Die Revision des Klägers gegen das Urteil
des Finanzgerichts Düsseldorf vom 19.05.2021 - 4 K 2381/20 AO
= SIS 21 11 29 wird als unzulässig verworfen, soweit der
Erlass über 29.218 EUR hinaus begehrt wird.
Im Übrigen wird die Revision als
unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der
Kläger zu tragen.
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Der Kläger beantragte am 02.12.2019
„den Erlass der gesamten Nachzahlungs- sowie
Erstattungszinsen der Jahre 2012 bis 2017 von zusammen 33.752,00
EUR aus sachlichen Billigkeitsgründen“.
Zur Begründung führte er an, bis in das Jahr 2019 sei
nicht klar gewesen, wer an der Erbengemeinschaft beteiligt sei und
wem welche Einkünfte zuzurechnen seien. Ihn treffe an der
Verzögerung keine Schuld.
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Das FA lehnte einen Erlass mit Bescheid vom
07.01.2020 ab. Die festgesetzten Zinsen seien eine Gegenleistung
für eine mögliche Kapitalnutzung, zumal der Zinsvorteil
des Steuerschuldners zugleich einen Zinsnachteil des
Steuergläubigers nach sich ziehe. Verschuldensfragen seien auf
beiden Seiten irrelevant.
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Den hiergegen eingelegten Einspruch
begründete der Kläger damit, dass die in den Jahren 2012
und 2013 entstandenen Gewinne aus Beteiligungen, die ihrerseits
noch auf Erklärungen des E zurückzuführen seien,
über Jahre keinem Erben hätten zugeordnet werden
können. Während dieses Zeitraums sei ihm kein Vorteil aus
dem Nachlass entstanden. Die Testamentsvollstreckung sei einem
Rechtsanwalt übertragen gewesen. Nachdem er im Herbst 2019 von
einem anderen Erben über voraussichtlich hohe Steuerschulden
informiert worden sei, habe er umgehend seinen Steuerberater
eingeschaltet und aufgrund dessen Berechnungen wenige Tage vor
Ergehen der geänderten Einkommensteuerbescheide circa 170.000
EUR an das FA überwiesen. Ein früherer Ausgleich der
Steuern sei ihm nicht möglich gewesen.
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Die nach erfolglosem Einspruchsverfahren
erhobene Klage, dem Wortlaut nach gerichtet auf Verpflichtung zum
Erlass der Nachzahlungszinsen zur Einkommensteuer für die
Jahre 2012 bis 2017 in Höhe von insgesamt 33.752 EUR, wies das
Finanzgericht (FG) ab (EFG 2021, 1349 = SIS 21 11 29) und
führte zur Begründung im Wesentlichen aus:
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Die Ablehnung des auf sachliche
Unbilligkeit gestützten Erlassantrags durch das FA
gemäß § 227 AO sei nicht ermessensfehlerhaft
erfolgt. Denn die Verzinsung entspreche vorliegend den Wertungen
des Gesetzes.
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Die Verzinsungsregelung in § 233a AO
bezwecke einen typisierenden Ausgleich für die
Liquiditätsverschiebungen, die sich daraus ergäben, dass
die Steuern bei den einzelnen Steuerpflichtigen zu
unterschiedlichen Zeitpunkten festgesetzt und fällig
würden. Die Gründe hierfür und etwaige
Verschuldensfragen seien nach der gesetzlichen Konzeption
irrelevant. Dies gelte auch für
(Änderungs-)Festsetzungen, die auf einem Grundlagenbescheid
beruhten und möglicherweise erst viele Jahre nach Ende des
Veranlagungszeitraums erfolgten. Anders als etwa bei
Änderungen aufgrund rückwirkender Ereignisse (§ 175
Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. § 233a Abs. 2a AO) habe der
Gesetzgeber einen abweichenden Zinslauf für eine Änderung
aufgrund eines Grundlagenbescheids gerade nicht vorgesehen. Das
Gesetz nehme es somit bewusst in Kauf, dass in diesen Fällen
über einen langen Zeitraum Erstattungs- oder
Nachzahlungszinsen nach § 233a AO entstehen könnten. Eine
Billigkeitskorrektur widerspräche daher dem gesetzgeberischen
Konzept.
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Soweit der Bundesfinanzhof (BFH) in einer
Entscheidung zusätzlich darauf abgestellt habe, dass es dem
Steuerpflichtigen möglich gewesen sei, die festzustellenden
Besteuerungsgrundlagen bei der Einkommensteuererklärung
bereits vorab im Schätzungswege nach § 155 Abs. 2 i.V.m.
§ 162 Abs. 5 AO anzugeben und so die Zinsentstehung zu
verhindern beziehungsweise zu reduzieren (Urteil vom 03.12.2019 -
VIII R 25/17, BFHE 266, 501, BStBl II 2020, 214 = SIS 20 02 20, Rz
23; offengelassen im Senatsurteil vom 01.06.2016 - X R 66/14,
BFH/NV 2016, 1668 = SIS 16 23 26, Rz 35), führe dies zu keiner
anderen Beurteilung. Zwar mache der Kläger glaubhaft geltend,
ihm sei erst kurz vor Ergehen der geänderten Steuerbescheide
eine sachgerechte Schätzung möglich gewesen, die zur
Vorabzahlung von 170.000 EUR geführt habe. Gleichwohl
begründe dieser Umstand aus sich heraus keine sachliche
Unbilligkeit. Der BFH habe die genannte Erwägung insbesondere
herangezogen, um zu unterstreichen, warum der Gesetzgeber die
Fälle der rückwirkenden Ereignisse - in denen eine
vorherige Schätzung per se unmöglich sei - hinsichtlich
des Zinslaufs durch die Sonderregelung des § 233a Abs. 2a AO
anders behandele als die Fälle des Ergehens von
Grundlagenbescheiden.
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Maßgeblich für diese
Differenzierung sei nicht, dass in Fällen von
Grundlagenbescheiden stets eine zutreffende Schätzung der
Besteuerungsgrundlagen im Vorhinein möglich wäre.
