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A. I. Vorgelegte Rechtsfrage
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Der VIII. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH)
hat durch Beschluss vom 7.2.2013 VIII R 2/09 (BFHE 241, 107, BStBl
II 2013, 823 = SIS 13 22 49) dem Großen Senat des BFH
folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt:
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Ist im Fall einer zulässigen
Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten, die gegen
zwingende Zustellungsvorschriften verstößt, weil der
Zusteller entgegen § 180 Satz 3 der Zivilprozessordnung (ZPO)
auf dem Umschlag des zuzustellenden Schriftstücks das Datum
der Zustellung nicht vermerkt hat, das zuzustellende
Schriftstück i.S. von § 189 ZPO bereits in dem Zeitpunkt
dem Empfänger tatsächlich zugegangen und gilt deshalb als
zugestellt, in dem nach dem gewöhnlichen Geschehensablauf mit
einer Entnahme des Schriftstücks aus dem Briefkasten und der
Kenntnisnahme gerechnet werden kann, auch wenn der Empfänger
das Schriftstück erst später in die Hand bekommt?
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II. Sachverhalt
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Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das
Finanzamt - FA - ) erließ unter dem 22.8.2005 gegenüber
den zusammenveranlagten Klägern und Revisionsklägern
(Kläger) einen geänderten Einkommensteuerbescheid
2002.
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Nach erfolglosem Einspruch wies das
Finanzgericht (FG) die Klage mit aufgrund mündlicher
Verhandlung verkündetem Urteil vom 16.12.2008 10 K 4614/05
(EFG 2009, 554 = SIS 09 07 97) ab und ließ die Revision zu.
Die für die Kläger bestimmte Ausfertigung des Urteils
wurde den damaligen Prozessbevollmächtigten der Kläger,
drei in einer Sozietät zusammengeschlossenen
Rechtsanwälten, im Wege eines Zustellungsauftrags durch die
Deutsche Post AG zugestellt. In der vom Zusteller unterzeichneten
Zustellungsurkunde wird angegeben, dass der Umschlag nach dem
vergeblichen Versuch der Übergabe in einen zum
Geschäftsraum gehörenden Briefkasten oder in eine
ähnliche Vorrichtung eingelegt wurde. Als Tag der Zustellung
wurde der 24.12.2008 (Mittwoch) ohne Angabe einer Uhrzeit in die
Zustellungsurkunde eingetragen.
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Die Revisionsschrift der
Prozessbevollmächtigten der Kläger vom 26.1.2009 ging am
Dienstag, den 27.1.2009, beim BFH ein. Nach einem telefonischen
Hinweis der Geschäftsstelle des zuständigen VIII. Senats,
dass die Frist zur Einlegung der Revision bereits am 26.1.2009
abgelaufen sei, widersprachen die Prozessbevollmächtigten dem
mit Schriftsatz vom 28.1.2009 und stellten zugleich (hilfsweise)
namens der Kläger einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand hinsichtlich der Revisionsfrist.
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Die Kläger tragen vor, das Urteil sei
ihren Prozessbevollmächtigten erst am 29.12.2008 (Montag)
zugegangen. Die Kanzlei sei vom 24. bis 28.12.2008 nicht
geöffnet gewesen. Die für die Leerung des Briefkastens
sowie die Öffnung und Verteilung der Eingangspost
zuständige Rechtsanwaltsfachangestellte B habe die Sendung am
29.12.2008 im Kanzleibriefkasten vorgefunden. Dem bearbeitenden
Rechtsanwalt habe B auf sofortige Nachfrage gesagt, der Brief sei
am 29.12.2008 eingegangen. Auf dem Briefumschlag fehle die Angabe
des Tags der Zustellung. Für den Beginn der Revisionsfrist
komme es auf den Tag an, an dem der Prozessbevollmächtigte das
zuzustellende Urteil in die Hand bekommen habe, also den
29.12.2008. Danach sei die Revision rechtzeitig eingelegt worden.
Hilfsweise sei Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu
gewähren; ein möglicher Fehler von B könne den
Klägern nicht zugerechnet werden.
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Zur Glaubhaftmachung ihres Vortrags haben
die Kläger einen Briefumschlag für eine förmliche
Zustellung mit einem Absenderstempel des FG übersandt und
beziehen sich im Übrigen auf Versicherungen an Eides statt
ihres bearbeitenden Prozessbevollmächtigten und B. Der
Briefumschlag enthält im Feld „zugestellt am“
keine Eintragung. Handschriftlich ist auf dem Umschlag vermerkt:
„Eingang am Montag 29.12.08 laut Frau B ... und Frau T
...“.
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Der vorlegende Senat hat Beweis erhoben
durch Vernehmung des Briefzustellers als Zeugen über die
Frage, zu welcher Tageszeit das Urteil des FG (am 24.12.2008) in
den Briefkasten der Prozessbevollmächtigten der Kläger
eingeworfen worden ist.
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III. Vorlagebeschluss des VIII.
Senats
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1. Die Vorlagefrage ist nach Auffassung des
VIII. Senats zu bejahen. Das Dokument sei dem Empfänger i.S.
des § 189 ZPO (hier i.V.m. § 53 Abs. 2 der
Finanzgerichtsordnung - FGO - ) bereits in dem Zeitpunkt
tatsächlich zugegangen, in dem nach dem gewöhnlichen
Geschehensablauf mit einer Entnahme des Schriftstücks aus dem
Briefkasten und der Kenntnisnahme gerechnet werden
könne.
