Die Revision des Beklagten gegen das Urteil
des Hessischen Finanzgerichts vom 05.12.2017 - 1 K 501/16 = SIS 18 05 49 wird als unbegründet zurückgewiesen. Die Kosten des
Revisionsverfahrens hat der Beklagte zu tragen.
1
|
I. Die Kläger und Revisionsbeklagten
(Kläger) wurden im Jahr 2010 (Streitjahr) zur Einkommensteuer
zusammenveranlagt. Der Kläger erzielte als
Fluggerätemechaniker Einkünfte aus
nichtselbständiger Tätigkeit. Arbeitgeber des
Klägers war die A. Gemäß Abordnungsvertrag vom
08.07.2009 war der Kläger im Streitjahr auf dem Flughafen in X
(Nigeria) eingesetzt und dort mit der Wartung und Störbehebung
von Flugzeugen der Fluggesellschaft B befasst.
|
|
|
2
|
Während der Arbeitgeber für die
Veranlagungszeiträume vor dem Streitjahr die Regelungen des
Auslandstätigkeitserlasses - ATE - (Schreiben des
Bundesministeriums der Finanzen - BMF - vom 31.10.1983, BStBl I
1983, 470 = SIS 83 21 28) bereits im Rahmen des Lohnsteuerabzugs
berücksichtigte, unterwarf er den im Streitjahr erzielten
Arbeitslohn der Lohnsteuer in der Bundesrepublik Deutschland
(Deutschland). In der von den Klägern für das Streitjahr
eingereichten Einkommensteuererklärung erklärten sie den
vom Kläger bezogenen Arbeitslohn als in Deutschland
steuerpflichtig. In der Anlage N beantragten sie Kosten für
Familienheimfahrten zwischen X und der Familienwohnung in
Deutschland als Werbungskosten, welche vom Beklagten und
Revisionskläger (Finanzamt - FA - ) antragsgemäß
berücksichtigt wurden.
|
|
|
3
|
Mit Bescheid vom 19.10.2011 setzte das FA
die Einkommensteuer auf ... EUR fest. Der Bescheid stand nicht
unter dem Vorbehalt der Nachprüfung und wurde
bestandskräftig.
|
|
|
4
|
Mit beim FA am 16.01.2015 eingegangenem
Schreiben beantragten die Kläger die Änderung des
Einkommensteuerbescheides nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 der
Abgabenordnung (AO) dahingehend, dass der ATE zur Anwendung komme.
Nach Ablehnung dieses Antrags durch das FA beantragten die
Kläger mit Schreiben vom 27.04.2015 die Anwendung des Erlasses
nach § 34c Abs. 5 des Einkommensteuergesetzes (EStG) im Rahmen
einer Billigkeitsentscheidung gemäß § 163 AO. Mit
Verfügung vom 20.05.2015 lehnte das FA diesen Antrag ab, weil
unter Berücksichtigung des Sinns und Zwecks der allgemeinen
Billigkeitsregelungen der AO eine zeitliche Begrenzung der
Zulässigkeit eines Antrags nach § 34c Abs. 5 EStG i.V.m.
dem ATE vorzunehmen sei.
|
|
|
5
|
Nach erfolglosem Einspruch erhoben die
Kläger dagegen Klage vor dem Hessischen Finanzgericht (FG),
welches dieser durch in EFG 2018, 732 veröffentlichtes Urteil
vom 05.12.2017 - 1 K 501/16 = SIS 18 05 49 stattgab.
|
|
|
6
|
Dagegen richtet sich die Revision des FA,
welches diese auf die Verletzung materiellen Rechts stützt und
mit der es beantragt, das Urteil des Hessischen FG vom 05.12.2017 -
1 K 501/16 = SIS 18 05 49 aufzuheben und die Klage
abzuweisen.
|
|
|
7
|
Die Kläger beantragen, die Revision
als unbegründet zurückzuweisen.