Vielmehr sei die Sonderregelung des § 233a Abs. 2a AO
eingeführt worden, um den Bedenken des VIII. Senats des BFH
Rechnung zu tragen, der zuvor Zweifel an der uneingeschränkten
Anwendung des § 233a AO bei rückwirkenden Ereignissen
geäußert habe (BTDrucks 13/5952, S. 56, unter Verweis
auf BFH-Beschluss vom 27.09.1994 - VIII B 21/94, BFHE 175, 516 =
SIS 95 03 73, unter 3.). Der Beschluss des VIII. Senats habe sich
wiederum auf die Überlegung gestützt, dass in Fällen
rückwirkender Ereignisse eine frühere Steuerfestsetzung
stets ausgeschlossen sei, so dass von einem Liquiditätsvorteil
des Steuerschuldners beziehungsweise Liquiditätsnachteil des
Steuergläubigers nicht die Rede sein könne (BFH-Beschluss
vom 27.09.1994 - VIII B 21/94, BFHE 175, 516 = SIS 95 03 73, unter
3.b aa und bb). Gleiches solle für die ebenfalls von §
233a Abs. 2a AO erfassten Fälle des Verlustrücktrags
gelten (BTDrucks 13/5952, S. 56).
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Ungeachtet dessen, dass der VIII. Senat des
BFH an der im Beschluss vom 27.09.1994 - VIII B 21/94 (BFHE 175,
516 = SIS 95 03 73) geäußerten Rechtsauffassung
später nicht mehr festgehalten habe (vgl. Urteil vom
27.01.1998 - VIII R 47/96, BFHE 185, 563, BStBl II 1998, 498 = SIS 98 16 78, unter II., unter Bezugnahme auf die abweichende
Entscheidung des I. Senats im Urteil vom 02.07.1997 - I R 25/96,
BFHE 183, 33, BStBl II 1997, 714 = SIS 97 24 31, unter II.2.),
lasse sich diese Überlegung jedenfalls auf Fälle, in
denen ein Verhältnis von Grundlagen- und Folgebescheid
bestehe, nicht übertragen. Denn dort sei eine frühere
Festsetzung nicht per se ausgeschlossen; sie hänge vielmehr
vom Zeitpunkt des Ergehens des Grundlagenbescheids ab. Ergehe der
Grundlagenbescheid zu einem späteren Zeitpunkt, trete im
Vergleich zu einem früheren Ergehen des Grundlagenbescheids
ein Liquiditätsvorteil oder -nachteil ein. Die
gesetzgeberische Entscheidung, aus diesem Grund
ausschließlich für Fälle eines rückwirkenden
Ereignisses beziehungsweise eines Verlustrücktrags eine
Sonderregelung zu schaffen, würde konterkariert, wenn man bei
anderen Fallgestaltungen eine Gleichbehandlung mit den Fällen
des § 233a Abs. 2a AO herstellen würde, indem man -
entgegen der Grundausrichtung des § 233a AO - im
Billigkeitswege die Ursache der verspäteten Steuerfestsetzung
berücksichtigte.
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12
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Auch der Umstand, dass der Kläger nach
seinem Vortrag erst 2018 und damit circa sechs Jahre nach dem
Erbfall als Erbe festgestanden und bis zu diesem Zeitpunkt keine
Zugriffsmöglichkeit auf Nachlassgegenstände gehabt habe,
begründe keine sachliche Unbilligkeit. Soweit sich der
Kläger darauf berufe, er habe während der Jahre 2012 bis
2018 keine Nutzungen aus dem Kapital ziehen können, verkenne
er den Bezugspunkt des § 233a AO: Die Vorschrift betreffe den
Zins- beziehungsweise Liquiditätsvorteil aus den
Geldbeträgen, die für die Steuerzahlung hätten
verwendet werden müssen. Diese Steuerzahlung habe der
Kläger nicht schon nach Ablauf der Karenzzeit des § 233a
Abs. 2 Satz 1 AO in den Jahren 2013 beziehungsweise 2014, sondern
erst 2019 zu leisten gehabt, so dass bei typisierender Betrachtung
ein Zinsvorteil durchaus entstanden sei. Dabei komme es auch nicht
darauf an, ob die fraglichen Steuerbeträge aus (Bar-)Mitteln
der Erbschaft hätten beglichen werden können oder nicht.
Soweit nämlich bei einer früheren Steuerfestsetzung die
Steuerzahlung hätte fremdfinanziert werden müssen, so
wäre hierin - ohne dass es bei der typisierenden Regelung des
§ 233a AO darauf ankäme - erst recht der durch die
spätere Festsetzung entstehende Zinsvorteil erkennbar
geworden.
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Mit der hiergegen eingelegten Revision
wendet sich der Kläger gegen die vom FG vorgenommene Auslegung
des § 233a AO.
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Das FG habe die in der
höchstrichterlichen Rechtsprechung aufgestellten
Rechtsgrundsätze zwar erkannt und teilweise auch in den Text
des angefochtenen Urteils aufgenommen, den zugrunde liegenden
Sachverhalt aber unzutreffend gewürdigt. Denn es habe zu
Unrecht keine sachliche Unbilligkeit darin gesehen, dass er
vorliegend nicht in der Lage gewesen sei, die
Besteuerungsgrundlagen früher - vor Beginn des Zinslaufs - zu
ermitteln beziehungsweise zu schätzen und durch frühere
Entrichtung der (noch unbekannten) Steuern die Zinsentstehung zu
verhindern oder jedenfalls zu reduzieren.
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Der Gesetzgeber habe für Fälle
eines rückwirkenden Ereignisses in § 233a Abs. 2a AO eine
besondere Zinsregelung geschaffen, da hier - worauf das FG selbst
zu Recht abstelle - eine vorherige Schätzung per se
unmöglich sei. Eine solche tatsächliche
Unmöglichkeit liege allerdings im Streitfall ebenfalls vor.
Dem Kläger sei es nicht möglich gewesen, zu einem
früheren Zeitpunkt die Besteuerungsgrundlagen zu ermitteln und
eine entsprechende Vorauszahlung auf die zu erwartenden
Steuernachzahlungen zu leisten, zumal er bis zur Erlangung des
Erbscheins (28.08.2018) nicht sicher gewesen sei, dass er
überhaupt in die Erbenstellung eintreten und ihn die
Verpflichtung zur Entrichtung der Steuern treffen werde.
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Des Weiteren sei die Verzinsung der durch
ihn nachzuzahlenden Beträge auch deshalb sachlich unbillig, da
sie keinen Liquiditäts- beziehungsweise Zinsvorteil
ausgleichen könne. Denn ein solcher Vorteil sei bei ihm -
entgegen der Darstellung des FG - nicht entstanden. Die
Ausführungen des FG im angefochtenen Urteil, die einen
fiktiven Sachverhalt unterstellten, blieben ihm
unverständlich.