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Für den Begriff des Zugangs i.S. des
§ 189 ZPO sei auf den allgemeinen Zugangsbegriff in § 130
Abs. 1 Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB)
zurückzugreifen. Da § 189 ZPO für unterschiedliche
Fallgruppen fehlerhafter und deswegen unwirksamer Zustellungen
Heilungsmöglichkeiten anbieten solle, sei die Vorschrift
fallgruppenbezogen auszulegen, nämlich zumindest einerseits
für die Fälle, in denen sich die formgerechte Zustellung
nicht nachweisen lasse, sowie andererseits für die Fälle,
in denen das Dokument unter Verletzung zwingender
Zustellungsvorschriften zugegangen sei. Der Zustellungsfiktion
könne nur der Regelungswille entnommen werden sicherzustellen,
dass dem Adressaten das Schriftstück ungeachtet etwaiger
Zustellungsmängel auch tatsächlich - in der vom
Zustellenden in den Verkehr gegebenen verkörperten Form -
zugänglich gemacht worden sei. Die Adressaten fehlerhaft
zugestellter Schriftstücke dürften nicht schlechter
gestellt werden als die Adressaten ordnungsgemäß
zugestellter Dokumente. Sie darüber hinaus gegenüber
Adressaten verfahrensfehlerfreier Ersatzzustellungen besser zu
stellen, sei nicht Regelungszweck des § 189 ZPO.
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Unter den Umständen des Streitfalls
seien die objektiv-rechtlichen Zwecke der Zustellungsvorschriften
höher als der Schutz des Adressaten zu bewerten. Für die
normative Bestimmung des Heilungszeitpunkts spreche vor allem, dass
nur sie dem objektiven Zustellungszweck zum Durchbruch verhelfe,
den Zeitpunkt der Zustellung auch im Fall der Heilung einer
zunächst fehlgeschlagenen Zustellung rechtssicher bestimmen zu
können. Der Zustellungsempfänger könne den durch das
Fehlen des Datumsvermerks hervorgerufenen Zweifel über das
Datum der Zustellung durch einen Anruf bei Gericht beseitigen;
dadurch seien seine Interessen ausreichend gewahrt.
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2. Der VIII. Senat hält die vorgelegte
Rechtsfrage für entscheidungserheblich.
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Nach seiner Meinung hat die Einlegung der
Sendung in den Briefkasten nicht zu einer nach § 180 Satz 2
ZPO wirksamen Ersatzzustellung geführt, weil das Datum der
Zustellung nicht auf dem Umschlag vermerkt und damit gegen die
Formvorschrift des § 180 Satz 3 ZPO verstoßen worden
sei. Die Missachtung dieser Formvorschrift führe zur
Unwirksamkeit der Ersatzzustellung. Der Zustellungsmangel
könne nur nach § 189 ZPO geheilt worden sein. Danach
gelte das Dokument in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem es dem
Empfänger tatsächlich zugegangen sei.
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Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei
das zuzustellende FG-Urteil am Vormittag des 24.12.2008 in den
Briefkasten der Bevollmächtigten der Kläger eingeworfen
worden. Der Senat vertrete im Anschluss an die Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofs (BGH) zu Zustellungen an auf einen Werktag
fallenden Silvestertagen die Auffassung, dass am 24. Dezember
zumindest bis zum Mittag mit einer Kenntnisnahme von
Geschäftspost gerechnet werden könne.
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Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen
Versäumung der Revisionseinlegungsfrist sei nicht zu
gewähren. Die Kläger hätten die Frist nicht ohne
Verschulden versäumt, denn sie müssten sich ein
Verschulden ihres Bevollmächtigten zurechnen lassen. Im Fall
von Zustellungen von Amts wegen nach §§ 166 ff. ZPO
müsse der Prozessbevollmächtigte die Fristberechnung
anhand des auf dem Zustellungskuvert angebrachten
Zustellungsvermerks des Postbediensteten selbst nachprüfen.
Fehle der Datumsvermerk, so müsse sich der
Prozessbevollmächtigte auf andere Weise - z.B. durch
Rückfrage beim FG - über das Zustellungsdatum erkundigen.
Dies sei hier unterblieben.
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3. Wegen der Begründung der Vorlage im
Einzelnen wird auf den Vorlagebeschluss in BFHE 241, 107, BStBl II
2013, 823 = SIS 13 22 49 Bezug genommen.
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IV. Rechtsgrund der Vorlage
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Der VIII. Senat stützt die Vorlage
sowohl auf § 11 Abs. 2 FGO als auch auf Abs. 4 der
Vorschrift.
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Die Klärung der vorgelegten
Rechtsfrage habe grundsätzliche Bedeutung. Wegen der
unterschiedlichen Auffassungen der mit der Rechtsfrage bisher
befassten BFH-Senate I, II, VI und VIII sowie den verschiedenen
Ansichten in der Literatur sei eine Entscheidung durch den
Großen Senat erforderlich, um eine einheitliche
Rechtsauslegung für die Zukunft zu gewährleisten.
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Mit seiner Auslegung des Merkmals
„tatsächlich zugegangen“ des § 189 ZPO weiche
der vorlegende Senat von dem Beschluss des VI. Senats vom 19.9.2007
VI B 151/06 (BFH/NV 2007, 2332 = SIS 08 01 58) ab. Der VI. Senat
habe mitgeteilt, er stimme einer Abweichung von seiner
Rechtsauffassung nicht zu.
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B. I. Zulässigkeit der Vorlage
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Die Vorlage des VIII. Senats ist
zulässig.
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1. Die Zulässigkeit der Vorlage ergibt
sich bereits aus § 11 Abs. 2 und 3 FGO. Der Große Senat
entscheidet nach § 11 Abs. 2 FGO, wenn ein Senat des BFH in
einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen Senats oder
des Großen Senats abweichen will. Die Auffassung des
vorlegenden Senats weicht von derjenigen des VI. Senats des BFH in
BFH/NV 2007, 2332 = SIS 08 01 58 ab. Dieser Beschluss kann
Gegenstand einer Divergenz i.S. des § 11 Abs. 2 FGO sein.
