Auf die Revision der Klägerin werden das
Urteil des Finanzgerichts München vom 14.03.2024 - 10 K 508/22
= SIS 24 07 53 und der Abzweigungsbescheid vom 06.05.2021 in
Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 23.02.2022 aufgehoben.
Die Kosten des gesamten Verfahrens hat die
Beklagte zu tragen.
Die außergerichtlichen Kosten des
Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.
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I. Die Beteiligten streiten über die
Zulässigkeit der Abzweigung des Kindergeldes an den
Beigeladenen (D), den Sohn der Klägerin und
Revisionsklägerin (Klägerin).
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Die Klägerin erhielt für ihre
drei Kinder, unter anderem für ihren im Februar 2000 geborenen
Sohn D, fortlaufend Kindergeld. Mit Antrag vom 09.02.2021
beantragte D die Auszahlung des Kindergeldes an sich selbst. Die
Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) entsprach dem Antrag
mit Bescheid vom 06.05.2021. Das Kindergeld wurde ab dem 01.04.2021
an D ausgezahlt.
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Hiergegen erhob die Klägerin
Einspruch. Zur Begründung trug sie unter anderem vor, D
erhalte im Rahmen seines dualen Studiums eine monatliche
Bruttovergütung von xx EUR sowie ein monatliches steuerfreies
Stipendium in Höhe von xx EUR. Des Weiteren verfüge D
über ein zweckgebundenes Vermögen in Höhe von xx
EUR, das ihm für Ausbildungszwecke zur Verfügung gestellt
worden sei.
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Die Familienkasse wies den Einspruch als
unbegründet zurück (Einspruchsentscheidung vom
23.02.2022).
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Die anschließend erhobene Klage hatte
mit den in der Zeitschrift für das gesamte Familienrecht
(FamRZ) 2024, 1538 veröffentlichten Gründen keinen
Erfolg.
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Mit der Revision rügt die
Klägerin die Verletzung materiellen Rechts.
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Die Klägerin beantragt,
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das Urteil des Finanzgerichts (FG)
München vom 14.03.2024 - 10 K 508/22 und den
Abzweigungsbescheid vom 06.05.2021 in Gestalt der
Einspruchsentscheidung vom 23.02.2022 aufzuheben.
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Die Familienkasse beantragt,
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die Revision zurückzuweisen.
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Der Beigeladene hat keinen Antrag
gestellt.
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II. Die Revision ist begründet und
führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie zur
Stattgabe der Klage. Der Senat entscheidet in der Sache selbst und
hebt den rechtswidrigen Abzweigungsbescheid vom 06.05.2021 in
Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 23.02.2022 auf (§ 126
Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO - ). Das FG hat
die Klage zu Unrecht abgewiesen.
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1. Zutreffend ist das FG davon ausgegangen,
dass die Auszahlung des Kindergeldes an den Beigeladenen nicht auf
eine unmittelbare Anwendung des § 74 Abs. 1 des
Einkommensteuergesetzes i.d.F. vom 08.10.2009 (EStG) gestützt
werden kann.
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a) Nach § 74 Abs. 1 Satz 1 und 3 EStG
kann das für ein Kind festgesetzte Kindergeld an das Kind
ausgezahlt werden, wenn der Kindergeldberechtigte diesem
gegenüber seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht
nachkommt, mangels Leistungsfähigkeit nicht
unterhaltspflichtig ist oder nur Unterhalt in Höhe eines
Betrags zu leisten braucht, der geringer ist als das für die
Auszahlung in Betracht kommende Kindergeld.
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b) Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall
nicht vor.
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aa) Das FG ist zu Recht davon ausgegangen,
dass die Klägerin dem Beigeladenen gegenüber nicht
unterhaltspflichtig ist und insoweit eine Verletzung der
gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht vorliegt. Die fehlende
Unterhaltspflicht resultiert nicht aus der mangelnden
Leistungsfähigkeit der Klägerin, sondern aus der
fehlenden Unterhaltsbedürftigkeit des Beigeladenen.
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Gemäß § 1602 Abs. 1 des
Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) ist unterhaltsberechtigt nur,
wer außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Nach den den
Senat bindenden Feststellungen (§ 118 Abs. 2 FGO) des FG war
der Beigeladene aufgrund seiner Ausbildungsvergütung in
Höhe von monatlich xx EUR und des Stipendiums in Höhe von
monatlich xx EUR nicht unterhaltsbedürftig. Die fehlende
Unterhaltsbedürftigkeit ist zwischen den Beteiligten auch
unstreitig. Eine Verletzung der Unterhaltspflicht der Klägerin
ist damit nicht gegeben.