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Ebenso wie in den Fällen des
rückwirkenden Ereignisses nach § 233a Abs. 2a AO habe er
bis zur Ausstellung des Erbscheins noch nicht einmal die
„reine Möglichkeit“ der
Kapitalnutzung gehabt. Stehe aber zweifelsfrei fest, dass kein
Vorteil oder Nachteil entstanden sei, könne ein solcher nicht
ausgeglichen werden, mit der Folge, dass nach Maßgabe des
BFH-Urteils vom 11.07.1996 - V R 18/95 (BFHE 180, 524, BStBl II
1997, 259 = SIS 96 22 76) die Zinsen zu erlassen seien. Da §
233a Abs. 2a AO seinem Wortlaut nach hier nicht unmittelbar
eingreife, sei der Zielrichtung dieser Vorschrift im Rahmen des
Erlassverfahrens Rechnung zu tragen.
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18
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Darüber hinaus rechtfertige sich der
Erlass aufgrund eines groben Verschuldens des FA; dieser
Gesichtspunkt sei jedenfalls bei der Überprüfung der
Ermessensentscheidung des FA durch das FG nicht berücksichtigt
worden.
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Auch wenn die Verschuldensfrage für
die Anwendbarkeit des § 233a AO grundsätzlich
unbeachtlich sei, habe dies das FG München mit Urteil vom
23.07.2002 - 2 K 4280/00 (EFG 2002, 1491 = SIS 03 03 32) im Fall
einseitigen, groben Verschuldens der Finanzbehörde anders
gesehen. Vorliegend habe das FA durch seine Inaktivität dazu
beigetragen, dass der Steueranspruch dem Grunde und der Höhe
nach über lange Zeit nicht konkretisiert worden sei, obwohl
die Finanzbehörde eine entsprechende Ermittlungspflicht von
Amts wegen gehabt habe. Die ermittelten Besteuerungsgrundlagen des
E hätten vom FA in einem Schätzungsbescheid
berücksichtigt werden können, der über die
„Rechtsfigur der unbekannten Erben“ nach
§ 1960 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) dem
Nachlasspfleger gegenüber hätte bekannt gegeben werden
können (dazu BFH-Urteil vom 17.06.2020 - II R 40/17, BFHE 269,
442, BStBl II 2020, 850 = SIS 20 15 18). Hierdurch hätte das
FA den auf der Ebene des Klägers entstandenen Zinsnachteil
beschränken können.
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20
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Schließlich beruhe das angegriffene
Urteil auf einem Verfahrensfehler im Sinne von § 115 Abs. 2
Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Das FG habe versäumt,
den tatsächlichen Sachverhalt adäquat aufzuklären.
Denn soweit das FG darauf abstelle, dass dem Kläger ein
typisierter Zinsvorteil zugutegekommen sei, hätte es insoweit
einer Feststellung bedurft, dass es tatsächlich eine
Nutzungsmöglichkeit auf seiner Ebene gegeben habe. Derartige
Ermittlungen, hinsichtlich des Umfangs des Nachlasses sowie
hinsichtlich der Möglichkeit der Nutzung des Kapitals, habe
das FG nicht angestellt.
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21
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Der Kläger hatte im Rahmen seiner
Revisionsbegründung vom 20.08.2021 zunächst beantragt,
dem Antrag auf Erlass der Nachzahlungszinsen der
Veranlagungszeiträume 2012 bis 2017 stattzugeben. Am
25.03.2024 hat das FA im Hinblick auf den Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 08.07.2021 - 1 BvR 2237/14,
1 BvR 2422/17 (BVerfGE 158, 282 = SIS 21 14 23) und die
nachfolgende Einfügung des § 238 Abs. 1a AO
geänderte Bescheide für 2012 und 2013 über die
Festsetzung von Zinsen zur Einkommensteuer erlassen, in denen die
Nachzahlungszinsen auf 18.657 EUR (2012) beziehungsweise 13.101 EUR
(2013) herabgesetzt worden sind. Auf entsprechende Anfrage des
Senats hat der Kläger ausdrücklich erklärt, er halte
an den in der Beschwerdebegründung vom 20.08.2021 gestellten
Anträgen weiterhin fest.
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Der Kläger beantragt demnach
sinngemäß,
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das Urteil des FG Düsseldorf vom
19.05.2021 - 4 K 2381/20 AO aufzuheben und das FA unter Aufhebung
des Ablehnungsbescheids vom 07.01.2020 in Gestalt der
Einspruchsentscheidung vom 25.08.2020 zu verpflichten, die
Nachzahlungszinsen für die Jahre 2012 und 2013 insoweit zu
erlassen, als sie die Erstattungszinsen für die Jahre 2014 bis
2017 übersteigen, insgesamt also im Umfang von 33.752
EUR.
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23
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Das FA beantragt,
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die Revision zurückzuweisen.
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24
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Es hält die angefochtene Entscheidung
für rechtsfehlerfrei.
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Der Liquiditätsvorteil, den §
233a AO abschöpfen wolle, beziehe sich auf die zur Entrichtung
der Steuer notwendigen Beträge, nicht auf den Anfall der
Erbschaft. Das vom Kläger erstmals im Revisionsverfahren
behauptete (einseitige) grobe Verschulden des FA liege nicht vor.
Ungeachtet der Frage, ob die Bekanntgabe der
Einkommensteuerbescheide an den Nachlasspfleger als Vertreter der
noch unbekannten Erben überhaupt rechtlich zulässig
gewesen wäre oder nicht außerhalb des Aufgabenkreises
eines Nachlasspflegers liege, sei dies vorliegend jedenfalls
tatsächlich nicht möglich gewesen. Denn das
Nachlassgericht habe keinen Nachlasspfleger bestellt. Hierfür
habe angesichts der angeordneten Testamentsvollstreckung auch das
nach § 1960 Abs. 1 Satz 1 BGB erforderliche Bedürfnis
nicht bestanden. Der Umstand, dass das FA weder auf die Bestellung
eines Nachlasspflegers hingewirkt noch Einkommensteuerbescheide
gegenüber dem (nicht vorhandenen) Nachlasspfleger für die
unbekannten Erben bekannt gegeben habe, begründe daher kein
(grobes) Verschulden.
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B. Die Revision ist unbegründet und nach
§ 126 Abs. 2 FGO zurückzuweisen.