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Der von § 11 Abs. 3 FGO vorausgesetzte
Begriff der „Entscheidung“ umfasst grundsätzlich
auch Beschlüsse (BFH-Beschlüsse vom 28.11.1977 GrS 4/77,
BFHE 124, 130, BStBl II 1978, 229 = SIS 78 01 29, unter C.I.1., und
vom 10.3.1969 GrS 4/68, BFHE 95, 366, BStBl II 1969, 435 = SIS 69 02 74, unter 1.). Eine Abweichung i.S. des § 11 Abs. 2 FGO
setzt weiter voraus, dass mit dem Beschluss das seinerzeitige
Verfahren abgeschlossen und die nach Meinung des anfragenden Senats
nun abweichend zu beantwortende Rechtsfrage endgültig
entschieden wurde (vgl. Brandis in Tipke/Kruse, Abgabenordnung,
Finanzgerichtsordnung, § 11 FGO Rz 4; Müller-Horn in
Beermann/Gosch, FGO § 11 Rz 8; Gräber/Ruban,
Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 11 Rz 11; Sunder-Plassmann
in Hübschmann/Hepp/Spitaler - HHSp -, § 11 FGO Rz 29).
Diese Voraussetzungen können auch erfüllt sein, wenn mit
dem Beschluss eine Nichtzulassungsbeschwerde zurückgewiesen
wird und die abschließende Entscheidung über die
Rechtsfrage die Entscheidung trägt.
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Mit dem Beschluss in BFH/NV 2007, 2332 = SIS 08 01 58 hat der VI. Senat eine Nichtzulassungsbeschwerde als
unbegründet zurückgewiesen, nachdem er sie zuvor als
zulässig, insbesondere fristgerecht eingelegt beurteilt hat.
Die Entscheidung über die Begründetheit der
Nichtzulassungsbeschwerde setzt deren Zulässigkeit voraus und
beinhaltet deshalb eine abschließende Beantwortung der
für die Wahrung der Einlegungsfrist bedeutsamen Rechtsfragen.
Der Beschluss des VI. Senats in BFH/NV 2007, 2332 = SIS 08 01 58
ist danach eine Entscheidung, von der i.S. des § 11 Abs. 2 FGO
in Bezug auf Rechtsfragen abgewichen werden kann, die die
Zulässigkeit der Beschwerde betreffen.
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In Bezug auf eine solche Rechtsfrage,
nämlich die Frage, wann ein Dokument i.S. des § 189 ZPO
als bekanntgegeben gilt, weicht die Auffassung des vorlegenden
Senats von dem Beschluss des VI. Senats des BFH in BFH/NV 2007,
2332 = SIS 08 01 58 ab.
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Der VI. Senat hat auf Anfrage des vorlegenden
Senats mit Beschluss vom 13.11.2012 VI ER-S 3/12 der Abweichung
nicht zugestimmt.
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2. Die Zulässigkeit der Vorlage ergibt
sich darüber hinaus auch aus § 11 Abs. 4 FGO. Eine
Vorlage, die nach Durchführung des Anfrageverfahrens auf
Divergenz gestützt wird, kann zusätzlich auch auf den
Anfragegrund der grundsätzlichen Bedeutung gestützt
werden.
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Die vorgelegte Rechtsfrage war bereits
Gegenstand von Entscheidungen mehrerer Senate und kann in
Entscheidungen jedes Senats entscheidungserheblich zu beantworten
sein. Der vorlegende Senat hat der Rechtsfrage deshalb zutreffend
grundsätzliche Bedeutung beigemessen.
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II. Entscheidungserheblichkeit der Vorlage
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Die vorgelegte Rechtsfrage ist für die
Entscheidung des VIII. Senats erheblich. Bei Verneinung der
Vorlagefrage entsprechend der Rechtsauffassung des VI. Senats
wäre die Revision der Kläger zulässig, denn der
Zustellungsmangel wäre dann am 29.12.2008 dadurch geheilt
worden, dass der Bevollmächtigte der Kläger die
Ausfertigung des FG-Urteils „in den Händen hielt“.
Die Frist zur Einlegung der Revision wäre bei Eingang der
Revisionsschrift am 27.1.2009 noch nicht abgelaufen gewesen. Der
vorlegende Senat ginge dann ausweislich des Vorlagebeschlusses von
der Zulässigkeit der Revision aus, so dass die Revision nicht
nach § 126 Abs. 1 FGO durch Beschluss zu verwerfen wäre.
Es müsste vielmehr durch Urteil über die
Begründetheit der Revision entschieden werden.
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III. Entscheidung des Großen Senats
über die vorgelegte Rechtsfrage
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1. Rechtsgrundlagen
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Nach § 104 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 FGO
ist ein aufgrund mündlicher Verhandlung verkündetes
Urteil den Beteiligten zuzustellen. Zugestellt wird von Amts wegen
nach den Vorschriften der Zivilprozessordnung (§ 53 Abs. 2
FGO).
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Zustellung ist nach § 166 Abs. 1 ZPO die
Bekanntgabe eines Dokuments an eine Person in der von §§
166 ff. ZPO bestimmten Form. Ein Zustellungsauftrag kann der Post
erteilt werden, indem dieser das zuzustellende Schriftstück in
einem verschlossenen Umschlag sowie ein vorbereitetes Formular
einer Zustellungsurkunde übergeben wird (§ 176 Abs. 1
ZPO). Für die Ausführung der Zustellung gelten
§§ 177 bis 181 ZPO (§ 176 Abs. 2 ZPO). Das
Schriftstück kann der Person, der zugestellt werden soll, an
jedem Ort übergeben werden, an dem sie angetroffen wird
(§ 177 ZPO). Wird die Person, der zugestellt werden soll, in
ihrer Wohnung, in dem Geschäftsraum oder in einer
Gemeinschaftseinrichtung, in der sie wohnt, nicht angetroffen, und
kann das Schriftstück auch nicht einer der in § 178 Abs.
