zurückzunehmen sind (BVerwG-Urteil vom 23.5.1996 3 C 13.94,
Entscheidungssammlung zum Landwirtschaftsrecht - ESLR - 4, ÖR
45). Nur dann, wenn der Behörde außergewöhnliche
Umstände des Falls bekannt geworden oder erkennbar sind, die
eine andere Entscheidung möglich erscheinen lassen, liegt ein
rechtsfehlerhafter Gebrauch des Ermessens vor, wenn diese
Umstände von der Behörde nicht erwogen worden sind
(BVerwG-Urteil in ESLR 04, ÖR 45).
Ermessenslenkende Vorgaben im dargelegten
Sinne sind ebenso § 130 Abs. 2 Nr. 4 AO zu entnehmen. Besteht
kein Grund, das Vertrauen des Begünstigten zu schützen,
so wird im Allgemeinen nur in Betracht kommen, einen rechtswidrigen
Verwaltungsakt im Interesse von Gesetzmäßigkeit und
Gleichmäßigkeit der Besteuerung zurückzunehmen. Im
Allgemeinen überwiegen das Interesse des Fiskus an der
Erhaltung der Steuereinnahmen und das Gebot der
Gesetzmäßigkeit der Besteuerung das Interesse des
Begünstigten, einen ihm zu Unrecht gewährten Vorteil
behalten zu dürfen, dessen Rechtswidrigkeit er kannte oder
grob fahrlässig nicht erkannt hat.
Da in diesem Falle die Rücknahme der
rechtswidrigen Anrechnungsverfügung die nicht
begründungsbedürftige Regelfolge des § 130 Abs. 2
Nr. 4 AO ist, ist eine abwägende Stellungnahme der
Behörde zur Rücknahme des Verwaltungsaktes
grundsätzlich nicht erforderlich. So verhält es sich auch
im Streitfall.
5. Die Frist für die Rücknahme hat
das FA eingehalten. Erhält die Behörde nach § 130
Abs. 3 Satz 1 AO von Tatsachen Kenntnis, welche die Rücknahme
eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes
rechtfertigen, so ist die Rücknahme nur innerhalb eines Jahres
seit dem Zeitpunkt der Kenntnisnahme zulässig. Nicht die
Erkenntnis der Tatsachen, die die Rücknahme rechtfertigen,
setzt die Frist in Lauf, sondern erst die Erkenntnis der
Rechtswidrigkeit. Andernfalls wäre bei Verwaltungsakten, die
die Finanzbehörde aus bloßer Rechtsunkenntnis
erlässt, die Rücknahmefrist in den meisten Fällen
bereits abgelaufen, wenn die Behörde die Rechtswidrigkeit
ihres Verwaltungsaktes erkennt. Hat die Behörde beim Erlass
eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes den ihr vollständig
bekannten Sachverhalt unrichtig gewürdigt oder den Inhalt des
anzuwendenden Rechts verkannt, so beginnt die Ausschlussfrist
für die Rücknahme des Verwaltungsaktes also erst, wenn
der zur Entscheidung berufene Sachbearbeiter der zuständigen
Behörde die Rücknehmbarkeit des rechtswidrigen
Verwaltungsaktes erkannt hat (BFH-Urteil vom 28.9.1993 VII R
107/92, BFH/NV 1994, 751).
Im Streitfall ist davon auszugehen, dass der
zur Entscheidung berufene Sachbearbeiter des FA am 15.11.2001 die
Rechtswidrigkeit der ursprünglichen
Anrechnungsverfügungen erkannt hat; er hat gegenüber dem
Kläger an diesem Tag verfügt, dass er nunmehr nur noch
eine hälftige Anrechnung der auf die Einkommensteuerschuld
geleisteten Vorauszahlungen als gerechtfertigt erachte. Am
11.3.2002 hat das FA dann gegenüber dem Kläger die
hälftige Rücknahme der ursprünglichen
Anrechnungsverfügungen durch einen formellen
Abrechnungsbescheid gemäß § 218 Abs. 2 AO
erklärt, mit dem die geleisteten
Einkommensteuervorauszahlungen beim Kläger nur noch zur
Hälfte angerechnet worden sind. Die Jahresfrist des § 130
Abs. 3 Satz 1 AO, die mit der Kenntnis der Rechtswidrigkeit der
ursprünglichen Anrechnungsverfügungen am 15.11.2001
begonnen hat, war demnach am 11.3.2002 noch nicht abgelaufen.