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bb) Es liegt auch kein (unmittelbarer) Fall
des § 74 Abs. 1 Satz 3 Alternative 2 EStG vor. Hiernach kann
eine Abzweigung auch dann erfolgen, wenn der Kindergeldberechtigte
mangels Leistungsfähigkeit nur Unterhalt in Höhe eines
Betrags zu leisten braucht, der geringer ist als das für die
Auszahlung in Betracht kommende Kindergeld. Nach dem
Gesetzeswortlaut werden das auf das betreffende Kind entfallende
Kindergeld und die rechtlich bestehende Unterhaltsverpflichtung
gegenübergestellt (Reuß in Bordewin/Brandt, § 74
EStG Rz 16). Damit setzt auch diese Alternative grundsätzlich
eine Unterhaltsverpflichtung voraus, die nur wegen fehlender voller
oder teilweiser Leistungsfähigkeit des Kindergeldberechtigten
nicht erfüllt werden kann. Die unmittelbare Anwendung der
Vorschrift erfordert daher nach ihrem Wortlaut, dass die
Unterhaltsverpflichtung „mangels
Leistungsfähigkeit“ nicht besteht; sie
ist daher nicht anwendbar, wenn eine Unterhaltsverpflichtung aus
anderen Gründen, insbesondere mangels Bedürftigkeit des
Kindes, entfällt (FG Düsseldorf, Urteil vom 07.04.2016 -
16 K 1697/15 Kg, FamRZ 2016, 1893 = SIS 16 12 69, Rz 17; vgl.
Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 16.04.2002 - VIII R 50/01,
BFHE 199, 105, BStBl II 2002, 575 = SIS 02 84 86, unter 1.;
Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach A, I.
Kommentierung, § 74 EStG Rz 5).
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2. Die Abzweigung des Kindergeldes an den
Beigeladenen kann entgegen der Ansicht des FG auch nicht aus einer
analogen Anwendung des § 74 Abs. 1 EStG abgeleitet werden. Es
fehlt an einer für einen Analogieschluss erforderlichen
planwidrigen Gesetzeslücke.
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a) Sowohl die Analogie als auch die
teleologische Extension einer Norm setzen eine Regelungslücke
voraus. Eine solche liegt vor, wenn ein bestimmter Sachverhalt zwar
gesetzlich geregelt ist, jedoch keine Vorschrift für
Fälle enthält, die nach dem Grundgedanken und dem System
des Gesetzes hätten mitgeregelt werden müssen (BFH-Urteil
vom 26.09.2023 - IX R 19/21, BFHE 281, 514, BStBl II 2024, 43 = SIS 23 20 04, Rz 32, m.w.N.). Die Norm - gemessen an ihrem Zweck - muss zum einen
unvollständig, das heißt ergänzungsbedürftig,
sein und ihre Ergänzung darf nicht einer vom Gesetzgeber
beabsichtigten Beschränkung auf bestimmte Tatbestände
widersprechen (Senatsurteil vom 01.09.2021 - III R 18/21, BFHE 273,
542, BStBl II 2022, 117 = SIS 21 18 60, Rz 13, m.w.N.).
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Zum anderen muss die Regelungslücke
planwidrig sein (BFH-Urteil vom 04.09.2024 - I R 12/22 =
SIS 24 18 73, zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt, Rz 16).
Dies erfordert die Feststellung, dass der in Frage stehende
Sachverhalt vom Gesetzgeber nur versehentlich nicht geregelt worden
ist (BFH-Urteil vom 28.10.2020 - X R 29/18, BFHE 271, 370, BStBl II
2021, 675 = SIS 21 07 66, Rz 34, m.w.N.). Keine (planwidrigen)
Regelungslücken sind rechtspolitische Unvollständigkeiten
(„rechtspolitische Fehler“), bei denen
die Ergänzung aus lediglich rechtspolitischen Gründen
wünschenswert wäre (u.a. BFH-Urteile vom 09.08.1989 - X R
30/86, BFHE 158, 45, BStBl II 1989, 891 = SIS 90 02 08, unter 2.a;
vom 26.09.2023 - IX R 19/21, BFHE 281, 514, BStBl II 2024, 43 = SIS 23 20 04, Rz 33). Es bedarf daher des sicheren Nachweises, dass
sich die Regelungsabsicht des Gesetzgebers im Normtext nicht
niedergeschlagen hat (Senatsurteil vom 25.04.2024 - III R 36/23,
BStBl II 2024, 597 = SIS 24 10 42, Rz 33), weil sonst jedes
Schweigen des Gesetzgebers - und das ist der Normalfall, wenn er
etwas nicht regeln will - als planwidrige Lücke im Wege der
Analogie von den Gerichten ausgefüllt werden könnte
(Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 01.06.2017 - B 5 R
2/16 R, BSGE 123, 205, Rz 25; Urteil des Bundesgerichtshofs - BGH -
vom 22.07.2021 - IX ZB 7/20, MDR 2021, 1417, Rz 22).