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I. Die Revision ist unzulässig, soweit
der Kläger sein ursprüngliches Klage- und
Revisionsbegehren trotz objektiv eingetretener Erledigung
aufrechterhalten hat.
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1. Hat sich ein Rechtsstreit im
Revisionsverfahren in der Hauptsache erledigt, wird die Revision
dadurch unzulässig. Ein Rechtsstreit ist in der Hauptsache
erledigt, wenn ein Ereignis, das nach Rechtshängigkeit
eingetreten ist, alle streitbefangenen Sachfragen gegenstandslos
gemacht hat (vgl. Senatsbeschluss vom 23.05.2016 - X R 54/13,
BFH/NV 2016, 1457 = SIS 16 18 95, Rz 18 f.). Das kann der Erlass
eines Abhilfebescheids sein, ist aber nicht darauf beschränkt
(vgl. BFH-Beschluss vom 10.07.2024 - III R 18/24, BFH/NV 2024, 1178
= SIS 24 13 33, Rz 11; ähnlich BFH-Beschluss vom 24.06.1986 -
III R 293/84, BFH/NV 1986, 760). Ein Verfahren kann auch teilweise
erledigt sein, wenn der Streitgegenstand, wie hier, teilbar
ist.
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2. Der Kläger hatte im Rahmen seiner
Revisionsbegründung einen Antrag gestellt, den er zwar nicht
ausdrücklich beziffert hatte, der aber bezifferbar und so zu
verstehen war, dass er den Saldo aller für die Jahre 2012 bis
2017 festgesetzten Zinsen zu erlassen beantragt. Der Erlass von
Erstattungszinsen (Erlass eines eigenen Anspruchs des Klägers
gegen das FA) kommt mangels Beschwer nicht in Betracht. Da der
Antrag gleichwohl die Jahre 2014 bis 2017 umfasst, legt ihn der
Senat dahingehend aus, dass der Kläger ausschließlich
den Erlass der Nachzahlungszinsen für die Jahre 2012 und 2013
und auch dies nur insoweit begehrte, als Letztere die
Erstattungszinsen für die Jahre 2014 bis 2017
übersteigen. Dieser Saldo lässt sich anhand der
vorliegenden Bescheide ohne Weiteres berechnen. Er beträgt
33.752 EUR und entspricht damit auch dem im FG-Verfahren gestellten
Antrag.
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3. Die Revision ist unzulässig geworden,
soweit der Kläger trotz Minderung der festgesetzten
Nachzahlungszinsen einen Erlass über einen Betrag von 29.218
EUR hinaus begehrt. Unter dem 25.03.2024 sind geänderte
Zinsbescheide für 2012 und 2013 ergangen, mit denen das FA die
Nachzahlungszinsen jeweils in geringerer Höhe als
ursprünglich festgesetzt hat. Damit ist während des
Revisionsverfahrens die Grundlage für das Erlassbegehren der
Sache nach teilweise entfallen. Der Kläger hat daraufhin indes
- trotz eines entsprechenden Hinweises des Senats - weder den
Rechtsstreit (teilweise) in der Hauptsache für erledigt
erklärt noch sein Klagebegehren entsprechend reduziert.
Vielmehr hat er ausdrücklich weiterhin an den in der
Revisionsbegründungsschrift gestellten Anträgen und damit an dem bislang
begehrten Erlass der Nachzahlungszinsen im Umfang von insgesamt
33.752 EUR festgehalten.
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31
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Das bedeutet, dass die Revision nunmehr in dem
Maße - mangels Beschwer - unzulässig (geworden) ist, als
durch die geänderten Zinsbescheide vom 25.03.2024 die
festgesetzten Nachzahlungszinsen für 2012 auf 18.657 EUR und
für 2013 auf 13.101 EUR, mithin auf insgesamt 31.758 EUR,
gemindert wurden. Nach rechnerischem Abzug der Erstattungszinsen
für 2014 bis 2017 in Höhe von 2.540 EUR umfasst das
Erlassbegehren zulässigerweise nur noch einen Betrag in
Höhe von 29.218 EUR. Im übersteigenden Maße von
4.534 EUR (33.752 EUR ./. 29.218 EUR) ist die Revision daher
unzulässig geworden.
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32
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II. Die Revision ist im Übrigen
unbegründet. Das FG hat zutreffend entschieden, dass der
Kläger keinen Anspruch auf Erlass der in Rede stehenden
Nachzahlungszinsen hat und die Ablehnung des Erlassantrags durch
das FA nicht ermessensfehlerhaft war. Die Erhebung der streitigen
Nachzahlungszinsen ist nicht unbillig im Sinne des § 227
AO.
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1. Die Finanzbehörden können nach
§ 227 AO Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis
ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des
einzelnen Falles unbillig wäre.
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34
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a) Zu den Ansprüchen aus dem
Steuerschuldverhältnis gehören nach § 37 Abs. 1 AO
auch Ansprüche auf steuerliche Nebenleistungen, zu denen
wiederum nach § 3 Abs. 4 AO auch Zinsen (§§ 233 bis
237 AO) zählen. Dem Erlass von Nachforderungszinsen nach
§ 233a AO steht nicht entgegen, dass § 233a AO im
Gegensatz zu § 234 Abs. 2 AO für Stundungszinsen und
§ 237 Abs. 4 AO für Aussetzungszinsen keine
ausdrückliche Ermächtigung zu Billigkeitsmaßnahmen
enthält (vgl. BFH-Urteil vom 03.07.2014 - III R 53/12, BFHE
246, 203, BStBl II 2017, 3 = SIS 14 27 68, Rz 11, m.w.N.).
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35
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b) Die Entscheidung über den Erlass ist
eine Ermessensentscheidung der Behörde und unterliegt deshalb
gemäß § 102 FGO lediglich einer
eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle. Zu prüfen ist
daher bei einer Erlassablehnung nur, ob die Finanzbehörde bei
ihrer Entscheidung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens
überschritten oder von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der
Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat.
Im Einzelfall kann der Ermessensspielraum aber so eingeengt sein,
dass nur eine Entscheidung ermessensgerecht ist (sogenannte
Ermessensreduzierung auf null). Ist nur der Erlass eines Anspruchs
aus dem Steuerschuldverhältnis ermessensgerecht, kann das
Gericht gemäß § 101 Satz 1 FGO die Verpflichtung
zum Erlass aussprechen (vgl. Senatsurteil vom 08.10.2013 - X R
3/10, BFH/NV 2014, 5 = SIS 13 32 77, Rz 10 f.).