1 Nr. 1 oder Nr. 2 ZPO genannten Personen übergeben werden,
kann nach § 180 Satz 1 ZPO das Schriftstück in einen zu
der Wohnung oder dem Geschäftsraum gehörenden Briefkasten
oder in eine ähnliche Vorrichtung, die der Adressat für
den Postempfang eingerichtet hat und die in der allgemein
üblichen Art für eine sichere Aufbewahrung geeignet ist,
eingelegt werden. Mit der Einlegung gilt das Schriftstück als
zugestellt (§ 180 Satz 2 ZPO). Nach § 180 Satz 3 ZPO
vermerkt der Zusteller auf dem Umschlag des zuzustellenden
Schriftstücks das Datum der Zustellung. Zum Nachweis der
Zustellung ist eine Urkunde auf dem hierfür vorgesehenen
Formular anzufertigen (§ 182 Abs. 1 Satz 1 ZPO), die u.a. die
Bemerkung enthalten muss, dass der Tag der Zustellung auf dem
Umschlag, der das zuzustellende Schriftstück enthält,
vermerkt ist (§ 182 Abs. 2 Nr. 6 ZPO).
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Zustellungsmängel werden unter den
Voraussetzungen des § 189 ZPO geheilt. Die Vorschrift
lautet:
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„Lässt sich die formgerechte
Zustellung eines Dokuments nicht nachweisen oder ist das Dokument
unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen, so
gilt es in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem das Dokument der
Person, an die die Zustellung dem Gesetz gemäß gerichtet
war oder gerichtet werden konnte, tatsächlich zugegangen
ist.“
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2. Rechtsentwicklung
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Die Vorschriften über die Zustellung im
Gerichtsverfahren sind durch das Zustellungsreformgesetz (ZustRG)
vom 25.6.2001 (BGBl I 2001, 1206) novelliert worden. Die
Neuregelungen sind am 1.7.2002 in Kraft getreten (Art. 4
ZustRG).
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Bis zum Inkrafttreten des
Zustellungsreformgesetzes hatte § 53 Abs. 2 FGO a.F. bestimmt,
dass Zustellungen von Amts wegen nach den Vorschriften des
Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) vorzunehmen waren. Für
Zustellungen durch die Post verwies § 3 Abs. 3 VwZG auf
§§ 180 bis 186 und 195 Abs. 2 ZPO damaliger Fassung (ZPO
a.F.). Eine Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten war
dort nicht vorgesehen. Zur Heilung von Zustellungsmängeln
bestimmte § 9 Abs. 1 VwZG für den Fall, dass sich die
formgerechte Zustellung des Schriftstücks nicht nachweisen
ließ oder das Schriftstück unter Verletzung zwingender
Zustellungsvorschriften zugegangen war, dass dieses als in dem
Zeitpunkt zugestellt gelte, in dem der Empfangsberechtigte es
nachweislich erhalten habe. Dies galt nach § 9 Abs. 2 VwZG
aber nicht, wenn mit der Zustellung eine Rechtsmittelfrist begann.
In ähnlicher Weise war auch für nach der
Zivilprozessordnung zu bewirkende Zustellungen eine Heilung nur
möglich (§ 187 Satz 1 ZPO a.F.), soweit nicht durch die
Zustellung der Lauf einer Notfrist in Gang gesetzt werden sollte
(§ 187 Satz 2 ZPO a.F.).
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Das Zustellungsreformgesetz verfolgte das
Ziel, das Zustellungsrecht zu vereinfachen. Insbesondere sollte
„die kostenaufwendige und für den
Zustellungsadressaten oftmals umständliche beurkundete
Zustellung durch Niederlegung soweit wie vertretbar
vermieden“ werden (Begründung des
Regierungsentwurfs, BTDrucks 14/4554, 13). Dies sollte u.a. durch
Einführung der beurkundeten Ersatzzustellung durch Einlegen
des Schriftstücks in den Briefkasten sowie durch eine
erweiterte Heilung von Zustellungsmängeln erreicht werden.
Zustellungszweck sei es, dem Adressaten angemessene Gelegenheit zur
Kenntnisnahme eines Schriftstücks zu verschaffen und den
Zeitpunkt dieser Bekanntgabe zu dokumentieren. Lasse sich die
formgerechte Zustellung nicht nachweisen oder seien zwingende
Zustellungsvorschriften verletzt worden, gelte ein
Schriftstück in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem es der
Adressat oder ein Empfangsberechtigter erhalten habe. Das Gericht
prüfe in diesen Fällen in freier Beweiswürdigung des
Sachverhalts, ob der Zustellungszweck erreicht und wann das
geschehen sei. Das gelte auch dann, wenn die Zustellung eine
Notfrist in Gang setze (BTDrucks 14/4554, 14). In der
Einzelbegründung zu der Neuregelung der Heilung in § 189
ZPO heißt es (BTDrucks 14/4554, 24 f.):
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„Nach dem Vorbild des § 9 Abs. 1
[VwZG] soll deshalb ein Schriftstück als zu dem Zeitpunkt
zugestellt gelten, in dem es der Zustellungsadressat oder ein
Empfangsberechtigter nachweislich erhalten hat. Unter diesen
Voraussetzungen ist ein Zustellungsmangel auch dann geheilt, wenn
durch die Zustellung der Lauf einer Notfrist in Gang gesetzt werden
soll. Wenn eine fehlerhafte Zustellung mit dem Zeitpunkt des
tatsächlichen Zugangs an den Adressaten oder einen
Empfangsberechtigten wirksam wird, muss das für jede
Zustellung gelten. Treten Fehler auf, so darf deren Beseitigung
nicht zu Lasten einer Partei gehen, wenn feststeht, dass das
zuzustellende Schriftstück der Person tatsächlich
zugegangen ist, an die es gerichtet war oder dem Gesetz
gemäß gerichtet werden konnte.“
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Die vorgeschlagenen neuen §§ 181 und
189 ZPO wurden im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens zum
Zustellungsreformgesetz nicht geändert und gingen deshalb in
der von der Bundesregierung vorgeschlagenen Fassung in den
Gesetzesbeschluss ein.
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3. Rechtsprechung
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a) Vor Ergehen des Vorlagebeschlusses war der
BFH - soweit anhand der veröffentlichten Entscheidungen
ersichtlich - in vier Fällen mit der Auslegung des § 189
ZPO befasst.
