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I. Der aus Vietnam stammende Kläger
und Revisionskläger (Kläger) war seit 17.11.1997 im
Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis. Unter Verwendung
des amtlichen Vordrucks, in dem keine Eintragungen für eine
zeitliche Einschränkung vorgesehen sind, beantragte er unter
dem Datum des 20.11.1997 die Festsetzung von Kindergeld für
seine beiden Kinder. Dem Antrag war eine Kopie der kurz zuvor
erteilten Aufenthaltserlaubnis beigefügt (§ 15 des
Ausländergesetzes 1990). Die Beklagte und Revisionsbeklagte
(Familienkasse) zahlte das Kindergeld aufgrund einer
Kassenanordnung vom 7.1.1998 ab November 1997 aus. Einen
ausdrücklichen Festsetzungsbescheid erließ sie
nicht.
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Mit Schreiben vom 20.7.2008 beantragte der
Kläger unter Hinweis auf den Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 6.7.2004 1 BvL 4/97 (BVerfGE
111, 160 = SIS 05 07 29) die Festsetzung von Kindergeld für
den Zeitraum September 1993 bis November 1997. Das BVerfG hatte
entschieden, dass die Regelung der Kindergeldberechtigung nicht
freizügigkeitsberechtigter Ausländer in § 1 Abs. 3
des Bundeskindergeldgesetzes i.d.F. des Ersten Gesetzes zur
Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms vom
21.12.1993 (BGBl I 1993, 2353), der mit der früheren
einkommensteuerrechtlichen Regelung der Kindergeldberechtigung von
Ausländern nahezu wortgleich war, verfassungswidrig sei. Der
Kläger war der Ansicht, nach der gemäß § 52
Abs. 61a des Einkommensteuergesetzes (EStG) rückwirkend
anzuwendenden Neuregelung des § 62 Abs. 2 EStG habe er auch
für Zeiträume vor November 1997 einen Anspruch auf
Kindergeld.
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Die Familienkasse lehnte eine
nachträgliche Festsetzung durch Bescheid vom 30.9.2008 ab, da
nach ihrer Ansicht Festsetzungsverjährung eingetreten war. Der
Einspruch des Klägers hatte keinen Erfolg, ebenso wenig die
anschließend erhobene Klage, mit welcher der Kläger
Kindergeld für den Zeitraum Mai bis Oktober 1997 begehrte. Das
Finanzgericht (FG) war der Ansicht, der Kläger habe die
Entscheidung der Familienkasse, Kindergeld ab November 1997 zu
gewähren, nur dahin verstehen können, dass für den
davor liegenden Zeitraum ein Anspruch zu verneinen sei.
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Zur Begründung der Revision trägt
der Kläger vor, für den Zeitraum vor November 1997 liege
keine bestandskräftige Ablehnung vor. Die Kindergeldzahlung
sei durch eine bloße Kassenanordnung verfügt worden. Die
Festsetzung sei in der Auszahlung zu sehen. Für den Zeitraum
vor der Festsetzung gebe es keine Willensäußerung der
Familienkasse. Insoweit sei auch keine Festsetzungsverjährung
eingetreten, da der im November 1997 gestellte Kindergeldantrag die
Ablaufhemmung ausgelöst habe.
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Der Kläger beantragt
sinngemäß, das angefochtene Urteil, den
Ablehnungsbescheid vom 30.9.2008 und die dazu ergangene
Einspruchsentscheidung vom 26.2.2009 aufzuheben und die
Familienkasse zu verpflichten, Kindergeld für seine beiden
Kinder für den Zeitraum Mai 1997 bis Oktober 1997 zu
gewähren.
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Die Familienkasse beantragt, die Revision
als unbegründet zurückzuweisen.
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Zur Begründung führt sie aus, der
Antrag sei aus der Sicht des Jahres 1997 zu beurteilen. Ein nicht
freizügigkeitsberechtigter Ausländer sei damals nur dann
kindergeldberechtigt gewesen, wenn er im Besitz einer
Aufenthaltserlaubnis gewesen sei. Erst im November 1997 habe der
Kläger eine solche Erlaubnis erhalten. Der Kläger sei
gegen die Festsetzung ab November 1997 auch nicht mit dem Einspruch
vorgegangen.
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Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung
ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 90 Abs. 2 der
Finanzgerichtsordnung - FGO - ).
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II. Die Revision ist unbegründet und wird
zurückgewiesen (§ 126 Abs. 2 FGO). Der Anspruch auf
Kindergeld war bereits verjährt, als der Kläger im Juli
2008 die Auszahlung für den Zeitraum Mai bis Oktober 1997
begehrte.
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1. Das Kindergeld wird nach § 31 Satz 3
EStG als Steuervergütung gezahlt. Auf Steuervergütungen
sind nach § 155 Abs. 4 der Abgabenordnung (AO) die
Vorschriften über die Steuerfestsetzung (§§ 155 bis
177 AO) sinngemäß anzuwenden, somit auch die
Vorschriften über die Festsetzungsverjährung nach
§§ 169 bis 171 AO (vgl. Senatsurteil vom 18.5.2006 III R
80/04, BFHE 214, 1, BStBl II 2008, 371 = SIS 06 41 14). Die
Festsetzungsfrist für Steuervergütungen beträgt vier
Jahre (§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO) und war im Juli 2008, als
der Kläger das Kindergeld für die Monate vor November
1997 begehrte, bereits abgelaufen.