|
|
|
8
|
II. Die Revision des FA ist unbegründet
und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der
Finanzgerichtsordnung - FGO - ). Die Kläger haben Anspruch auf
Erlass von Einkommensteuer in der von ihnen beantragten Höhe
nach § 34c Abs. 5 EStG.
|
|
|
9
|
1. Nach § 34c Abs. 5 EStG können die
obersten Finanzbehörden der Länder oder die von ihnen
beauftragten Finanzbehörden mit Zustimmung des BMF die auf
ausländische Einkünfte entfallende deutsche
Einkommensteuer ganz oder zum Teil erlassen oder in einem
Pauschbetrag festsetzen, wenn es aus volkswirtschaftlichen
Gründen zweckmäßig ist oder die Anwendung des Abs.
1 der Vorschrift besonders schwierig ist. Die Norm räumt
insoweit den Finanzbehörden in verfassungskonformer Weise
einen Ermessensspielraum ein und stellt einen Auffangtatbestand
für diejenigen Fälle dar, in denen die Regelungen in den
vorhergehenden Normabsätzen im konkreten Einzelfall nicht zu
sachgerechten, außenwirtschaftlich erwünschten
Ergebnissen führen (vgl. Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts vom 19.04.1978 - 2 BvL 2/75, BVerfGE 48,
210, BStBl II 1978, 548 = SIS 78 03 10; Urteile des
Bundesfinanzhofs - BFH - vom 18.08.1987 - VIII R 297/82, BFHE 151,
25, BStBl II 1988, 139 = SIS 87 24 59; vom 14.06.1991 - VI R
185/87, BFHE 165, 208, BStBl II 1991, 926 = SIS 91 21 31). Die nach
§ 34c Abs. 5 EStG erforderliche „volkswirtschaftliche
Zweckmäßigkeit“ liegt danach nur dann vor,
wenn die Steuerbegünstigung der deutschen
Außenwirtschaft dient. Vor diesem Hintergrund dient der ATE,
soweit er gestützt auf § 34c Abs. 5 EStG die
Möglichkeit eines Erlasses von Einkommensteuer durch die
Finanzverwaltung schafft, in erster Linie der Förderung der
deutschen Exportwirtschaft (Senatsbeschluss vom 08.12.2010 - I B
98/10, BFH/NV 2011, 596 = SIS 11 06 75).
|
|
|
10
|
2. Soweit die auf ausländische
Einkünfte entfallende deutsche Einkommensteuer nach dem ATE
ganz oder zum Teil erlassen werden soll, ist darüber
verfahrensrechtlich nicht im Steuerfestsetzungsverfahren oder im
Rahmen der Feststellung von Besteuerungsgrundlagen, sondern durch
einen eigenständigen Bescheid zu entscheiden (Senatsurteil vom
25.04.2001 - I R 80/97, BFH/NV 2001, 1541 = SIS 01 81 19). Auch
wenn dieser Verwaltungsakt regelmäßig mit der
Steuerfestsetzung verbunden wird, ändert das nichts daran,
dass es sich hierbei um eine gesonderte Entscheidung handelt. Mit
Blick auf die Steuerfestsetzung handelt es sich um einen
Grundlagenbescheid, der eine Bindungswirkung auslöst, die ggf.
nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO umzusetzen ist (vgl.
Senatsbeschluss vom 12.07.2012 - I R 32/11, BFHE 237, 307, BStBl II
2015, 175 = SIS 12 25 19 zum Antrag nach R 14 Abs. 2 Satz 3 der
Einkommensteuer-Richtlinien 2005).
|
|
|
11
|
3. Im Gesetz bzw. im ATE ist insoweit
allerdings nicht geregelt, innerhalb welcher zeitlicher Grenzen ein
Antrag auf Steuererlass nach § 34c Abs. 5 EStG i.V.m. den
Regelungen des ATE gestellt werden kann.