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aa) Im Fall des Beschlusses vom 19.1.2005 II B
38/04 (BFH/NV 2005, 900 = SIS 05 22 28) war ein Urteil des FG durch
Einlegen in den Briefkasten am 13.3.2004, einem Samstag, zugestellt
worden, ohne dass der Zusteller das Datum der Zustellung auf dem
Briefumschlag vermerkt hatte. Die Begründung der
Nichtzulassungsbeschwerde war am 14.5.2004 beim BFH eingegangen.
Der BFH kam zu dem Ergebnis, dass die Frist von zwei Monaten
gemäß § 116 Abs. 3 Satz 1 FGO noch nicht abgelaufen
gewesen sei, und entschied, die Beschwerdebegründung sei zwar
rechtzeitig eingegangen, sie entspreche aber nicht den
Darlegungsanforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO. Weil der
Prozessbevollmächtigte erklärt hatte, dass in seiner
Kanzlei an Samstagen üblicherweise nicht gearbeitet werde, und
das Urteil in der Kanzlei mit dem Eingangsstempel vom 15.3.2004
(Montag) versehen worden war, ging der II. Senat davon aus, dass
das Urteil dem Prozessbevollmächtigten am 15.3.2004
tatsächlich zugegangen sei. Dieser Zeitpunkt - nicht der
Zeitpunkt des Einlegens in den Briefkasten der Kanzlei des
Prozessbevollmächtigten des Klägers (13.3.2004) - sei
für die Zustellung des FG-Urteils maßgebend (§ 189
ZPO).
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bb) Dem zur Anrufung des Großen Senats
wegen Divergenz führenden Beschluss des VI. Senats in BFH/NV
2007, 2332 = SIS 08 01 58 liegt die Auffassung zugrunde, für
den Zeitpunkt des tatsächlichen Zugangs i.S. des § 189
ZPO komme es darauf an, dass das zuzustellende Schriftstück
derart in die Hände des Zustellungsadressaten gelangt sei,
dass dieser es behalten und von seinem Inhalt Kenntnis nehmen
könne. Im dortigen Fall war das angefochtene FG-Urteil
ausweislich der Zustellungsurkunde am 17.11.2006 (Freitag) durch
Einlegen in den Briefkasten des Klägers zugestellt worden. Auf
dem Briefumschlag befand sich kein Vermerk über das Datum der
Zustellung. Die Beschwerde war am 21.12.2006 eingelegt worden. Nach
eigenen Angaben hatte der Kläger am 23.11.2006 Kenntnis von
der Zustellung erhalten. Diesen Tag betrachtete der VI. Senat als
Zeitpunkt des tatsächlichen Zugangs i.S. des § 189
ZPO.
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cc) Der IX. Senat hat mit Beschluss vom
9.3.2009 IX B 120/08 (BFH/NV 2009, 964 = SIS 09 15 91) den
rechtzeitigen Eingang einer Nichtzulassungsbeschwerde unter Hinweis
auf § 189 ZPO bejaht. Von den näheren Umständen der
Zustellung ist dem Beschluss nur zu entnehmen, dass durch Einlegen
in den Briefkasten zugestellt wurde, die Zustellungsurkunde aber in
Folge des Fehlens einer Unterschrift unvollständig war. Der
IX. Senat führte aus, der Zustellungsmangel führe nicht
zur Unwirksamkeit der Zustellung, sondern das FG-Urteil gelte nach
§ 189 ZPO in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem es der
betreffenden Person tatsächlich zugegangen sei. Das sei hier
Montag, der 26.5.2008, gewesen. Aufgrund welcher Umstände
dieser Tag als Tag des Zugangs angesehen wurde, ist aus dem
Beschluss nicht ersichtlich.
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dd) In seinem Urteil vom 21.9.2011 I R 50/10
(BFHE 235, 255, BStBl II 2012, 197 = SIS 11 39 39) hat der I. Senat
der Revision gegen ein Urteil stattgegeben, das nach Angaben des FG
am 29.5.2010 (Samstag) durch Einlegen in den Briefkasten des
Prozessbevollmächtigten zugestellt und gegen das Revision am
30.6.2010 eingelegt worden war. Auf dem Umschlag fehlte der Vermerk
über das Datum der Zustellung. Der I. Senat hielt die
Revisionsfrist nicht für versäumt, weil er den Angaben
des Prozessbevollmächtigten folgend davon ausging, diesem sei
das Schriftstück mit Öffnen der Post am Montag, dem
31.5.2010, tatsächlich zugegangen. Unter Bezugnahme auf den
Beschluss des VI. Senats in BFH/NV 2007, 2332 = SIS 08 01 58
vertrat der I. Senat die Auffassung, der tatsächliche Zugang
i.S. des § 189 ZPO setze voraus, dass das zuzustellende
Schriftstück derart in die Hände des
Zustellungsadressaten gelangt sei, dass dieser es behalten und von
seinem Inhalt Kenntnis nehmen könne.
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b) Im Übrigen war die Frage, zu welchem
Zeitpunkt ein nach § 180 ZPO durch Einlegen in den Briefkasten
des Adressaten unter Verletzung von Formvorschriften zugestelltes
Dokument i.S. des § 189 ZPO dem Adressaten tatsächlich
zugegangen ist, - soweit ersichtlich - nur in einem Urteil des
Landessozialgerichts (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen
(Urteil vom 17.1.2013 L 9 AL 173/11) von entscheidungserheblicher
Bedeutung. In diesem Urteil heißt es, eine Heilung
gemäß § 189 ZPO setze die Feststellung des
Zeitpunktes voraus, in dem das Schriftstück (ggf.
spätestens) in die Hände des Adressaten gelangt sei. Das
LSG bezog sich dabei auf einen Beschluss des BGH (Beschluss vom
21.12.1983 IVb ZB 29/82, NJW 1984, 926), der allerdings die
Auslegung des § 187 ZPO a.F. betrifft.
