Steuerbescheid, telefonische Mitteilung über mangelnden Bekanntgabewillen: 1. Teilt der Sachbearbeiter nach Aufgabe des Steuerbescheids zur Post, aber vor dessen Zugang, den Empfangsbevollmächtigten telefonisch mit, der Bescheid sei falsch und solle deshalb nicht bekanntgegeben werden, wird der Bescheid trotz des späteren Zugangs nicht wirksam. - 2. Nimmt ein nicht zur Entgegennahme von Willenserklärungen ermächtigter Mitarbeiter der Empfangsbevollmächtigten die Mitteilung entgegen, ist diese den Empfangsbevollmächtigten zu dem Zeitpunkt zugegangen, zu dem unter regelmäßigen Umständen damit zu rechnen ist, dass der Mitarbeiter als Empfangsbote die Mitteilung weiterleitet. - Urt.; BFH 28.5.2009, III R 84/06; SIS 09 25 65
I. Die Kläger und Revisionsbeklagten
(Kläger) werden als Eheleute zusammen zur Einkommensteuer
veranlagt.
Der Beklagte und Revisionskläger (das
Finanzamt - FA - ) setzte mit Bescheid vom 6.10.2005 gegen die
Kläger Aussetzungszinsen für den Zeitraum 28.8.2001 bis
15.10.2005 fest. Der Bescheid war an die
Prozessbevollmächtigten als Empfangsbevollmächtigte der
Kläger adressiert. Die Poststelle des FA gab den Bescheid am
Vormittag des 6.10.2005 zur Post.
Danach fiel dem Sachbearbeiter auf, dass er
versehentlich von einem falschen Zinsbeginn ausgegangen war. Laut
Aktenvermerk vom 6.10.2005 rief er deshalb in der Kanzlei der
Prozessbevollmächtigten der Kläger an und teilte einem
Mitarbeiter der Kanzlei mit, der am Vormittag versandte
Zinsbescheid sei falsch und solle deshalb nicht bekanntgegeben
werden; es komme ein neuer Bescheid. Der Mitarbeiter
bestätigte im finanzgerichtlichen Verfahren, dass ihn der
Sachbearbeiter des FA am späten Vormittag des 6.10.2005
angerufen habe. Der Zinsbescheid vom 6.10.2005 ging am 7.10.2005
bei der Kanzlei ein.
Mit Bescheid vom 17.10.2005 setzte das FA
dann höhere Zinsen für den Zeitraum 21.1.1998 bis
15.10.2005 fest.
Gegen den Bescheid vom 17.10.2005 legten
die Kläger Einspruch mit der Begründung ein, dieser
Bescheid habe nicht erlassen werden dürfen, da der Bescheid
vom 6.10.2005 wirksam geworden sei; die Voraussetzungen der
§§ 172 der Abgabenordnung (AO) für eine
Änderung dieses Bescheids lägen nicht vor. Der Einspruch
blieb erfolglos.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt
und hob den Bescheid vom 17.10.2005 sowie den Einspruchsbescheid
vom 20.12.2005 durch Urteil vom 19.9.2006 13 K 40/06 (EFG 2007, 78
= SIS 07 02 30) auf. Der Bescheid vom 6.10.2005 sei durch die
Bekanntgabe gegenüber den Prozessbevollmächtigten der
Kläger wirksam geworden. Denn der Bekanntgabewille könne
nur so lange aufgegeben werden, bis der Bescheid den
Herrschaftsbereich der Behörde verlassen habe. Zwar könne
das FA die in dem Zinsbescheid enthaltene Willenserklärung in
Anlehnung an § 130 Abs. 1 Satz 2 des Bürgerlichen
Gesetzbuchs (BGB) bis zum Zugang beim Empfänger widerrufen.
Sei der Bescheid schriftlich ergangen, sei aber auch ein Widerruf
nur schriftlich möglich.
Mit seiner Revision trägt das FA vor,
entgegen der Auffassung des FG sei für den Widerruf keine
Schriftform erforderlich. Der Zinsbescheid vom 6.10.2005 sei daher
aufgrund des Telefonats mit dem Mitarbeiter der
Prozessbevollmächtigten nicht wirksam geworden.