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36
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c) Eine Unbilligkeit aus sachlichen
Gründen ist nach ständiger BFH-Rechtsprechung dann
anzunehmen, wenn ein Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis
zwar nach dem gesetzlichen Tatbestand besteht, seine Geltendmachung
aber mit dem Zweck des Gesetzes nicht (mehr) zu rechtfertigen ist
und dessen Wertungen zuwiderläuft. Das setzt voraus, dass der
Gesetzgeber eine andere Regelung getroffen hätte, wenn er die
zu beurteilende Frage als regelungsbedürftig erkannt
hätte. Umstände, die der Gesetzgeber bei der
Ausgestaltung des gesetzlichen Tatbestands bewusst in Kauf genommen
hat, können keinen Billigkeitserlass rechtfertigen. Die
Billigkeitsprüfung darf die generelle Geltungsanordnung des
den Steueranspruch begründenden Gesetzes nicht unterlaufen,
sich andererseits auch nicht in Überlegungen zur richtigen
Rechtsanwendung erschöpfen, da dann ein auf sachliche
Billigkeitsgründe gestützter Erlass nach § 227 AO
niemals möglich wäre. Diese Grundsätze gelten auch
für den Erlass nach § 233a AO festgesetzter Zinsen (vgl.
Senatsurteil vom 01.06.2016 - X R 66/14, BFH/NV 2016, 1668 = SIS 16 23 26, Rz 15, m.w.N.).
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37
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d) Zweck der Regelungen in § 233a AO ist
es, einen Ausgleich dafür zu schaffen, dass die Steuern bei
den einzelnen Steuerpflichtigen zwar jeweils spätestens zum
Jahresende entstehen, aber zu unterschiedlichen Zeitpunkten
festgesetzt und fällig werden. Insoweit beruht die Vorschrift
auf der zulässig typisierenden Annahme, dass derjenige, dessen
Steuer ganz oder zum Teil zu einem späteren Zeitpunkt
festgesetzt wird, gegenüber demjenigen, dessen Steuer bereits
frühzeitig festgesetzt wird, einen Liquiditäts- und damit
auch einen potentiellen Zinsvorteil hat. Dieser Vorteil ist umso
größer, je höher der nachzuzahlende Betrag ist und
je später die Steuer festgesetzt wird. Durch die
Sollverzinsung sollen der Liquiditätsvorteil des
Steuerpflichtigen und seine damit verbundene erhöhte
steuerliche Leistungsfähigkeit abgeschöpft werden. Ob die
möglichen Zinsvorteile tatsächlich bestanden, ist
grundsätzlich unbeachtlich. Daher greift die Regelung im
Allgemeinen unabhängig davon, warum es zu einem
Unterschiedsbetrag gekommen ist und ob und inwiefern
tatsächlich die Liquiditätsvorteile genutzt wurden (vgl.
Nichtannahmebeschluss des BVerfG vom 03.09.2009 - 1 BvR 2539/07,
BFH/NV 2009, 2115 = SIS 09 34 42, unter III.1.a bb (2) (b) und
III.1.a cc; Senatsurteil vom 08.10.2013 - X R 3/10, BFH/NV 2014, 5
= SIS 13 32 77, Rz 14, m.w.N.).
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38
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2. Nach Maßgabe dessen hat das FG zu
Recht eine fehlerhafte Ermessensausübung verneint. Die
Entscheidung des FA, die Verzinsung sei nach den gesetzlichen
Wertungen auch im vorliegenden Fall nicht unbillig, da der
Kläger durch die späte Festsetzung der Einkommensteuer
die Möglichkeit der Kapitalnutzung und daher einen
Liquiditätsvorteil gehabt habe, lässt Ermessensfehler
nicht erkennen.
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39
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a) Das FG hat diesbezüglich darauf
hingewiesen, dass im Streitfall bei typisierender Betrachtung ein
im Rahmen des § 233a AO relevanter Liquiditäts-
beziehungsweise Zinsvorteil entstanden sei. Insoweit gehe es
sinngemäß nicht um eine - vom Kläger mangels
Zugriffsmöglichkeit verneinte - mögliche Kapitalnutzung
der Nachlassgegenstände, sondern darum, dass der Kläger
im Vergleich zu Steuerpflichtigen, deren Steuerfestsetzung für
den jeweiligen Veranlagungszeitraum zeitnah erfolgt sei, die zur
Begleichung der Steuern erforderlichen Mittel nicht schon
früher, sondern erst im Jahr 2019 habe aufwenden müssen,
so dass sie ihm zur anderweitigen Nutzung zur Verfügung
gestanden hätten. Im Falle einer erforderlich werdenden
Fremdfinanzierung der Steuermittel liege der
Liquiditätsvorteil in der Vermeidung eines frühzeitigen
Anfalls von Schuldzinsen.
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40
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b) Diese Wertung ist rechtlich nicht zu
beanstanden.
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41
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aa) Dabei ist zunächst festzustellen,
dass die finanzgerichtliche Würdigung verfahrensfehlerfrei
zustande gekommen ist. Denn auf der Grundlage des - insoweit
maßgeblichen - Rechtsstandpunktes des FG (Senatsurteil vom
22.02.2023 - X R 8/21, BFHE 280, 104, BStBl II 2023, 811 = SIS 23 10 44, Rz 60) war eine weitere Sachaufklärung dahingehend, ob
beziehungsweise inwieweit tatsächlich für den Kläger
eine Nutzungsmöglichkeit des Nachlasses bestand,
entbehrlich.
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42
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bb) In der Sache entspricht es der
höchstrichterlichen Rechtsprechung, dass die faktische
Freistellung von der Zahlung der materiell-rechtlich zutreffenden
Steuer grundsätzlich die Festsetzung von Nachzahlungszinsen
gemäß § 233a AO rechtfertigt, ohne dass es auf den
Grund dieser Freistellung ankäme (vgl. Senatsurteil vom
01.06.2016 - X R 66/14, BFH/NV 2016, 1668 = SIS 16 23 26, Rz 26,
m.w.N.).
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43
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cc) Nichts anderes gilt, wenn Einkünfte
Gegenstand einer gesonderten Feststellung sind. Ergeht ein
Feststellungsbescheid, ist der Einkommensteuerbescheid nach §
175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO anzupassen. Die Folgeänderung des
Einkommensteuerbescheids löst die Zinspflicht nach § 233a
AO aus, selbst wenn der Feststellungsbescheid nicht früher
hätte ergehen können. Dies begründet ebenfalls keine
sachliche Unbilligkeit im Sinne des § 227 AO, sondern
entspricht den Wertungen des Gesetzes.
