Es wird festgestellt, dass die Revision in
zulässiger Weise erhoben ist.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Endurteil
vorbehalten.
2
|
Die Revision der Kläger ging am
20.07.2021 beim Bundesfinanzhof (BFH) ein. Auf einen Hinweis der
Senatsgeschäftsstelle, dass die für die Einlegung der
Revision geltende Monatsfrist versäumt sei, wandten die
Kläger ein, die Zustellungsurkunde sei unrichtig. Während
der Covid-19-Pandemie hätten die jeweiligen Postzusteller bei
keiner einzigen förmlichen Zustellung eine persönliche
Übergabe des Schriftstücks in den
Geschäftsräumen der Kanzlei der
Prozessbevollmächtigten versucht. Dies sei auch am 19.06.2021
nicht der Fall gewesen. Gleichwohl sei in den Zustellungsurkunden
stets - objektiv unzutreffend - angekreuzt worden, eine
Übergabe des Schriftstücks in den
Geschäftsräumen sei nicht möglich gewesen. Damit sei
die Zustellung unter Verstoß gegen zwingende
Zustellungsvorschriften erfolgt; eine Heilung nach § 189 der
Zivilprozessordnung (ZPO) sei erst mit der am Montag, 21.06.2021
vorgenommenen Leerung des Kanzleibriefkastens eingetreten.
|
|
|
3
|
Die Kläger haben weiter vorgetragen,
der Zusteller habe in Gesprächen mit der für den
Posteingang zuständigen Mitarbeiterin und dem
Geschäftsführer ihrer Prozessbevollmächtigten am 03.
und 04.08.2021 erklärt, er sei aufgrund der gesetzlichen
Vorgaben zur Pandemiebekämpfung gehalten, keine
persönlichen Zustellungen vorzunehmen. Im Übrigen
müsse er dies auch nicht, weil er die Sendungen jederzeit in
den Briefkasten einlegen könne.
|
|
|
4
|
Die Kanzleiräume befänden sich im
dritten Obergeschoss eines Geschäftshauses, der
Kanzleibriefkasten liege im Erdgeschoss hinter der verschlossenen
Hauseingangstür. Klingeln für die Kanzleiräume seien
sowohl außen am Hauseingang als auch im dritten Obergeschoss
vor der Eingangstür zu den Kanzleiräumen angebracht. Der
Postzusteller habe einen eigenen Schlüssel für die
Hauseingangstür und damit jederzeit Zutritt zum
Gebäude.
|
|
|
5
|
Die Senatsvorsitzende hat die Deutsche Post
AG - Großannahmestelle Brief Stadt X - um Auskunft zu der
Frage gebeten, ob es in deren Bereich die generelle Anweisung gebe,
während der Covid-19-Pandemie vom Versuch einer
persönlichen Übergabe des zuzustellenden
Schriftstücks abzusehen und statt dessen sogleich eine
Ersatzzustellung durch Einlegen in den zur Wohnung oder zum
Geschäftsraum gehörenden Briefkasten vorzunehmen. Die
Deutsche Post AG - Kundenservice - hat diese Frage mit Schreiben
vom 04.05.2022 verneint und darüber hinaus - ohne hierzu
befragt worden zu sein - ausgeführt, dass für den
betroffenen Zustellungsauftrag am 19.06.2021 ein Zustellversuch
unternommen worden sei. Der Geschäftsraum sei geschlossen
gewesen, so dass eine Übergabe nicht möglich gewesen sei
und der Auftrag in den Briefkasten des Adressaten eingelegt worden
sei. Postzustellungsaufträge würden immer nach den
Vorgaben der ZPO zugestellt.
|
|
|
6
|
Der Senat hat in der mündlichen
Verhandlung Beweis erhoben durch Vernehmung des Postzustellers (Z).
Dieser hat erklärt, es habe in dem Zeitraum, in den die hier
maßgebliche Zustellung fällt, die mündliche
Anweisung seines Amtsleiters gegeben, aufgrund der
Covid-19-Pandemie auch förmliche Zustellungen kontaktlos
vorzunehmen. Die Zusteller hätten die Sendungen ohne
Kundenkontakt und ohne Klingeln sogleich in den Briefkasten
einlegen und dies durch Datum und Namenszeichen beurkunden sollen.