Das FA beantragt sinngemäß, das
Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen, die Revision
zurückzuweisen.
II. Die Revision ist begründet. Sie
führt zur Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils und zur
Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der
Finanzgerichtsordnung - FGO - ).
Der angefochtene Zinsbescheid vom 17.10.2005
ist rechtmäßig.
1. Entgegen der Auffassung des FG wurde der
Zinsbescheid vom 6.10.2005 nicht wirksam.
a) Zinsen werden nach § 239 Abs. 1 Satz 1
AO nach den Regeln für Steuerbescheide (§ 155 ff. AO)
festgesetzt. Als Verwaltungsakt ist der Zinsbescheid demjenigen
bekanntzugeben, für den er bestimmt ist oder der von ihm
betroffen wird (§ 122 Abs. 1 AO) oder einem
Bevollmächtigten (§ 122 Abs. 1 Satz 2 AO). Nach §
124 Abs. 1 AO wird der Zinsbescheid erst mit der Bekanntgabe
wirksam.
b) Eine wirksame Bekanntgabe setzt voraus,
dass der zum Erlass befugte Beamte diese veranlasst und dass er mit
dem Willen handelt, den Bescheid bekanntzugeben (Urteil des
Bundesfinanzhofs - BFH - vom 24.11.1988 V R 123/83, BFHE 155, 466,
BStBl II 1989, 344 = SIS 89 07 53; Frotscher in Schwarz, AO, §
122 Rz 11). Der Bekanntgabewille wird regelmäßig dadurch
gebildet, dass der zeichnungsberechtigte Beamte den Bescheid
abzeichnet und die Ausfertigung des Bescheids der Poststelle des FA
zur Absendung zuleitet.
c) Wird der Wille zur Bekanntgabe aufgegeben,
bevor der Bescheid den Herrschaftsbereich der Behörde
verlassen hat, und wird dies in den Akten eindeutig dokumentiert,
wird der Bescheid nach der Rechtsprechung des BFH trotz des
Bekanntgabeakts nicht wirksam (BFH-Urteil vom 23.8.2000 X R 27/98,
BFHE 193, 19, BStBl II 2001, 662 = SIS 01 04 71, m.w.N.).
Unbeachtlich ist die Aufgabe des Bekanntgabewillens jedoch, wenn
der Bescheid - wie im Streitfall - den Herrschaftsbereich der
Behörde bereits verlassen hat (BFH-Urteil vom 12.8.1996 VI R
18/94, BFHE 180, 538, BStBl II 1996, 627 = SIS 96 24 35; Frotscher,
a.a.O., § 122 Rz 12).
d) Unabhängig vom Zeitpunkt der Aufgabe
des Bekanntgabewillens wird ein Bescheid aber auch dann nicht
wirksam, wenn die Behörde dem Empfänger vor oder mit dem
Zugang des Bescheids mitteilt, der Bescheid solle nicht gelten und
ein neuer Bescheid erlassen werden (gl.A. Frotscher, a.a.O., §
124 Rz 12; Tipke in Tipke/Kruse, Abgabenordnung,
Finanzgerichtsordnung, § 124 AO Rz 14).
Für die Entscheidung, wann
Willenserklärungen im öffentlichen Recht wirksam werden,
sind die zivilrechtlichen Grundsätze des § 130 BGB
ergänzend heranzuziehen (Beschluss des
Bundesverwaltungsgerichts vom 22.2.1994 4 B 212/93, Buchholz,
Sammel- und Nachlagewerk der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts, 316, § 41 VwVfG Nr. 2; vgl. z.B.