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Schließlich erfordert eine Analogie,
dass zwischen dem gesetzlich geregelten Tatbestand und dem nicht
geregelten Sachverhalt eine vergleichbare Interessenlage besteht
(BFH-Urteil vom 11.02.2015 - X R 36/11, BFHE 249, 159, BStBl II
2015, 545 = SIS 15 06 29, Rz 68). Eine richterliche
Rechtsfortbildung, zu der auch der Analogieschluss zählt, darf
aber nicht dazu führen, dass die Gerichte ihre eigene
materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des
Gesetzgebers setzen (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom
28.11.2023 - 2 BvL 8/13, BVerfGE 168, 1 = SIS 24 01 44, Rz
130).
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b) Diese Voraussetzungen sind im Hinblick auf
§ 74 Abs. 1 EStG nicht erfüllt. Eine planwidrige
Unvollständigkeit des Gesetzes lässt sich nicht sicher
feststellen. Insbesondere deuten weder die Gesetzesmaterialien oder
die Gesetzessystematik noch der Zweck der Vorschrift darauf hin,
dass der Gesetzgeber mit der Regelung der Abzweigung in § 74
Abs. 1 EStG die Auszahlung des Kindergeldes an das Kind auch bei
fehlender Bedürftigkeit des Kindes ermöglichen
wollte.
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aa) Entgegen der Ansicht des FG lässt
sich den Gesetzesmaterialien nicht entnehmen, dass die Abzweigung
zugunsten des Kindes in § 74 Abs. 1 EStG auch dann geregelt
werden sollte, wenn aufgrund der fehlenden
Unterhaltsbedürftigkeit des Kindes eine Verletzung der
Unterhaltspflicht nicht in Betracht kommt.
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(1) Aus den Materialien zu § 74 Abs. 1
EStG (BT-Drucks. 13/1558, S. 162) ergibt sich, dass die Regelung
des § 74 Abs. 1 EStG „die Auszahlung des Kindergeldes
bei Verletzung der Unterhaltspflicht“ regeln
soll (Satz 1 der Begründung zu § 74 Abs. 1 EStG). Soweit
im nachfolgenden Satz 2 der Gesetzesbegründung darauf
hingewiesen wird, dass die Regelung dem § 48 des Ersten Buches
Sozialgesetzbuch (SGB I) entspreche, kann dies zunächst nur im
Zusammenhang mit dem ersten Satz gesehen werden. Bei Verletzung der
Unterhaltspflicht entspricht die Regelung des § 74 Abs. 1 EStG
der Regelung des § 48 Abs. 1 SGB I. Hingegen wurde in §
74 EStG keine dem § 48 Abs. 2 SGB I vergleichbare Regelung
aufgenommen, die einen Auszahlungsanspruch auch dann
begründet, wenn der Leistungsberechtigte mangels
Bedürftigkeit des Kindes kraft Gesetzes nicht
unterhaltspflichtig ist.
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(2) Insoweit ist zu beachten, dass § 74
Abs. 1 EStG auf der Neuregelung der einkommensteuerrechtlichen
Kindergeldvorschriften durch das Jahressteuergesetz 1996 beruht.
Die Aufnahme einer dem § 48 Abs. 2 SGB I vergleichbaren
Regelung war zu diesem Zeitpunkt nicht erforderlich, da ein
Kindergeldanspruch zunächst nur bestand, wenn das
volljährige Kind nicht über eigene zur Bestreitung des
Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmte oder geeignete
Einkünfte und Bezüge verfügte, die den in § 32
Abs. 4 Satz 2 EStG a.F. geregelten Jahresgrenzbetrag
überschritten. Bei Überschreitung des Jahresgrenzbetrags
war das Existenzminimum des Kindes durch eigene Einkünfte und
Bezüge gesichert.