Diese Anweisung sei erstmals ungefähr im Mai oder Juni 2021
erteilt worden und habe etwa bis März 2022 gegolten.
Demgegenüber werde heute bei förmlichen Zustellungen
zunächst wieder der Versuch einer persönlichen
Übergabe an den Adressaten unternommen.
|
|
|
7
|
Die Kläger beantragen,
festzustellen,
|
|
dass die Revision zulässig
ist.
|
|
|
8
|
Der Beklagte und Revisionsbeklagte
(Finanzamt - FA - ) beantragt,
|
|
die Revision als unzulässig zu
verwerfen.
|
|
|
9
|
Er ist der Auffassung, entsprechend der zu
§ 130 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) allgemein
vertretenen Auslegung sei die Zustellung in dem Zeitpunkt wirksam,
in dem das Schriftstück in den Machtbereich des
Empfängers gelangt sei. Dies sei hier bereits mit Einlegen in
den Briefkasten am 19.06.2021 der Fall gewesen.
|
|
|
10
|
II. Der Senat entscheidet über die Frage
der Zulässigkeit der Revision durch Zwischenurteil
gemäß § 121 Satz 1, § 97 der
Finanzgerichtsordnung (FGO).
|
|
|
11
|
Nach § 97 FGO kann über die
Zulässigkeit der Klage durch Zwischenurteil vorab entschieden
werden. Diese Regelung ist gemäß § 121 Satz 1 FGO
auch in Bezug auf die Zulässigkeit der Revision anzuwenden,
sofern die Revision nicht unzulässig ist und daher
gemäß § 126 Abs. 1 FGO zwingend durch Beschluss
verworfen werden muss (Senatsurteil vom 05.11.2019 - X R 15/18,
BFH/NV 2020, 526 = SIS 20 02 96, Rz 14, m.w.N.).
|
|
|
12
|
Der Erlass eines Zwischenurteils ist im
vorliegenden Verfahren sachgerecht. Hierdurch wird die zwischen den
Beteiligten bestehende Ungewissheit über die Zulässigkeit
der Revision beseitigt, so dass sich der Rechtsstreit im weiteren
Verlauf auf die materiell-rechtlichen Fragen konzentrieren kann.
Der Senat hat die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung
auf die Möglichkeit der Entscheidung durch Zwischenurteil
hingewiesen.
|
|
|
13
|
III. Die Revision ist zulässig.
Insbesondere haben die Kläger die einmonatige Frist für
die Einlegung der Revision gewahrt.
|
|
|
14
|
Aufgrund des Ergebnisses der Beweisaufnahme
ist der Senat davon überzeugt, dass der Zeuge Z in seiner
Eigenschaft als Postzusteller am 19.06.2021 vor der Einlegung der
förmlich zuzustellenden Sendung mit dem vorinstanzlichen
Urteil in den Briefkasten der Kanzlei der
Prozessbevollmächtigten der Kläger keinen Versuch einer
persönlichen Übergabe in den Geschäftsräumen
der Kanzlei unternommen hat (dazu unten 1.). Ohne einen solchen
Übergabeversuch ist die Zustellung wegen Verstoßes gegen
§ 180 Satz 1 ZPO unwirksam (unten 2.). Die zur Eindämmung
der Covid-19-Pandemie erlassenen gesetzlichen Regelungen bewirken
keine Suspendierung der in § 180 ZPO für die
Ersatzzustellung vorgesehenen Anordnungen (unten 3.). Der
Zustellungsmangel ist erst am 21.06.2021 geheilt worden, so dass
mit dem Eingang der Revisionsschrift beim BFH am 20.07.2021 die
hierfür geltende einmonatige Frist gewahrt worden ist (unten
4.).
|
|
|
15
|
1. Der Zeuge Z hat nach dem Ergebnis der
Beweisaufnahme vor der Einlegung der Sendung in den
Kanzleibriefkasten keinen Versuch der persönlichen
Übergabe unternommen.