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(1) Der Zinslauf ist auch dann nach
Maßgabe von § 233a Abs. 2 AO zu berechnen, wenn der
Unterschiedsbetrag auf der Anpassung eines Einkommensteuerbescheids
an einen Grundlagenbescheid beruht. Nicht maßgebend ist, wann
der Grundlagenbescheid ergeht. Der Beginn des Zinslaufs ist nach
§ 233a Abs. 2a AO nur hinausgeschoben, wenn die Änderung
einer Steuerfestsetzung auf einem rückwirkenden Ereignis oder
einem Verlustabzug beruht. Der Erlass eines Grundlagenbescheids ist
aber kein rückwirkendes Ereignis, was etwa aus der
ausdrücklichen Nichtnennung des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
AO in § 233a Abs. 2a AO deutlich wird. Auch ein
Grundlagenbescheid, der erst viele Jahre nach Ende des
Veranlagungszeitraums erlassen oder geändert wird, kann daher
zu einer Zinspflicht unter Anwendung der Karenzzeit des § 233a
Abs. 2 AO führen (vgl. Senatsurteil vom 01.06.2016 - X R
66/14, BFH/NV 2016, 1668 = SIS 16 23 26, Rz 29 f.).
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(2) Eine Billigkeitskorrektur dieses
Ergebnisses ist nicht geboten, sondern widerspräche dem
gesetzgeberischen Konzept. Der Feststellungsbeteiligte ist
gegenüber dem Personenkreis des § 233a Abs. 2a AO nicht
unangemessen benachteiligt. Anders als in jenen Fällen besteht
im Allgemeinen die Möglichkeit, die in einem
Grundlagenbescheid festzustellenden Besteuerungsgrundlagen bereits
im Rahmen der Einkommensteuererklärung im Schätzungswege
nach § 162 Abs. 5 AO anzugeben und nach § 155 Abs. 2 AO
auch vor Erlass des Grundlagenbescheids der Besteuerung zugrunde zu
legen (vgl. Senatsurteil vom 01.06.2016 - X R 66/14, BFH/NV 2016,
1668 = SIS 16 23 26, Rz 31).
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dd) In dem vorstehend genannten Urteil hat der
Senat offengelassen, ob unter besonderen Umständen
Billigkeitsmaßnahmen zu Gunsten eines
Feststellungsbeteiligten angezeigt sein könnten, wenn eine
sachgerechte Schätzung nach § 162 Abs. 5 AO
Schwierigkeiten bereitet, die der Steuerpflichtige nicht zu
vertreten hat (Senatsurteil vom 01.06.2016 - X R 66/14, BFH/NV
2016, 1668 = SIS 16 23 26, Rz 35). Er beantwortet diese Rechtsfrage
ebenso wie das FG nunmehr dahin, dass allein derartige
Schwierigkeiten einen Erlass nicht rechtfertigen.
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(1) Der Gesetzgeber hat in § 233a AO
stark typisierende Regelungen betreffend den Zinslauf getroffen und
die Verzinsung bei Grundlagenbescheiden gerade nicht der besonderen
Regelung nach Abs. 2a dieser Vorschrift unterworfen. Diese
gesetzgeberische Entscheidung darf durch Billigkeitsmaßnahmen
nicht unterlaufen werden. Der unterschiedliche Beginn des Zinslaufs
in § 233a Abs. 2 AO einerseits und in § 233a Abs. 2a AO
andererseits beruht auf dem Gedanken, dass ein Verlustabzug oder
ein rückwirkendes Ereignis zu Gunsten wie zu Lasten des
Steuerpflichtigen bei der ursprünglichen Steuerfestsetzung
noch nicht berücksichtigt werden konnte und daher weder der
Steuerpflichtige noch das FA vor Eintritt des rückwirkenden
Ereignisses beziehungsweise des Verlustes einen
Liquiditätsvorteil oder -nachteil erlitten hat, den zu
kompensieren das Ziel des § 233a AO wäre. Es erscheint
daher nicht gerechtfertigt, einen Nachzahlungs- oder
Erstattungsanspruch, soweit er auf dem rückwirkenden Ereignis
oder dem Verlustrücktrag beruht, schon für den Zeitraum
vor Eintritt des rückwirkenden Ereignisses oder des Verlustes
zu verzinsen (vgl. BFH-Urteil vom 17.02.2010 - I R 52/09, BFHE 229,
1, BStBl II 2011, 340 = SIS 10 18 65, Rz 14). Der Gesetzgeber geht
mithin typisierend davon aus, dass es in den Fällen des
Verlustabzugs oder rückwirkenden Ereignisses für den
Rückwirkungszeitraum zu keinem Liquiditätsvorteil oder
-nachteil kommen kann. Vor dem entsprechenden Zeitpunkt haben die
Voraussetzungen für eine entsprechende Steuerfestsetzung noch
nicht vorgelegen.
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(2) Diese Erwägung greift im Zusammenhang
mit Grundlagenbescheiden nicht ein. Anfall und Umfang
entsprechender Vor- beziehungsweise Nachteile hängen vom
Zeitpunkt des Ergehens des Grundlagenbescheids ab. Dieser Zeitpunkt
wiederum wird von zahlreichen, teilweise unwägbaren Faktoren
beeinflusst, unter anderem davon, ob die Verfahrensbeteiligten um
die Voraussetzungen für den Erlass des Grundlagenbescheids
wissen. Zu diesen Faktoren gehört aber nicht, dass die
Voraussetzungen für den Erlass des Grundlagenbescheids in der
Sache noch nicht vorlägen, sofern nicht der Grundlagenbescheid
selbst auf einem rückwirkenden Ereignis im Sinne von §
233a Abs. 2a AO beruht. Die unterschiedslos und ohne konkrete
Prüfung des Einzelfalls angeordnete Verzinsung der im
anzupassenden Folgebescheid festgesetzten Einkommensteuer gleicht
daher lediglich im Wege der Typisierung die Zinsvorteile aus, die
durch die geschilderten Unwägbarkeiten entstehen. Dabei konnte
der Gesetzgeber - wie vom FG zutreffend hervorgehoben - davon
ausgehen, dass bei Grundlagenbescheiden eine frühere
Festsetzung nicht schon verfahrens- und materiell-rechtlich
ausgeschlossen ist. Hierin liegt der wesentliche Unterschied zu den
Fällen des § 233a Abs. 2a AO.
