Nachträglich festgesetztes Kindergeld, kein Erstattungsanspruch des Sozialhilfeträgers: Ein Anspruch des Sozialhilfeträgers auf Erstattung von nachträglich festgesetztem Kindergeld setzt voraus, dass das Kindergeld zum Einkommen des Hilfeempfängers gehört, dem der Sozialhilfeträger Sozialhilfeleistungen erbracht hat. Hat der Sozialhilfeträger einem im eigenen Haushalt lebenden Kind Hilfe zum Lebensunterhalt geleistet, hat er in der Regel keinen Anspruch auf Erstattung von nachträglich festgesetztem Kindergeld, weil das Kindergeld zum Einkommen des anspruchsberechtigten Elternteils gehört. Dem Einkommen des Kindes kann das Kindergeld nur zugeordnet werden, wenn es ihm aufgrund einer förmlichen Abzweigung ausgezahlt wird oder ihm zumindest tatsächlich zufließt. - Urt.; BFH 17.4.2008, III R 33/05; SIS 08 29 13
I. Der Kläger und Revisionskläger
(Kläger) bezieht eine Altersrente. Für seine im Jahr 1964
geborene, zu 100 v.H. behinderte Tochter, die seit Juni 1997 in
einer eigenen, von ihr angemieteten Wohnung lebt, erhielt der
Kläger Kindergeld. Das Kindergeld rechnete das Sozialamt der
Stadt X (Beigeladene) auf die der Tochter gewährte Hilfe zum
Lebensunterhalt (HLU) als Einkommen an. Den Antrag der Tochter auf
Abzweigung des Kindergeldes wies die Beklagte und Revisionsbeklagte
(Familienkasse) im August 1997 ab.
Durch Bescheid vom 26.3.1998 hob die
Familienkasse die Kindergeldfestsetzung rückwirkend ab Januar
1997 auf. Mit Bescheid vom 24.1.2001 setzte sie rückwirkend ab
April 1998 wieder Kindergeld fest, wobei sie mit
Abrechnungsbescheid vom selben Tag erklärte, für den
Zeitraum April 1998 bis Januar 2001 gelte der Anspruch auf
Kindergeld in Höhe von 8.490 DM (= 4.340,87 EUR) nach §
74 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes - EStG - (ab 1.1.2002: §
74 Abs. 2 EStG) i.V.m. § 107 Abs. 1 des Zehnten Buches
Sozialgesetzbuch (SGB X) als erfüllt. Die Beigeladene habe in
dieser Höhe einen Erstattungsanspruch nach § 74 Abs. 3
EStG i.V.m. §§ 103, 104 SGB X geltend gemacht, da sie der
Tochter für den Zeitraum April 1998 bis Januar 2001 HLU ohne
Anrechnung von Kindergeld gezahlt habe. Der Einspruch des
Klägers war erfolglos.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab
(vgl. SIS 06 05 02). Es führte im Wesentlichen aus, der
Anspruch des Klägers auf Kindergeld gelte aufgrund der
Erstattung an die Beigeladene als erloschen (§ 107 SGB X).
Soweit das Kindergeld - wie im Streitfall - ausschließlich
der Förderung der Familie diene, handle es sich um eine mit
der HLU zweckidentische Leistung und damit um Einkommen i.S. von
§§ 76, 77 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG), das auf
die HLU anzurechnen sei, und zwar auch dann, wenn die HLU nicht
für den Kindergeldberechtigten, sondern für das Kind
erbracht werde. Da das Kindergeld gegenüber der HLU vorrangig
sei, bestehe nach § 74 Abs. 3 EStG i.V.m. § 104 Abs. 1
und 2 SGB X ein Anspruch der Beigeladenen auf Erstattung des
rückwirkend festgesetzten Kindergeldes.
Der Kläger rügt mit seiner
Revision die Verletzung formellen und materiellen Rechts.