|
|
|
16
|
a) Wenn es um das Vorliegen der
Zulässigkeitsvoraussetzungen der Revision (§ 124 FGO)
geht, ist auch das Revisionsgericht zu eigenen
Tatsachenfeststellungen einschließlich einer Beweisaufnahme
berechtigt und ggf. verpflichtet, wobei das Freibeweisverfahren
ausreichen kann (BFH-Beschluss vom 22.07.2002 - V R 55/00, BFH/NV
2002, 1601 = SIS 03 02 67, unter II.1., m.w.N.).
|
|
|
17
|
b) Eine Zustellungsurkunde begründet
gemäß § 182 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 418 Abs. 1
ZPO wie eine öffentliche Urkunde - weiterhin - den vollen
Beweis der darin bezeugten Tatsachen, obwohl die
Postdienstleistungen mittlerweile durch private Unternehmen
erbracht werden und Zustellungsurkunden lediglich aus vorgedruckten
und anzukreuzenden Textbausteinen bestehen.
|
|
|
18
|
Der Beweis der Unrichtigkeit der in der
Urkunde bezeugten Tatsachen ist allerdings zulässig (§
418 Abs. 2 ZPO). Dieser Gegenbeweis erfordert die volle
Überzeugung des Gerichts von einem anderen als dem
beurkundeten Sachverhalt (Urteil des Bundesgerichtshofs - BGH - vom
31.05.2017 - VIII ZR 224/16, NJW 2017, 2285, Rz 18, m.w.N.). Ein
solcher Gegenbeweis ist hier erbracht.
|
|
|
19
|
c) Der Senat ist davon überzeugt, dass
der Zeuge Z am 19.06.2021 nicht versucht hat, die Sendung mit dem
vorinstanzlichen Urteil vor dem Einlegen in den Kanzleibriefkasten
persönlich zu übergeben, insbesondere nicht die zu den
Kanzleiräumen gehörende Klingel betätigt hat.
|
|
|
20
|
aa) Der Zeuge hat ausgesagt, von seinem
Amtsleiter mündlich angewiesen worden zu sein, infolge der
Covid-19-Pandemie kontaktlos zuzustellen und insbesondere auf ein
Betätigen der zu den Räumen des Adressaten
gehörenden Klingel vor dem Einlegen der Sendung in den
Briefkasten des Adressaten zu verzichten. So habe er es auch an dem
hier fraglichen Tag gehandhabt.
|
|
|
21
|
Der Senat ist von der Glaubwürdigkeit des
Zeugen ebenso wie von der Glaubhaftigkeit seiner Aussage
überzeugt. Der Zeuge - ein langjähriger beamteter
Zusteller - hat den Ablauf einer Zustellung vom Beginn seines
Arbeitstages bis zum Einlegen in den Briefkasten im Zusammenhang
geschildert und alle von der Richterbank gestellten Fragen in
spontaner und natürlicher Weise beantwortet. In seiner Aussage
und den Antworten auf die ihm gestellten Fragen waren keine
inhaltlichen Widersprüche erkennbar. Auch die Vertreter der
Beteiligten haben in der mündlichen Verhandlung über das
Ergebnis der Beweisaufnahme keine Bedenken gegen die
Glaubwürdigkeit des Zeugen und die Glaubhaftigkeit seiner
Aussage geäußert.
|
|
|
22
|
bb) Demgegenüber misst der Senat der
schriftlichen Auskunft der Deutschen Post AG vom 04.05.2022 keinen
hohen Beweiswert zu.
|
|
|
23
|
Die Deutsche Post AG ist nur gefragt worden,
ob es generelle Anweisungen für das Absehen von
persönlichen Übergabeversuchen zu Zeiten der
Covid-19-Pandemie gibt. Diese Frage wurde verneint. Dies
schließt allerdings nicht aus, dass der für den Zeugen Z
zuständige Vorgesetzte für seinen Arbeitsbereich
mündlich eine hiervon abweichende individuelle Anweisung
erteilt hat, wie es der Zeuge bekundet hat.