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4. Schrifttum
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a) Im Schrifttum wird überwiegend in
Anlehnung an die Formel des BGH-Beschlusses in NJW 1984, 926
(ebenso BGH-Urteile vom 21.3.2001 VIII ZR 244/00, HFR 2001, 1200;
vom 22.11.1988 VI ZR 226/87, NJW 1989, 1154) die Auffassung
vertreten, es müsse eine zuverlässige Kenntnis von dem
zuzustellenden Schriftstück vermittelt werden, was im
Allgemeinen dann geschehen sei, wenn der Adressat der Zustellung
trotz Verletzung der Zustellungsvorschriften das zuzustellende
Schriftstück „in die Hand bekommen“ habe
(MünchKommZPO/Häublein, 4. Aufl., § 189 Rz 8;
Prütting/Gehrlein, ZPO, 5. Aufl., § 189 Rz 4;
Stein/Jonas/Roth, ZPO, 23. Aufl., § 189 Rz 7;
Hüßtege in Thomas/Putzo, Zivilprozessordnung, 35. Aufl.,
§ 189 Rz 8; Wittschier in Musielak, ZPO, 11. Aufl., § 189
Rz 3; Zöller/Stöber, ZPO, 30. Aufl., § 189 Rz 4;
ebenso zu § 8 VwZG: Kruse in Tipke/Kruse, a.a.O., § 8
VwZG Rz 1; Schwarz in HHSp, § 8 VwZG Rz 5).
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Rohe (Wieczorek/Schütze/Rohe, 4. Aufl.,
§ 189 ZPO Rz 26) weist darauf hin, dass § 189 ZPO
gegenüber dem früheren § 187 ZPO a.F. präziser
gefasst worden sei, indem der
„tatsächliche“ Zugang beim Adressaten
verlangt werde. Dies setze abweichend von den Zugangsregeln des
bürgerlichen Rechts die gegenständliche Übernahme
des Schriftstücks durch den Adressaten selbst voraus. Der
bloße Eintritt in den Machtbereich genüge dagegen nicht.
Eine Heilung sei nur gerechtfertigt, wenn das Recht des Adressaten
auf rechtliches Gehör tatsächlich und nicht nur
potenziell gewahrt werde.
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Nach Zimmermann (ZPO, 8. Aufl., § 189 Rz
2) setzt der Zugang voraus, dass das Schriftstück
gegenständlich in die Hände des Adressaten gelangt ist.
Das Datum des Zugangs sei notfalls durch Beweisaufnahme zu
ermitteln. In der Regel begnüge man sich mit dem Datum, das
der Empfänger einräume (Hinweis auf Zustellung gegen
Empfangsbekenntnis nach § 174 ZPO).
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Brandis (in Tipke/Kruse, a.a.O., § 53 FGO
Rz 31) vertritt die Auffassung, der tatsächliche, nicht der
vermutete Zugang heile den Zustellungsfehler. Die Frist beginne
dann im Zeitpunkt dieser „fiktiven
Zustellung“.
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b) Der Vorlagebeschluss des VIII. Senats (BFHE
241, 107, BStBl II 2013, 823 = SIS 13 22 49) ist im Schrifttum
teils zustimmend, teils ablehnend aufgenommen worden.
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Steinhauff (juris PraxisReport Steuerrecht
45/2013 Anm. 6) hält die im Vorlagebeschluss vertretene
Auffassung für zutreffend. Wenn auf den Zeitpunkt abgestellt
werde, in dem der Empfänger das Schriftstück
tatsächlich in die Hände genommen habe, sei ein
angemessener Ausgleich zwischen den Interessen des Zustellenden und
des Zustellungsempfängers nicht gewährleistet. Der
Empfänger habe es in der Hand, den Zeitpunkt der Heilung
hinauszuzögern, weil nur er über diesen Auskunft erteilen
könne. Dies sei nicht damit zu vereinbaren, dass die
Zustellungsvorschriften objektiv dazu dienten, den Zeitpunkt
für alle Beteiligten gleichermaßen rechtssicher zu
bestimmen. Marfels (Steuerberaterwoche 2013, 842) hält den
Vorlagebeschluss ebenfalls für überzeugend
begründet.
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Kritisch wird der Vorlagebeschluss von
Carlé (DStZ 2013, 652) besprochen. Der Beschluss
berücksichtige nicht, dass die Zugangsfiktion abweichend vom
sonstigen Abgabenrecht auf die tatsächliche Kenntnisnahme
abstelle und nicht auf den dem gewöhnlichen Gang der Dinge
entsprechenden unterstellten Sachverhalt.
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IV. Auffassung des Großen Senats
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1. Als Vorfrage zur Vorlage hat der VIII.
Senat § 180 Satz 3 ZPO, wonach vom Zusteller auf dem Umschlag
des zuzustellenden Schriftstücks das Datum der Zustellung zu
vermerken ist, als eine der nach § 189 ZPO heilbaren
zwingenden Zustellungsvorschriften beurteilt. An diese
Rechtsauffassung ist der Große Senat gebunden, er teilt sie
auch (ebenso BFH-Urteil in BFHE 235, 255, BStBl II 2012, 197 = SIS 11 39 39, Rz 9, m.w.N.).
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Die Entscheidung des Großen Senats
betrifft allein die Frage, zu welchem Zeitpunkt das Dokument als
zugestellt gilt. Dass die Prozessbevollmächtigten der
Kläger i.S. des § 189 ZPO Kenntnis von dem zuzustellenden
Dokument durch Einlegen in den zu ihren Büroräumen
gehörenden Briefkasten erhalten haben, ist unstreitig.
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2. Ein Dokument ist i.S. des § 189 ZPO in
dem Zeitpunkt tatsächlich zugegangen, in dem der Adressat das
Dokument „in den Händen hält“. Der
Große Senat teilt nicht die Auffassung des vorlegenden
Senats, es sei auf den Zeitpunkt abzustellen, in dem eine
Willenserklärung i.S. des § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB als
zugegangen gilt.