Er beantragt sinngemäß, das
angefochtene Urteil sowie den Bescheid der Familienkasse vom
24.1.2001 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 19.2.2002
aufzuheben.
Die Familienkasse beantragt, die Revision
zurückzuweisen.
II. Die Revision ist begründet. Sie
führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils, des
Abrechnungsbescheids vom 24.1.2001 und der Einspruchsentscheidung
vom 19.2.2002 (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung -
FGO - ). Die Aufhebung des Abrechnungsbescheids hat zur Folge, dass
das festgesetzte Kindergeld für den Zeitraum April 1998 bis
Januar 2001 an den Kläger auszuzahlen ist. Einer
ausdrücklichen Verpflichtung der Familienkasse durch den Senat
bedarf es nicht.
Der Abrechnungsbescheid ist rechtswidrig, weil
der Anspruch des Klägers auf Kindergeld mangels
Erstattungsanspruchs der Beigeladenen nicht als erfüllt
gilt.
1. Nach § 74 Abs. 3 EStG i.V.m. §
107 Abs. 1 SGB X gilt der Anspruch des Klägers gegen die
Familienkasse auf Kindergeld nur als erfüllt, soweit ein
Erstattungsanspruch der Beigeladenen besteht. Entgegen der
Auffassung des FG hat die Beigeladene keinen Erstattungsanspruch
nach § 74 Abs. 3 EStG i.V.m. § 104 Abs. 2 SGB X. a) Hat
ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen
erbracht - ohne dass die hier nicht einschlägigen
Voraussetzungen des § 103 Abs. 1 SGB X vorliegen -, ist nach
§ 104 Abs. 1 SGB X der Leistungsträger
erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen
Anspruch hat. Nachrangig verpflichtet ist ein Leistungsträger,
soweit er bei rechtzeitiger Erfüllung der
Leistungserfüllung eines anderen Leistungsträgers selbst
nicht zur Leistung verpflichtet gewesen wäre. Nach § 104
Abs. 2 SGB X gilt § 104 Abs. 1 SGB X auch dann, wenn ein
nachrangig verpflichteter Leistungsträger für den
Angehörigen eines Berechtigten Sozialleistungen erbracht hat
und der Berechtigte mit Rücksicht auf diesen Angehörigen
einen Anspruch auf Sozialleistungen gegen einen vorrangig
verpflichteten Leistungsträger hat.
b) Der Erstattungsanspruch nach § 104
Abs. 2 SGB X ist kein von den Voraussetzungen des § 104 Abs. 1
SGB X unabhängiger Erstattungsanspruch eigener Art, sondern
erweitert diesen nur. Daher kann ein Erstattungsanspruch nach
§ 104 Abs. 2 SGB X nur dann gegeben sein, wenn auch die
Anspruchsvoraussetzungen des § 104 Abs. 1 SGB X vorliegen
(Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 22.9.1988 2 RU 9/88,
BSGE 64, 96). Die Leistungen der unterschiedlichen
Leistungsträger müssen deshalb gleichartig sein und es
muss zwischen ihnen ein Verhältnis von vorrangiger und
nachrangiger Verpflichtung zur Leistung bestehen.
c) Nach der Rechtsprechung der obersten
Bundesgerichte ist das Kindergeld nach §§ 62 ff. EStG,
soweit es der Familienförderung dient, wie die HLU dazu
bestimmt, die allgemeinen Lebenshaltungskosten zu mindern (Urteile
des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - vom 21.6.2001 5 C 7/00,
BVerwGE 114, 339, und vom 28.4.2005 5 C 28/04, NJW 2005, 2873; des
BSG vom 8.2.2007 B 9b SO 6/06 R, BFH/NV 2007, Beilage 4, 476 = SIS 07 38 57, und des Bundesfinanzhofs vom 14.5.2002 VIII R 88/01,
BFH/NV 2002, 1156 = SIS 02 87 05), so dass es sich in den
Fällen, in denen das Kindergeld dem Einkommen des
Hilfeempfängers zuzuordnen ist, um eine mit der HLU
gleichartige und auch vorrangige Leistung handelt. Bezieht der
Hilfeempfänger Kindergeld, ist dieses daher bei der Ermittlung
der HLU als Einkommen i.S. des § 76 BSHG anzurechnen und
mindert dementsprechend die HLU. Wird rückwirkend Kindergeld
festgesetzt, kann der Sozialleistungsträger das Kindergeld
erstattet verlangen.