|
|
|
24
|
Soweit die Deutsche Post AG in ihrer
schriftlichen Auskunft darüber hinaus erklärt, am
19.06.2021 sei ein Zustellversuch unternommen worden, aber wegen
eines geschlossenen Geschäftsraums gescheitert, ist ihr diese
Frage zum einen nicht gestellt worden. Zum anderen ist diese Angabe
- gerade angesichts des sehr substantiierten abweichenden
Sachvortrags der Kläger sowie der abweichenden und inhaltlich
vollkommen klaren und eindeutigen Aussage des Zeugen - zu allgemein
gehalten; insbesondere wird der Name des Zustellers nicht
genannt.
|
|
|
25
|
Vor allem aber wird der Inhalt der
schriftlichen Auskunft der Deutschen Post AG durch den darin
nachfolgenden Satz („Postzustellungsaufträge werden
und wurden immer nach den Vorgaben der Zivilprozessordnung
zugestellt.“) relativiert: Eine derart
generelle Aussage ist unrealistisch und entspricht nicht den
Tatsachen. Dem Senat sind in seiner gerichtlichen Praxis immer
wieder Fälle bekannt geworden, in denen die Zusteller gerade
nicht nach den Vorgaben der ZPO zugestellt haben; auch die
juristischen Fachzeitschriften berichten nicht nur vereinzelt von
solchen Fällen. Die schriftliche Erklärung der Deutschen
Post AG wird vom Senat daher eher als Beschreibung eines
Idealzustands gewertet denn als belastbare Auskunft zu einer
konkreten Weisungs- und Zustellsituation im hier
aufklärungsbedürftigen Einzelfall. Sie kann damit den
hohen Beweiswert der individuellen und glaubhaften Aussage des
Zeugen Z nicht erschüttern.
|
|
|
26
|
2. Eine Ersatzzustellung gemäß
§ 180 Satz 1 ZPO durch Einlegen in den Briefkasten, bei der
nicht zuvor der Versuch einer persönlichen Übergabe des
Schriftstücks vorgenommen wird, ist unwirksam.
|
|
|
27
|
a) Finanzgerichtliche Urteile werden von Amts
wegen nach den Vorschriften der ZPO zugestellt (§ 53 Abs. 2
FGO). Der Gesetzgeber hat daran festgehalten, dass eine Zustellung
in ihrer Grundform durch körperliche Übergabe stattfindet
(Beschluss des Großen Senats des BFH vom 06.05.2014 - GrS
2/13, BFHE 244, 536, BStBl II 2014, 645 = SIS 14 16 54, Rz 68;
BGH-Beschluss vom 29.07.2022 - AnwZ (Brfg) 28/20, NJW 2022, 3081,
Rz 19). Nach dem Wortlaut des § 180 Satz 1 ZPO setzt die
Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten voraus, dass die
Zustellung nach § 178 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 ZPO nicht
ausführbar ist. Daher ist nach allgemeiner Meinung eine
Ersatzzustellung nach § 180 ZPO erst dann zulässig, wenn
eine - vorrangige - Ersatzzustellung in der Wohnung oder im
Geschäftsraum (§ 178 Abs. 1 Nr. 1, 2 ZPO) nicht erfolgen
konnte, insbesondere weil dort keiner der in diesen Vorschriften
bezeichneten Ersatzempfänger persönlich angetroffen wurde
(vgl. statt aller Zöller/Schultzky, ZPO, 34. Aufl., § 180
Rz 2).
|
|
|
28
|
b) Zwar ist eine Ersatzzustellung nach §
180 ZPO auch dann zulässig, wenn der Geschäftsraum beim
Zustellungsversuch nach § 178 Abs. 1 Nr. 2 ZPO geschlossen und
diese Art der Ersatzzustellung damit nicht ausführbar war
(Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 02.08.2007 - 2 B
20.07, NJW 2007, 3222 = SIS 08 00 29; vgl. - ebenfalls zu einer Ersatzzustellung durch
Einlegen in den Briefkasten eines an Samstagen geschlossenen
Geschäftslokals - Beschluss des Bayerischen
Verwaltungsgerichtshofs vom 09.05.2018 - 22 ZB 18.105, Deutsches
Verwaltungsblatt 2019, 63, Rz 12, wo allerdings kein Zweifel an der
Richtigkeit der beurkundeten Angabe des Zustellers bestand, er habe
zuvor eine Übergabe in den Geschäftsräumen
versucht).