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2. Der Ablauf der Verjährungsfrist wurde
nicht nach § 171 Abs. 3 AO durch den im November 1997
gestellten Kindergeldantrag gehemmt. Dieser Antrag war entgegen der
Rechtsansicht des Klägers und des FG nicht dahin zu verstehen,
dass der Kläger auch für vergangene Zeiträume
Kindergeld begehrte.
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a) Die Familienkassen haben grundsätzlich
die Pflicht, einen Antrag auf Kindergeld, der keine zeitliche
Einschränkung enthält, umfassend und damit auch für
die Vergangenheit zu prüfen. In den von den Familienkassen
verwendeten Vordrucken sind keine Eintragungen für eine
zeitliche Konkretisierung vorgesehen, obwohl dies aus Gründen
der Rechtsklarheit wünschenswert wäre. Ein zeitlich nicht
beschränkter Antrag ist nach seinem objektiven Inhalt in der
Regel dahin zu verstehen, dass die Festsetzung von Kindergeld
für den längstmöglichen Zeitraum und somit auch
für die Zeit vor der Antragstellung begehrt wird. Ein
Bescheid, durch den ein zeitlich nicht eingeschränkter Antrag
auf Kindergeld bestandskräftig abgelehnt wird, erfasst demnach
nicht nur den Monat der Antragstellung und die darauffolgende Zeit
bis zum Monat der Bekanntgabe der Ablehnungsentscheidung oder ggf.
der dazu ergangenen Einspruchsentscheidung (s. Senatsurteil vom
4.8.2011 III R 71/10, BFH/NV 2012, 298 = SIS 11 40 01, zur
Veröffentlichung bestimmt), sondern auch den Zeitraum vor der
Antragstellung (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom
28.1.2004 VIII R 12/03, BFH/NV 2004, 786 = SIS 04 29 43).
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b) Gleichwohl kann im Einzelfall die Auslegung
eines Kindergeldantrags hinsichtlich des Zeitraums, für den
Kindergeld begehrt wird, erforderlich sein. Ein Kindergeldantrag
ist als außerprozessuale empfangsbedürftige
Verfahrenserklärung entsprechend §§ 133, 157 des
Bürgerlichen Gesetzbuches auszulegen, sofern er
auslegungsbedürftig ist. Hiernach ist entscheidend, wie die
Familienkasse als Erklärungsempfängerin einen Antrag nach
seinem objektiven Erklärungswert verstehen musste. Dabei kann
ggf. auch auf Umstände zurückgegriffen werden, die
außerhalb der auszulegenden Erklärung liegen und einen
Rückschluss auf den vom Antragsteller erklärten Willen
erlauben (s. Senatsurteil vom 14.7.1989 III R 54/84, BFHE 158, 273,
BStBl II 1989, 1024 = SIS 90 02 54, zum Antrag auf
Investitionszulage).
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c) Das FG hat im Streitfall eine
Auslegungsbedürftigkeit des im November 1997 gestellten
Kindergeldantrags stillschweigend verneint, weil dieser nicht
ausdrücklich zeitlich beschränkt war (vgl. Senatsurteil
in BFH/NV 2004, 786 = SIS 04 29 43). Eine Auslegung des Antrags
durfte jedoch nicht unterbleiben. Da die tatsächlichen
Feststellungen des FG hierfür ausreichen, kann der Senat als
Revisionsgericht die Auslegung selbst vornehmen (s. BFH-Urteil vom
4.11.1997 VIII R 18/94, BFHE 184, 374, BStBl II 1999, 344 = SIS 98 04 27, a.E.; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl.,
§ 118 Rz 24, m.w.N.).
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d) Der Kindergeldantrag konnte nach seinem
eindeutigen Erklärungsinhalt nur dahin verstanden werden, dass
der Kläger die Festsetzung ab dem Monat begehrte, in dem er
erstmals die ausländerrechtlichen Voraussetzungen
erfüllte, die nach der im Jahr 1997 geltenden Fassung des
§ 62 Abs. 2 Satz 1 EStG vorliegen mussten. Hiernach hatte ein
nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer nur dann einen
Anspruch auf Kindergeld, wenn er im Besitz einer
Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis war. Der
Kläger hatte seinem Kindergeldantrag eine Kopie der erst kurz
zuvor erteilten Aufenthaltserlaubnis beigefügt. Damit wollte
er offensichtlich gegenüber der Familienkasse zum Ausdruck
bringen, dass nunmehr die ausländerrechtlichen Voraussetzungen
für eine Kindergeldberechtigung erfüllt waren. Die
Familienkasse hatte keinen Anhaltspunkt dafür, den
Kindergeldantrag, auch wenn er keine ausdrückliche zeitliche
Einschränkung enthielt, dahin auszulegen, dass auch für
die Zeit vor November 1997 Kindergeld begehrt werden sollte.
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