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a) Dem Wortlaut der Regelung lässt sich
entnehmen, dass der Zugang alleine für die Bestimmung des
Zeitpunkts der Zustellung nicht ausreichen soll. Dass der
Gesetzgeber das Adjektiv „tatsächlich“
verwendet hat, spricht dafür, dass eine qualifizierte Form des
Zugangs gemeint ist. Damit unterscheidet sich § 189 ZPO
tatbestandlich von § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB, denn dort wird
lediglich der Zugang der Willenserklärung gefordert. Dies
spricht dagegen, die für den Zugang von
Willenserklärungen geltenden Grundsätze bei der Auslegung
des § 189 ZPO zu übernehmen.
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b) Betrachtet man die Entstehungsgeschichte
des § 189 ZPO, muss der Begriff des
„tatsächlichen“ Zugangs im Zusammenhang mit
den anderen Regelungen zur Reform des Zustellungsrechts im
Zustellungsreformgesetz ausgelegt werden. § 189 ZPO
unterscheidet sich von der Vorgängerregelung in § 187 ZPO
a.F. insbesondere dadurch, dass eine Heilung auch dann möglich
ist, wenn durch die Zustellung eine Notfrist in Gang gesetzt werden
soll. § 187 Satz 2 ZPO a.F. schloss eine Heilung in einem
solchen Fall ausdrücklich aus. Die Ausweitung der Heilung von
Zustellungen nach der Zivilprozessordnung ist in gleicher Weise
auch für Zustellungen nach dem Verwaltungszustellungsgesetz
geregelt worden. Während § 9 Abs. 2 VwZG a.F. eine
Heilung für den Fall ausschloss, dass mit der Zustellung eine
Klage-, Berufungs-, Revisions- oder
Rechtsmittelbegründungsfrist beginnt, kann nach § 8 VwZG
auch eine fristauslösende Zustellung geheilt werden.
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Sowohl in § 189 ZPO als auch in § 8
VwZG ist abweichend von den Vorgängerregelungen jetzt der
Zeitpunkt entscheidend, in dem das Dokument dem Adressaten
„tatsächlich zugegangen“ ist. Nach §
187 Satz 1 ZPO a.F. war auf den Zeitpunkt abzustellen, in dem das
Schriftstück „zugegangen“ war, nach §
9 Abs. 1 VwZG a.F. auf den Zeitpunkt, in dem der
Empfangsberechtigte das Dokument „nachweislich
erhalten“ hatte. Beide Regelungen wurden in
ständiger Rechtsprechung dahingehend ausgelegt, dass der
Empfänger das Schriftstück „in den Händen
halten“ musste (vgl. z.B. BGH-Beschluss in NJW 1984, 926,
und BGH-Urteil in HFR 2001, 1200; Urteile des
Bundesverwaltungsgerichts vom 18.12.1996 6 C 6/95, BVerwGE 104, 1,
und vom 18.4.1997 8 C 43/95, BVerwGE 104, 301). Dafür, dass
der Gesetzgeber bei einer Ausweitung der Heilung auf
fristauslösende Zustellungen von diesen Anforderungen an den
Zugang abweichen und sie herabsetzen wollte, gibt es keinen
Anhaltspunkt. Bei der Neuordnung der Zustellungsvorschriften hat
der Gesetzgeber daran festgehalten, dass eine Zustellung in ihrer
Grundform durch körperliche Übergabe stattfindet (vgl.
§§ 173, 177 ZPO). In dieses Konzept fügt sich danach
auch weiterhin ein, dass die Heilung eines Formfehlers bei einer
anderen Zustellungsart das
„In-den-Händen-Halten“ des Dokuments
erfordert. Deshalb muss die jetzt gewählte Formulierung in
§ 189 ZPO und in § 8 VwZG zumindest als klarstellende
Festschreibung der bisherigen Zugangsanforderungen, wenn nicht
sogar im Hinblick auf die verschärften Rechtsfolgen als
weitere Erhöhung der Anforderungen an einen Zugang verstanden
werden.
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c) Eine teleologische Auslegung des § 189
ZPO muss die mit der Reform des Zustellungsrechts verfolgten Ziele
berücksichtigen. Die Ausweitung der Heilungsmöglichkeit
auf fristauslösende Zustellungen ist aus der Sicht eines
Zustellungsadressaten eine deutliche Verschärfung. Vor diesem
Hintergrund ist die gleichzeitige Aufnahme des Merkmals des
„tatsächlichen“ Zugangs als Begrenzung der
Wirkungen einer Heilung von Zustellungsfehlern zu verstehen. Die
unter Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften
ausgeführte Zustellung soll eine Frist erst dann
auslösen, wenn der Zustellungsempfänger
„tatsächlich“ und nicht nur potenziell
Kenntnis von dem Dokument nehmen kann (Wieczorek/Schütze/Rohe,
a.a.O., § 189 Rz 26). Das Merkmal
„tatsächlich“ ist danach als das
Gegenstück zu „fiktiv“ zu verstehen.
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Für diese Auslegung spricht auch das
rechtsstaatliche Gebot einer folgerichtigen Ausgestaltung des
Verfahrensrechts. Demjenigen, der Adressat einer hoheitlich
betriebenen und unter Verletzung wesentlicher Formvorschriften
ausgeführten Zustellung ist, dürfen keine Nachteile aus
der Heilung im Vergleich zu einer ordnungsgemäßen
Zustellung entstehen. Soweit die Heilung eine Frist auslöst,
muss deshalb sichergestellt sein, dass die Frist auch in vollem
Umfang genutzt werden kann.
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d) Eine an den Rechten des Adressaten
orientierte Auslegung des § 189 ZPO ist insbesondere in Bezug
auf die Heilung einer Ersatzzustellung nach § 180 ZPO geboten.