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ee) Die Frage der grundsätzlichen
Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Regelungen in
§ 233a AO stellt sich in diesem Zusammenhang nicht.
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Denn Billigkeitsmaßnahmen - wie die hier
in Rede stehende - dürfen nicht die einem gesetzlichen
Steuertatbestand innewohnende Wertung des Gesetzgebers generell
durchbrechen oder korrigieren, sondern nur einem ungewollten
Überhang des gesetzlichen Steuertatbestands abhelfen. Daraus
folgt, dass mit verfassungsrechtlich gebotenen
Billigkeitsmaßnahmen nicht die Geltung des Gesetzes
unterlaufen werden kann. Müssten solche Maßnahmen ein
Ausmaß erreichen, dass sie die allgemeine Geltung des
Gesetzes aufhöben, wäre das Gesetz als solches
verfassungswidrig (vgl. Senatsbeschluss vom 19.05.2011 - X B
184/10, BFH/NV 2011, 1659 = SIS 11 29 28, Rz 14).
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51
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Im Übrigen vermag der Senat auch nicht zu
erkennen, dass die gesetzlichen Vorschriften im Hinblick auf Art. 3
Abs. 1 des Grundgesetzes die Grenzen der zulässigen
Typisierung (vgl. dazu BFH-Urteil vom 11.05.2023 - III R 9/22, BFHE
280, 465, BStBl II 2023, 861 = SIS 23 10 98, Rz 30)
überschritten.
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ff) Eine punktuelle Billigkeitskorrektur ist
auch nicht zur Vermeidung einer Übermaßbesteuerung
geboten (vgl. BFH-Urteil vom 06.11.2002 - V R 75/01, BFHE 200, 26,
BStBl II 2003, 115 = SIS 03 07 73, unter II.6.).
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53
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(1) Zwar ist nach der Rechtsprechung des BFH
für einen Ausgleich in Form einer Verzinsung der
Steuernachforderung kein Raum, wenn zweifelsfrei feststeht, dass
ein Steuerpflichtiger durch die verspätete Steuerfestsetzung
keinen Vorteil erlangt hatte (vgl. Senatsbeschlüsse vom
30.10.2001 - X B 147/01, BFH/NV 2002, 505 = SIS 02 58 40, unter
4.b, m.w.N., und vom 14.01.2010 - X B 64/09, BFH/NV 2010, 1233 =
SIS 10 18 02, Rz 17; anknüpfend an das von dem Kläger
herangezogene BFH-Urteil vom 11.07.1996 - V R 18/95, BFHE 180, 524,
BStBl II 1997, 259 = SIS 96 22 76).
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(2) Das steht aber nicht bereits dann fest,
wenn ein Grundlagenbescheid aus Gründen jeglicher Art jenseits
des § 233a Abs. 2a AO noch gar nicht ergehen konnte und auch
eine Schätzung der Besteuerungsgrundlagen im Einzelfall nicht
möglich ist. Der Liquiditätsvorteil, der dadurch
entsteht, dass eine Schuld später zu zahlen ist, entsteht auch
dann, wenn sie nicht früher hätte gezahlt werden
können. Auf die Frage, ob die Grundlagenbescheide im
Streitfall früher hätten ergehen können, kommt es
daher nicht an. Aus welchem verfassungsrechtlichen Grunde es dem
Steuerpflichtigen stets möglich sein muss, die Entstehung von
Nachzahlungszinsen durch sachgerechte Schätzung und
(freiwillige) Zahlung der voraussichtlichen Steuerschuld zu
vermeiden, andernfalls er - trotz des erlangten
Liquiditätsvorteils - einen Anspruch auf einen Erlass dieser
Zinsen haben sollte, erschließt sich dem erkennenden Senat
nicht.
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(3) Es kommt deshalb nicht darauf an, ob dem
FA, wie der Kläger behauptet, ein (grobes) Verschulden im
Hinblick auf den späten Erlass der Grundlagenbescheide trifft.
Ein Verschulden ist für Zwecke des § 233a AO - wie das FG
im angefochtenen Urteil zutreffend ausführt - ohnehin auf
beiden Seiten des Steuerschuldverhältnisses prinzipiell
irrelevant (vgl. BFH-Beschluss vom 01.09.2008 - IV B 137/07, BFH/NV
2009, 200 = SIS 09 02 89, unter II.3.a). Vor diesem Hintergrund
bestand für das FG keine Veranlassung, auf diesen - vom
Kläger erstmals im Rahmen des Revisionsverfahrens
geäußerten - Gesichtspunkt von sich aus einzugehen.
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56
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gg) Ein anderes Ergebnis folgt auch nicht aus
dem Vorbringen des Klägers, die Erbscheinerteilung stelle ein
rückwirkendes Ereignis im Sinne des § 175 Abs. 1 Satz 1
Nr. 2 AO dar. Ob die Zinsen nach § 233a Abs. 2 AO oder nach
§ 233a Abs. 2a AO zu berechnen sind, ist eine Frage der
materiell-rechtlichen Richtigkeit der Zinsfestsetzung, nicht
hingegen der Billigkeit, und kann deshalb im Erlassverfahren nicht
verfolgt werden.
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57
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Der Senat merkt lediglich ergänzend an,
dass die Entscheidung darüber, ob ein rückwirkendes
Ereignis vorliegt, im Streitfall auch nicht im Verfahren betreffend
die Zinsfestsetzung, sondern im Verfahren über die
Grundlagenbescheide zu treffen wäre.
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58
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(1) Nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ist
ein Steuerbescheid zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern,
soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die
Vergangenheit hat (rückwirkendes Ereignis). Diese Regelung
greift - wie der Kläger selbst erkennt - vorliegend
unmittelbar nicht ein. Der Steuerbescheid, hier der
Einkommensteuerbescheid, der seinerseits Grundlage der Verzinsung
ist, wurde nicht auf dieser Rechtsgrundlage, sondern aufgrund der
Bindungswirkung des geänderten Grundlagenbescheids angepasst.
Käme es darauf an, wäre ein Fall des § 175 Abs. 1
Satz 1 Nr. 1 AO gegeben.