Ist Hilfeempfänger dagegen nicht der
Elternteil, der Anspruch auf das Kindergeld hat, sondern das im
eigenen Haushalt lebende Kind, ist das Kindergeld nur dann als
Einkommen des Kindes anzurechnen, wenn das Kindergeld nach §
74 Abs. 1 EStG an das Kind abgezweigt wird (vgl. BVerwG-Urteil vom
17.12.2003 5 C 25/02, BFH/NV 2005, Beilage 1, 68) oder ihm
zumindest tatsächlich zufließt (streitig, vgl. z.B.
Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg - LSG
Ba-Wü - vom 13.12.2006 L 7 SO 3131/06, juris; Revision, Az. B
8/9b SO 2/07 R).
d) Im Streitfall ist das Kindergeld dem
Einkommen des Klägers zuzurechnen. Vor der Aufhebung der
Kindergeldfestsetzung im März 1998 war das Kindergeld an ihn
ausgezahlt worden. Einen Antrag der Tochter auf Abzweigung des
Kindergeldes hatte die Familienkasse im August 1997 abgelehnt.
Daher steht ihm das rückwirkend festgesetzte Kindergeld als
Anspruchsberechtigtem zu.
Das Kindergeld kann auch nicht deshalb als
Einkommen der Tochter behandelt werden, weil sie
möglicherweise einen Anspruch auf Abzweigung nach § 74
Abs. 1 Satz 1 EStG gehabt hätte. Denn dem
sozialhilferechtlichen Einkommen i.S. des § 76 BSHG
können nur solche Beträge zugeordnet werden, die dem
Hilfeempfänger auch tatsächlich gegenwärtig für
seinen Unterhalt zur Verfügung stehen. Es kommt allein auf den
tatsächlichen Zufluss von Geld und Geldeswert an (vgl. Urteil
des LSG Ba-Wü vom 13.12.2006 L 7 SO 3131/06, juris). Die
Tochter ist auch rechtlich nicht verpflichtet, sich durch einen
(erneuten) Abzweigungsantrag anrechenbares Einkommen i.S. des
§ 76 BSHG zu verschaffen (BSG in BFH/NV 2007, Beilage 4, 476 =
SIS 07 38 57).
Aus § 104 Abs. 2 SGB X kann keine
materiell-rechtliche Regelung abgeleitet werden, dass das dem
Anspruchsberechtigten zustehende Kindergeld auf das Einkommen des
Kindes anzurechnen ist. Bei den §§ 102 ff. SGB X handelt
es sich lediglich um rechtstechnische Vorschriften, die den
Ausgleich zwischen Leistungsträgern regeln. Ob die Merkmale
der Gleichartigkeit und des Vor- und Nachrangs der
Leistungsverpflichtung erfüllt sind, ergibt sich
ausschließlich aus dem BSHG und den kindergeldrechtlichen
Vorschriften.
2. Ob der Leistungsträger, der dem Kind
HLU gewährt hat, in Fällen rückwirkender Festsetzung
von Kindergeld nachträglich eine Abzweigung des Kindergeldes
nach § 74 Abs. 1 Satz 4 EStG beantragen kann, ist im
Streitfall nicht zu entscheiden.
3. Da die Revision des Klägers Erfolg
hat, erübrigt sich eine Auseinandersetzung mit seiner
Verfahrensrüge.