|
|
|
29
|
Wenn der Zusteller jedoch förmlich
beurkundet, er habe zunächst den Versuch unternommen, das
Schriftstück persönlich zu übergeben, obwohl diese
von ihm abgegebene Erklärung nicht der Wahrheit entspricht,
ist die Zustellung unwirksam. Obwohl eine Zustellungsurkunde als
öffentliche Urkunde den vollen Beweis der von ihr bezeugten
Tatsachen begründet (§ 182 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. §
418 Abs. 1 ZPO), ist der in § 418 Abs. 2 ZPO zugelassene
Gegenbeweis der Unrichtigkeit der in der Urkunde bezeugten
Tatsachen geführt, wenn der als Zeuge vernommene Zusteller wie
im Streitfall aussagt, er habe in dem betreffenden Zeitraum
grundsätzlich nicht den Versuch unternommen, zuzustellende
Schriftstücke persönlich zu übergeben, sondern habe
sie regelmäßig in den Briefkasten eingelegt und dies in
der Urkunde entsprechend dokumentiert. Eine solche Zustellung ist
unwirksam (vgl. zum Ganzen BFH-Beschluss vom 14.02.2007 - XI B
108/05, BFH/NV 2007, 1158 = SIS 07 16 02, unter II.1.b; zu einer
Beweiswürdigung jüngst auch Hessischer
Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom
15.03.2022 - 4 A 1326/20.Z, NJW 2022, 2426, Rz 14 ff.).
|
|
|
30
|
c) Hierfür kommt es auch nicht darauf an,
ob am 19.06.2021 in der Kanzlei der Prozessbevollmächtigten
der Kläger tatsächlich eine Person anwesend war, die das
Schriftstück persönlich hätte entgegennehmen
können. Entscheidend ist nicht, ob eine persönliche
Übergabe objektiv möglich gewesen wäre, sondern dass
der Zusteller einen Sachverhalt (vorheriger Versuch einer
persönlichen Übergabe vor dem Einlegen in den
Briefkasten) beurkundet hat, der nicht dem tatsächlichen
Geschehensablauf entspricht. Dem kann auch nicht entgegnet werden,
es wäre eine bloße Förmelei, an einem Samstag in
einem Geschäftshaus die Klingel der Kanzleiräume
betätigen zu müssen. Denn gerade bei Freiberuflern ist es
durchaus nicht ausgeschlossen, dass sie und/oder ihre
Beschäftigten in Zeiten hoher Arbeitsbelastung auch an
Samstagen arbeiten und sich zu diesem Zweck in ihren
Geschäftsräumen aufhalten, also die persönliche
Übergabe des Schriftstücks (§ 177 ZPO) oder eine
Ersatzzustellung an einen Beschäftigten (§ 178 Abs. 1 Nr.
2 ZPO) durchführbar wäre.
|
|
|
31
|
d) Soweit sich das FA darauf beruft, dass die
Sendung bereits mit dem Einlegen in den Briefkasten in den
Machtbereich der Prozessbevollmächtigten der Kläger
gelangt sei, wird diese allgemeine Regel über den Zugang von
Erklärungen (§ 130 BGB) für Fälle der
förmlichen Zustellung durch die hierfür geltenden
differenzierten gesetzlichen Vorschriften (§§ 166 ff.
ZPO) gerade verdrängt.
|
|
|
32
|
3. Weder das Bundesrecht noch das - hier
maßgebliche - bayerische Landesrecht hat am 19.06.2021
Regelungen enthalten, die die gesetzlichen Vorgaben des § 180
Satz 1 ZPO aus Gründen des Infektionsschutzes modifiziert
hätten.
|
|
|
33
|
a) Der - hierfür zuständige -
Bundesgesetzgeber hat für förmliche Zustellungen keine
pandemiebedingten Erleichterungen vorgesehen.