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(2) Allerdings knüpft der für die
Verzinsung maßgebliche § 233a Abs. 2a AO nicht
unmittelbar an die Voraussetzungen der Korrekturnorm, sondern daran
an, ob die Steuerfestsetzung auf der
„Berücksichtigung“ eines
rückwirkenden Ereignisses (§ 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und
Abs. 2 AO) „beruht“. Die Bezugnahme auf
§ 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und Abs. 2 AO in dem in § 233a
Abs. 2a AO enthaltenen Klammerzusatz betrifft nur die Frage, ob ein
rückwirkendes Ereignis vorliegt; sie bedeutet nicht, dass auch
die verfahrensrechtlichen Erfordernisse dieser Vorschriften
erfüllt sein müssten (vgl. BFH-Urteile vom 18.05.1999 - I
R 60/98, BFHE 188, 542, BStBl II 1999, 634 = SIS 99 17 42, unter
II.2.a cc; vom 12.07.2017 - I R 86/15, BFHE 259, 200, BStBl II
2018, 138 = SIS 17 20 62, Rz 16; Klein/Werth, AO, 18. Aufl., §
233a Rz 31; BeckOK AO/Oosterkamp, 29. Ed. 24.07.2024, AO §
233a Rz 27).
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60
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(3) Soweit das Wort
„beruht“ als Ursächlichkeit im
weiteren Sinne dahingehend verstanden werden könnte, dass es
für die Anwendung des § 233a Abs. 2a AO genügte,
wenn das rückwirkende Ereignis - über einen
Grundlagenbescheid vermittelt - (mittelbar) bei der
Steuerfestsetzung im Folgebescheid berücksichtigt wird,
lägen vorliegend aber die verfahrensrechtlichen
Voraussetzungen dafür nicht vor.
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(a) Es kann offenbleiben, ob die (erstmalige
beziehungsweise nachträgliche) Erbscheinerteilung
überhaupt ein rückwirkendes Ereignis im Sinne des §
175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO darstellt (so FG München, Urteil
vom 28.06.1990 - 10 K 10070/87, EFG 1991, 5, unter 1., für die
Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuer; BFH-Urteil vom 29.05.2008 -
IX R 46/06, BFH/NV 2008, 1479 = SIS 08 31 80, unter II.2., für
die Einkommensteuer, ohne Begründung) oder nur zur
Änderung nach § 173 AO wegen Vorliegens eines neuen
Beweismittels berechtigt (vgl. Frotscher in
Schwarz/Pahlke/Keß, AO/FGO, § 175 AO Rz 97; Fischer in
Fischer/Pahlke/Wachter, ErbStG, 8. Aufl., § 3 Rz 102 f.). Der
Senat neigt insoweit jedoch der Auffassung zu, dass sich die
einkommensteuerrechtliche Zurechnung der Einkünfte aus dem
(materiellen) Erbrecht ergibt, sich also danach richtet, wer
tatsächlich Erbe geworden ist. Da der Erbschein lediglich eine
starke Vermutung begründet (vgl. § 2365 BGB), besteht
auch keine strikte Bindung der Finanzbehörden an den Inhalt
des Erbscheins (vgl. BFH-Urteil vom 22.11.1995 - II R 89/93, BFHE
179, 436, BStBl II 1996, 242 = SIS 96 09 10, unter II.1.).
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(b) Die Entscheidung darüber, ob die
Änderung eines Gewinnfeststellungsbescheids auf einem
rückwirkenden Ereignis im Sinne von § 175 Abs. 1 Satz 1
Nr. 2 AO und damit zugleich auch auf einem rückwirkenden
Ereignis im Sinne von § 233a Abs. 2a AO beruht, wäre
jedoch im Feststellungsverfahren - erforderlichenfalls durch den
Erlass eines Ergänzungsbescheids (§ 179 Abs. 3 AO) - zu
treffen (vgl. BFH-Urteil vom 19.03.2009 - IV R 20/08, BFHE 225,
292, BStBl II 2010, 528 = SIS 09 25 86, unter II.2.a bb; Heuermann
in Hübschmann/Hepp/Spitaler - HHSp -, § 233a AO Rz 113).
Eine entsprechende Feststellung ist im Streitfall nicht getroffen
worden. Ob dies noch möglich ist, braucht der Senat im
vorliegenden Verfahren nicht zu klären.
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63
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hh) Der begehrte Erlass ist auch nicht wegen
der Höhe des Zinssatzes zu gewähren. Den
verfassungsrechtlichen Zweifeln hieran hat das BVerfG
zwischenzeitlich durch den Beschluss vom 08.07.2021 - 1 BvR
2237/14, 1 BvR 2422/17 (BVerfGE 158, 282 = SIS 21 14 23) Rechnung
getragen. Die Zinsbescheide sind entsprechend geändert worden.
Es besteht weder Raum noch Anlass für eine weitere Reduktion
im Billigkeitswege.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf §
135 Abs. 2 FGO.
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Erledigt sich der Rechtsstreit, der wegen des
Billigkeitserlasses geführt wird, dadurch, dass der den
streitigen Anspruch regelnde Steuerbescheid aus Rechtsgründen
aufgehoben oder geändert wird, so ist in der dann
gemäß den § 143 Abs. 1, § 138 Abs. 1 FGO zu
treffenden Entscheidung über die Kosten des die
Verpflichtungsklage betreffenden Verfahrens der Rechtsgedanke des
§ 138 Abs. 2 FGO anwendbar (vgl. von Groll in HHSp, § 227
AO Rz 401; BFH-Beschluss vom 24.06.1986 - III R 293/84, BFH/NV
1986, 760, unter 3.).
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Vorliegend hat der Kläger allerdings -
wie oben dargelegt - trotz ausdrücklichen Hinweises des
Senats, den Revisionsantrag an die geänderten
Zinsfestsetzungen für 2012 und 2013 anzupassen, an dem
ursprünglichen Erlassbegehren in vollem Umfang festgehalten,
ohne den Rechtsstreit insoweit in der Hauptsache für erledigt
zu erklären.
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Dem Senat ist es daher verwehrt, bei der
Kostenentscheidung - dem Rechtsgedanken des § 138 Abs. 2 FGO
entsprechend - zu Gunsten des Klägers zu berücksichtigen,
dass das FA mit der Minderung der Zinsfestsetzungen dem Begehren
des Klägers teilweise der Sache nach entsprochen hat. Auch
insoweit können daher die Kosten des Revisionsverfahrens nicht
dem FA auferlegt werden.
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