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Entsprechend entstammt auch das BFH-Urteil vom
16.04.2002 - VIII R 50/01 (BFHE 199, 105, BStBl II 2002, 575 = SIS 02 84 86) einer Zeit, in der der Anspruch auf Kindergeld schon dem
Grunde nach die Bedürftigkeit des volljährigen Kindes
voraussetzte (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG a.F.). Kern des
Rechtsstreits war die Frage, ob die fehlende zivilrechtliche
Pflicht der Eltern, dem Kind während einer Zweitausbildung
Unterhalt zu gewähren, einer Abzweigung des Kindergeldes an
das Kind entgegenstand. Im Gegensatz zum vorliegenden Fall war im
damals zu entscheidenden Fall das Existenzminimum des Kindes nicht
durch eigene Einkünfte und Bezüge gedeckt.
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Des Weiteren sah der Gesetzgeber nach der
Abschaffung der Grenzbetragsregelung durch das
Steuervereinfachungsgesetz vom 01.11.2011 (BGBl I 2011, 2131)
keinen Anlass, § 74 EStG zu ändern, obwohl er in anderen
Bereichen notwendige Folgeänderungen vornahm (z.B. § 33a
Abs. 2 Satz 2 EStG und § 70 Abs. 4 EStG; vgl. BT-Drucks.
17/5125, S. 42 und 47). Dies spricht ebenfalls dafür, dass er
an der Grundkonzeption, eine Abzweigung des Kindergeldes an das
volljährige Kind nur für den Fall der
Unterhaltsbedürftigkeit vorzusehen, auch nach dem Wegfall der
Grenzbetragsregelung festhalten wollte. Anhaltspunkte dafür,
dass der Gesetzgeber die volljährigen nicht
unterhaltsbedürftigen Kinder schlichtweg
„vergessen“ haben könnte, sieht der
Senat nicht. Vielmehr war dem Gesetzgeber bewusst, dass er mit dem
Verzicht auf die Grenzbetragsregelung die
Begünstigungsfälle bei in Erstausbildung befindlichen
Kindern (in einem nicht ins Gewicht fallenden Umfang) ausweitet
(BT-Drucks. 17/5125, S. 41).
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(3) Letztlich hätte es der
Tatbestandsvoraussetzung der Verletzung der Unterhaltspflicht in
§ 74 Abs. 1 EStG gar nicht bedurft, wenn bei mangelnden
Unterhaltszahlungen stets eine Abzweigung in Betracht käme
(Schürmann, juris PraxisReport Familienrecht - jurisPR-FamR -
21/2024 Anm. 2).
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bb) § 74 Abs. 1 EStG ist auch gemessen an
seinem Zweck nicht ergänzungsbedürftig.
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(1) § 74 EStG lässt die
Anspruchsberechtigung des Kindergeldberechtigten grundsätzlich
unberührt (Senatsurteile vom 26.08.2010 - III R 21/08, BFHE
231, 520, BStBl II 2013, 583 = SIS 11 01 50; vom 27.10.2011 - III R
16/09, BFH/NV 2012, 720 = SIS 12 10 21), bestimmt aber in
Sonderfällen einen abweichenden Auszahlungsempfänger. Der
darin liegende Eingriff in den Rechtsanspruch des
Kindergeldberechtigten (Wendl in Herrmann/Heuer/Raupach, § 74
EStG Rz 3) ist gerechtfertigt, weil das Kindergeld vorrangig zur
Sicherung des Existenzminimums des Kindes zu verwenden ist (vgl.