Diese Form der Ersatzzustellung soll der Vereinfachung des
Zustellungsverfahrens dienen (s. dazu unter B.III.2.) und hat den
Umfang der formellen Anforderungen an eine Zustellung im Vergleich
zur früheren Rechtslage weiter abgesenkt. Während die
Zustellung in ihrer ursprünglichen Gestalt als Übergabe
des Dokuments an den Adressaten die Bestimmung eines sicheren
Zeitpunkts der möglichen Kenntnisnahme gestattet, kann dieser
Zeitpunkt im Fall der Ersatzzustellung nicht mehr konkret bestimmt
werden. Die Zustellungsfiktion nach § 180 Satz 2 ZPO wird
deswegen durch eine Fiktion auch des Zustellungszeitpunktes
ergänzt, die an objektive Kriterien anknüpft. Je
zuverlässiger diese Kriterien festgestellt werden können,
umso eher kann angenommen werden, dass die Fiktion der
Realität nahe kommt.
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Mit der Ersatzzustellung durch Einlegen in den
Briefkasten knüpft das Gesetz im Wesentlichen an Kriterien an,
die nicht mit hoher Zuverlässigkeit festgestellt werden
können, weil ihre Verwirklichung nicht beobachtet werden kann
und auch keine Amtsträger tätig werden. Macht man die
Fiktion des Zugangs von derartigen Kriterien abhängig
(kritisch etwa Meissner/Schenk in Schoch/Schneider/Bier, VwGO
§ 56 Rz 11), verliert die fiktive Bestimmung des
Zugangszeitpunkts ihre Grundlage jedenfalls dann, wenn auch nur
eines dieser Kriterien infolge eines Zustellungsfehlers
entfällt.
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Entgegen der Auffassung des vorlegenden Senats
bedeutet dies keine Besserstellung von Adressaten fehlerhafter
Zustellungen gegenüber Adressaten ordnungsgemäß
ausgeführter Zustellungen. Denn die Verwirklichung der
Anknüpfungskriterien für die Fiktion liegt nicht im
Einflussbereich des Adressaten. Vielmehr kann nur anhand des von
Dritten (Zusteller) verwirklichten Anknüpfungskriteriums eine
Zugangsfiktion begründet werden, nicht aber ohne dieses
Kriterium.
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74
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e) Werden bei Ersatzzustellung durch Einlegen
in den Briefkasten auf dem Umschlag (§ 180 Satz 3 ZPO) und auf
der Zustellungsurkunde (§ 182 Abs. 2 Nr. 7 ZPO) nicht
identische Datumsangaben angebracht, entfällt nach den
vorstehenden Überlegungen das Anknüpfungskriterium
für den fiktiven Zeitpunkt der Zustellung. Der Zeitpunkt kann
dann nur in Anlehnung an den Zeitpunkt der realen Kenntnisnahme
bestimmt werden. Dieser wird sich häufig nicht sicher
feststellen lassen, so dass im Zweifel auf den Zeitpunkt
abzustellen ist, den der Adressat selbst als Zugangszeitpunkt
angibt.
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f) Soweit der vorlegende Senat
„objektiv-rechtlichen Zwecken der
Zustellungsvorschriften“ Vorrang vor dem Schutz des
Adressaten einräumt, folgt der Große Senat dem nicht.
Objektiver Zustellungszweck soll danach sein, „den
Zeitpunkt der Zustellung auch im Fall der Heilung einer
zunächst fehlgeschlagenen Zustellung rechtssicher bestimmen zu
können“. Dieser Zweckbestimmung mag für den
Fall der ordnungsgemäß ausgeführten Zustellung zu
folgen sein. Bei einer fehlerhaften Zustellung wird dieses Ziel
aber gerade verfehlt, so dass zu seiner Erreichung an sich eine
erneute und nun ordnungsgemäße Zustellung erforderlich
wäre. Wenn das Gesetz aus Vereinfachungsgründen eine
Heilung von Zustellungsmängeln vorsieht, stellt es den Zweck
der Zustellung, dem Empfänger die Kenntnis vom Inhalt eines
Dokuments zu ermöglichen, in den Vordergrund. Die
rechtssichere Bestimmung des Zeitpunkts der Zustellung tritt
dahinter zurück. Sie kann dann auch keinen Vorrang vor den
Regelungen des Zustellungsrechts haben, die den Empfänger
schützen, insbesondere die rechtssichere Bestimmung der ihm
gegenüber in Gang gesetzten Frist ermöglichen sollen
(vgl. MünchKommZPO/Häublein, a.a.O., § 180 Rz 7
i.V.m. § 181 Rz 12; a.A. Zöller/Stöber, a.a.O.,
§ 189 Rz 17).
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Keinen Vorrang können auch die Interessen
des Zustellenden haben. Das Risiko einer misslungenen Zustellung
hat derjenige zu tragen, der mit der Zustellung fristgebundene
Rechtsfolgen auslösen will. Dies war schon nach bisheriger
Rechtslage so, als eine Heilung bei fristauslösenden
Zustellungen nicht möglich war. Es ist nicht ersichtlich, dass
die Vereinfachung des Zustellungsrechts Änderungen an dieser
Risikoverteilung mit sich bringen sollte. Soweit in der
Begründung des Gesetzentwurfs das Interesse der zustellenden
Partei in den Vordergrund gerückt wird (BTDrucks 14/4554, 24
f.), betrifft dies nur den Zugang des Dokuments selbst, nicht aber
den Zeitpunkt des Zugangs.
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C. Der Große Senat beantwortet die ihm
vorgelegte Frage wie folgt:
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Verstößt eine Ersatzzustellung
durch Einlegen in den Briefkasten gegen zwingende
Zustellungsvorschriften, weil der Zusteller entgegen § 180
Satz 3 ZPO auf dem Umschlag des zuzustellenden Dokuments das Datum
der Zustellung nicht vermerkt hat, ist das zuzustellende Dokument
i.S. des § 189 ZPO in dem Zeitpunkt dem Empfänger
tatsächlich zugegangen, in dem er das Dokument in die Hand
bekommt.
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