|
|
|
34
|
Zwar hat er solche Erleichterungen in
zahlreichen anderen Rechtsbereichen geschaffen (vgl. z.B. das
Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-,
Insolvenz- und Strafverfahrensrecht vom 27.03.2020, BGBl I 2020,
569; das Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im
Pauschalreisevertragsrecht und zur Sicherstellung der
Funktionsfähigkeit der Kammern im Bereich der
Bundesrechtsanwaltsordnung, der Bundesnotarordnung, der
Wirtschaftsprüferordnung und des Steuerberatungsgesetzes
während der COVID-19-Pandemie vom 10.07.2020, BGBl I 2020,
1643, und das Gesetz zur weiteren Verkürzung des
Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Anpassung pandemiebedingter
Vorschriften im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins- und
Stiftungsrecht sowie im Miet- und Pachtrecht vom 22.12.2020, BGBl I
2020, 3328). Zu §§ 178, 180 ZPO fehlt aber eine
entsprechende Ausnahmeregelung.
|
|
|
35
|
b) Auch die in Bayern geltenden
landesrechtlichen Regelungen zum Infektionsschutz konnten am
19.06.2021 nicht bewirken, dass eine Zustellung nach § 178
Abs. 1 Nr. 1, 2 ZPO „nicht
ausführbar“ war, wie es § 180
Satz 1 ZPO für die Ersatzzustellung durch Einlegen in den
Briefkasten voraussetzt.
|
|
|
36
|
Abgesehen davon, dass der Bundesgesetzgeber
mit der Zivilprozessordnung von seiner konkurrierenden Gesetzgebung
gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 Alternative 4 des
Grundgesetzes (GG) zur Regelung des gerichtlichen Verfahrens
abschließend Gebrauch gemacht hat (Uhle in
Dürig/Herzog/Scholz, Komm. z. GG, Art. 74 Rz 119; F. Wittreck,
in H. Dreier (Hrsg.) Grundgesetz-Kommentar, Bd. II 3. Aufl., Art.
74 Rz 23), so dass nach Art. 72 Abs. 1 GG für landesrechtliche
Regelungen grundsätzlich eine Sperrwirkung gegeben wäre,
fehlt es an einer entsprechenden inhaltlichen bayerischen
Landesregelung. Allein das Gebot zur allgemeinen Kontaktreduzierung
zwecks Infektionsschutzes könnte die klare gesetzliche
Rangfolge der in den § 178 und § 180 ZPO vorgesehenen
Ersatzzustellungen nicht in ihr Gegenteil verkehren. Hierfür
wäre vielmehr - wie in zahlreichen anderen Rechtsbereichen
geschehen - eine eindeutige gesetzliche Regelung erforderlich
gewesen. Im Übrigen waren berufliche Tätigkeiten von den
zum Zeitpunkt des Zustellungsversuchs in Bayern geltenden
Kontaktbeschränkungen ausdrücklich ausgenommen (§ 6
Abs. 3 der Dreizehnten Bayerischen
Infektionsschutzmaßnahmenverordnung - 13. BayIfSMV - vom
05.06.2021, BayMBl 2021 Nr. 384). Die allgemeine Empfehlung eines
Mindestabstands von 1,5 m (§ 2 Satz 1 der 13. BayIfSMV) - bei
der es sich ohnehin nicht um eine rechtlich zwingende Regelung
handelt - kann auch bei einer persönlichen Übergabe des
zuzustellenden Schriftstücks eingehalten werden.
|
|
|
37
|
4. Verstößt eine Ersatzzustellung
durch Einlegen in den Briefkasten gegen zwingende
Zustellungsvorschriften, tritt eine Heilung nach § 189 ZPO
erst in dem Zeitpunkt ein, in dem der Empfänger das
Schriftstück tatsächlich in die Hand bekommt
(BFH-Beschluss in BFHE 244, 536, BStBl II 2014, 645 = SIS 14 16 54,
Rz 65 ff.). Dies war hier mit der Leerung des Briefkastens am
Morgen des 21.06.2021 der Fall. Die dadurch ausgelöste
einmonatige Frist für die Einlegung der Revision (§ 120
Abs. 1 Satz 1 FGO) endete am 21.07.2021. Mit dem Eingang der
Revisionsschrift beim BFH am 20.07.2021 ist diese Frist gewahrt
worden.
|
|
|
38
|
5. Da der Senat lediglich ein Zwischenurteil
erlässt, bleibt die Kostenentscheidung dem Endurteil
vorbehalten.
|