§ 31 Satz 1 EStG). Kommt der Kindergeldberechtigte seiner
gesetzlichen Unterhaltsverpflichtung gegenüber seinem Kind
nicht nach, sondern verwendet er das Kindergeld für andere
Zwecke, ermöglicht § 74 Abs. 1 EStG unter Vermeidung
zivilgerichtlicher Verfahren die Auszahlung an das
unterhaltsberechtigte und -bedürftige Kind oder an eine andere
Person, die dem Kind Unterhalt gewährt (§ 74 Abs. 1 Satz
4 EStG). Ist hingegen das Existenzminimum des Kindes - wie im
vorliegenden Fall - durch dessen eigene Einkünfte und
Bezüge ausreichend gesichert, ist eine Abweichung von der
grundsätzlichen gesetzlichen Zuordnungsentscheidung, das
Kindergeld beim Anspruchsinhaber (Kindergeldberechtigten) zu
belassen, nicht zwingend erforderlich. Der in der Sicherung des
Kinderexistenzminimums liegende Zweck tritt mithin bei einem nicht
unterhaltsbedürftigen Kind in den Hintergrund. Entscheidend
ist dann nach den gesetzlichen Wertungen der weitere
ausdrücklich normierte Zweck, die Familie zu fördern
(§ 31 Satz 2 EStG). Das Kindergeld kann in diesem Fall bei dem
gemäß §§ 31, 64 EStG vorrangig berechtigten
Elternteil verbleiben und für andere aus der Elternpflicht
hervorgehende Kosten (zum Beispiel für die Ausübung des
Umgangsrechts, Besuche, Geschenke oder sonstige besondere Ausgaben)
eingesetzt werden (vgl. BGH-Urteil vom 17.01.2007 - XII ZR 166/04,
NJW 2007, 1747, unter II.4.a). Daher lässt sich bei einem
eindeutig fehlenden Unterhaltsbedarf des Kindes keine planwidrige
Regelungslücke in § 74 Abs. 1 EStG feststellen (so auch
Reuß in Bordewin/Brandt, § 74 EStG Rz 19; vgl. FG
Düsseldorf, Urteil vom 07.04.2016 - 16 K 1697/15 Kg, FamRZ
2016, 1893 = SIS 16 12 69; a.A. Sächsisches FG, Urteil vom
07.04.2004 - 5 K 2761/02 (Kg), juris = SIS 05 10 79, jedenfalls
für den Fall eines nicht unterhaltsbedürftigen Kindes
wegen Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach
§ 63 des Strafgesetzbuches).
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(2) Ein Vergleich mit den sozial- und
zivilrechtlichen Zuordnungsentscheidungen in Bezug auf das
Kindergeld bestätigt, dass es dem Willen des Gesetzgebers
nicht zuwiderläuft, das Kindergeld dem Kindergeldberechtigten
(hier der Mutter) zu belassen.
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Das Sozialrecht geht in vergleichbaren
Fällen ebenfalls von einer Verwendung des Kindergeldes
für den elterlichen Lebensbedarf aus. Das Kindergeld ist als
Einkommen des Kindergeldberechtigten anzusehen, soweit es nicht zur
Deckung des Kindesbedarfs erforderlich ist (vgl. § 11 Abs. 1
Satz 4 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch, § 82 Abs. 1 Satz 3
des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch, § 94 Abs. 3 Satz 1
des Achten Buches Sozialgesetzbuch; vgl. Landessozialgericht
Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 12.11.2015 - L 6 AS 415/14, FamRZ
2016, 1814; vgl. BSG-Urteil vom 14.06.2018 - B 14 AS 37/17 R, BSGE
126, 70).
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Auch im Zivilrecht wird das Kindergeld als
Einkommen des Beziehers angesehen, soweit es nicht zur Deckung des
notwendigen Lebensunterhalts (Existenzminimum) des Kindes
benötigt wird (vgl. BGH-Beschluss vom 14.12.2016 - XII ZB
207/15, NJW 2017, 962 = SIS 16 28 84, Rz 7 ff.). Ferner wird bei
fehlender Bedürftigkeit des Kindes in der zivilrechtlichen
Rechtsprechung teilweise ein unterhaltsrechtlicher Anspruch auf
Auskehrung des von den Eltern bezogenen Kindergeldes verneint
(Oberlandesgericht - OLG - Braunschweig, Urteil vom 27.04.2023 - 1
UF 13/23, NJW 2023, 3026; Schürmann, jurisPR-FamR 17/2023 Anm.
3; a.A. OLG Stuttgart, Beschluss vom 20.01.2017 - 17 UF 193/16,
FamRZ 2017, 709; mit kritischer Anmerkung Schürmann,
jurisPR-FamR 12/2017 Anm. 1 und FamRZ 2017, 710). Wenn der
Unterhaltsbedarf des Kindes bereits durch eigenes Einkommen
vollständig gedeckt wird, so ist die Verwendung des
Kindergeldes nach § 1612b Abs. 1 BGB für dessen Bedarf
nicht erforderlich (vgl. OLG Braunschweig, Beschluss vom 27.04.2023
- 1 UF 13/23, NJW 2023, 3026, Rz 21).
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3. Da das FG seiner Entscheidung eine
abweichende Rechtsauffassung zugrunde gelegt und die
Abzweigungsentscheidung der Familienkasse deshalb zu Unrecht
für rechtmäßig befunden hat, waren das Urteil und
der angefochtene Bescheid aufzuheben.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf §
135 Abs. 1 FGO. Außergerichtliche Kosten des Beigeladenen
werden nicht erstattet (§ 139 Abs. 4 FGO).
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