|
|
|
12
|
a) Teilweise wird dazu die Auffassung
vertreten, schon aus der Natur der Entscheidung nach § 34c
Abs. 5 EStG als Grundlagenbescheid folge, dass der Erlass der
Entscheidung zeitlich durch die Festsetzungsverjährung und
nicht bereits durch die Bestandskraft der Steuerfestsetzung
begrenzt werde (so etwa Weinschütz in Lademann, EStG, §
34c EStG Rz 137; Prokisch in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG,
§ 34c Rz E 13; Kuhn in Herrmann/ Heuer/Raupach, § 34c
EStG Rz 171; Blümich/Wagner, § 34c EStG Rz 115).
|
|
|
13
|
b) Demgegenüber wird aber geltend
gemacht, Anträge auf Durchführung eines Erlassverfahrens
nach § 34c Abs. 5 EStG könnten nicht mehr gestellt
werden, wenn die Steuerfestsetzung bestandskräftig sei und
nicht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehe (Gosch, DStZ
1988, 136, 140; derselbe in Kirchhof, EStG, 19. Aufl., § 34c
Rz 35).
|
|
|
14
|
c) Der Senat schließt sich im Ergebnis
der erstgenannten Auffassung an.
|
|
|
15
|
aa) Er geht hierbei davon aus, dass es sich
bei § 34c Abs. 5 EStG um eine gegenüber den allgemeinen
Erlassregelungen in §§ 163 und 227 AO speziellere
Regelung handelt (ebenso Gosch, DStZ 1988, 136, 137 ff.; Kuhn,
a.a.O.; a.A. Prokisch in Kirchhof/Söhn/ Mellinghoff, a.a.O.,
§ 34c Rz E 3), die allerdings ggf. unter Rückgriff auf
die genannten allgemeinen Regelungen auszufüllen ist.
|
|
|
16
|
bb) Äußert sich eine
Verwaltungsvorschrift (hier: der ATE) zu einem nach allgemeinen
Grundsätzen als Ermessenskriterium dienenden Punkt (hier: zum
Zeitfaktor) nicht, so kann dies bedeuten, dass sie die
Berücksichtigung des zeitlichen Elements generell
ausschließen will. Sie kann aber auch so zu begreifen sein,
dass sie sich auf die Nichtregelung beschränkt und die
Lücke mit Hilfe der allgemeinen Grundsätze
aufzufüllen ist (BFH-Urteil vom 21.07.2016 - X R 11/14, BFHE
254, 497, BStBl II 2017, 22 = SIS 16 23 96). Die Gerichte
dürfen dabei Verwaltungsanweisungen nur darauf
überprüfen, ob die Auslegung durch die Behörde
möglich ist (vgl. BFH-Urteile vom 13.01.2011 - V R 43/09, BFHE
233, 58, BStBl II 2011, 610 = SIS 11 13 62; in BFHE 254, 497, BStBl
II 2017, 22 = SIS 16 23 96).
|
|
|
17
|
cc) Das FA versteht den ATE so, dass ein
Antrag nur bis zur Bestandskraft der Steuerfestsetzung gestellt
werden kann. Dass das nicht zutreffend ist, ergibt sich aber
bereits daraus, dass die Finanzverwaltung das Zeitmoment im
ebenfalls auf § 34c Abs. 5 EStG gestützten
Pauschalierungserlass (BMF-Schreiben vom 10.04.1984, BStBl I 1984,
252 = SIS 84 09 39, Tz. 2) positiv dahingehend geregelt hat, dass
der dortige Antrag gestellt werden kann, „solange die
Steuerfestsetzung noch nicht unanfechtbar ist oder unter dem
Vorbehalt der Nachprüfung steht“. Daraus, dass der
ATE eine entsprechende Regelung nicht enthält, lässt sich
nur schließen, dass der Erlassgeber eine zeitliche
Beschränkung der Antragstellung dort gerade nicht hat
vornehmen wollen.
|
|
|
18
|
dd) Selbst wenn man aber den ATE als
lückenhaft auffassen und ihn nach allgemeinen Grundsätzen
ergänzen wollte, ergäbe sich nichts anderes: Nach
hergebrachter Rechtsprechung zu § 163 AO ist ein Erlass
nämlich auch dann möglich, wenn die Steuerfestsetzung
bereits bestandskräftig ist (vgl. BFH-Urteile vom 17.06.2004 -
IV R 9/02, BFH/NV 2004, 1505 = SIS 04 38 49; in BFHE 254, 497,
BStBl II 2017, 22 = SIS 16 23 96). Dies gilt jedenfalls, soweit die
Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig ist und es
dem Steuerpflichtigen nicht möglich oder nicht zumutbar war,
sich gegen die Fehlerhaftigkeit rechtzeitig zu wehren (BFH-Urteil
in BFH/NV 2004, 1505 = SIS 04 38 49, m.w.N.). Im Streitfall handelt
es sich indessen nicht um eine fehlerhafte, sondern um eine
zutreffende Steuerfestsetzung, weil die Begünstigungen nach
dem ATE ausschließlich über das Billigkeitsverfahren,
nicht aber isoliert im Rahmen des Festsetzungsverfahrens geltend
gemacht werden können.
|
|
|
19
|
ee) Zwar kann im Rahmen der
Ermessensentscheidung über die Billigkeitsmaßnahme der
Zeitablauf auch als solcher berücksichtigt werden und er
bildet insoweit einen selbständigen Grund für den
Rechtsverlust, der neben die Verwirkung tritt und von dieser zu
trennen ist (vgl. BFH-Urteil in BFHE 254, 497, BStBl II 2017, 22 =
SIS 16 23 96, m.w.N.). Indessen tritt ein solcher Rechtsverlust
aber nicht bereits vor dem Ablauf der Festsetzungsverjährung
ein. Hierfür spricht, dass das Festsetzungsverfahren
einerseits und das Billigkeitsverfahren andererseits zwei getrennte
Verfahren sind und ein nach Eintritt der Bestandskraft ergangener
Billigkeitserweis nach § 34c Abs. 5 EStG im Rahmen der
Festsetzung nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO
nachträglich zu berücksichtigen ist.
|
|
|
20
|
4. Das FG ist im Ergebnis von den vorstehenden
Rechtsgrundsätzen ausgegangen. Es hat auch zutreffend einen
Anspruch der Kläger auf die Gewährung des begehrten
Billigkeitserlasses bejaht.
|
|
|
21
|
a) Zwischen den Beteiligten ist zu Recht nicht
streitig, dass im Streitfall die tatbestandlichen Voraussetzungen
der Ziffern I bis IV des ATE vorliegen. Auch unter zeitlichen
Gesichtspunkten war im Streitfall die Antragstellung nicht zu
beanstanden, da bei Antragstellung noch keine
Festsetzungsverjährung eingetreten war.
|
|
|
22
|
b) Das FG hat auch zutreffend einen Anspruch
der Kläger auf die begehrte Billigkeitsmaßnahme nach
§ 34c Abs. 5 EStG i.V.m. dem ATE bejaht, weil das Ermessen des
FA im Streitfall auf Null reduziert ist. Sind sämtliche
Voraussetzungen für den Ausspruch der begehrten
Billigkeitsmaßnahme erfüllt, hat das FG die
Finanzbehörde nach § 101 Satz 1 FGO zu verpflichten, die
allein rechtmäßige Ermessensentscheidung vorzunehmen.
Der ATE erzeugt insoweit als ermessensleitende
Verwaltungsvorschrift unter Berücksichtigung des
Gleichbehandlungsgrundsatzes eine Selbstbindung der
Finanzverwaltung dahingehend, dass sie in gleichgelagerten
Fällen an die die Ermessensausübung regelnden
Verwaltungsvorschriften gebunden ist. Im Streitfall sind mit dem FG
keine Umstände ersichtlich, die es rechtfertigen würden,
trotz des Vorliegens der Voraussetzungen des ATE diesen in der
Sache nicht anzuwenden.
|
|
|
23
|
5. Die Kostenentscheidung beruht auf §
135 Abs. 2 FGO.
|