auch BFH-Urteile vom 18.10.1988 VII R 123/85, BFHE 154, 446, BStBl
II 1989, 76 = SIS 88 24 37, unter I.2.b, und vom 20.12.2006 X R
38/05, BFHE 216, 297, BStBl II 2007, 823 = SIS 07 10 72; Stelkens,
in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 7. Aufl. § 41 Rz 7 f.). Die
Regelung, dass ein Verwaltungsakt mit der Bekanntgabe wirksam wird
(§ 124 Abs. 1 AO), setzt voraus, dass der Verwaltungsakt eine
empfangsbedürftige Willenserklärung ist. Daher wird ein
Verwaltungsakt entsprechend § 130 Abs. 1 Satz 2 BGB nur dann
mit dem Zugang beim Empfänger wirksam, wenn ihm nicht vorher
oder gleichzeitig ein Widerruf zugeht (vgl. Stelkens, a.a.O.,
§ 41 Rz 7, 8). Ein Verwaltungsakt kann bis zu seiner
Bekanntgabe frei widerrufen oder aufgehoben werden, ohne dass die
Voraussetzungen in §§ 130, 131 AO für die
Rücknahme oder den Widerruf eines (wirksamen) Verwaltungsaktes
bzw. die Voraussetzungen in §§ 172 ff. AO für die
Aufhebung oder Änderung von (wirksamen) Steuerbescheiden
vorliegen müssen (vgl. Stelkens, a.a.O., § 41 Rz 8, und
Liebetanz in Obermayer, Verwaltungsverfahrensgesetz, 3. Aufl.,
§ 41 Rz 12).
Aus § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB ergibt sich
nicht, dass eine schriftliche Willenserklärung nur schriftlich
widerrufen werden kann; eine mündliche Mitteilung reicht aus
(MünchKommBGB/ Einsele, 5. Aufl., § 130 Rz 40; Frotscher,
a.a.O., § 124 Rz 12). Entgegen der Auffassung des FG ist
Schriftform auch nicht aus Beweisgründen erforderlich.
Bestehen Zweifel, ob und wann das FA mitgeteilt hat, der noch nicht
zugegangene Bescheid solle nicht gelten, geht dies nach den Regeln
der objektiven Beweislast (Feststellungslast) zu Lasten des FA.
e) Im Streitfall haben die Kläger ihre
Prozessbevollmächtigten als Empfangsbevollmächtigte
bestellt, so dass es für die Wirksamkeit des Zinsbescheids
darauf ankommt, wann der Bescheid den Prozessbevollmächtigten
bekanntgegeben wurde und wann ihnen die Mitteilung des
Sachbearbeiters zuging, dass der Bescheid nicht gelten solle.
Eine Erklärung ist dem Empfänger
zugegangen, wenn sie derart in seinen Machtbereich gelangt ist,
dass unter regelmäßigen Umständen damit zu rechnen
ist, dass er die Erklärung zur Kenntnis nimmt. Auf den
tatsächlichen Zeitpunkt der Kenntnisnahme kommt es nicht an.
Wird die Erklärung einem Empfangsboten übermittelt, ist
sie daher zu dem Zeitpunkt zugegangen, zu dem unter
regelmäßigen Umständen damit zu rechnen ist, dass
der Empfangsbote die Erklärung weiterleitet (vgl. BFH-Urteil
in BFHE 154, 446, BStBl II 1989, 76 = SIS 88 24 37, unter
I.2.b).
Selbst wenn der Mitarbeiter der
Prozessbevollmächtigten nicht zur Entgegennahme von
Willenserklärungen ermächtigt gewesen sein sollte, hat er
die telefonische Mitteilung über die Unwirksamkeit des noch
nicht zugegangenen Bescheids aber jedenfalls als Empfangsbote
entgegengenommen. Unter normalen Umständen war damit zu
rechnen, dass die Prozessbevollmächtigten noch am selben Tag
von der Mitteilung Kenntnis erhielten. Damit ist die Mitteilung den
Prozessbevollmächtigten vor der Bekanntgabe des Zinsbescheids
zugegangen unabhängig davon, ob auf den tatsächlichen
Zugang des Zinsbescheids am 7.10.2005 oder auf den nach § 122
Abs. 2 Nr. 1 AO fingierten Zugang am dritten Tag nach Aufgabe zur
Post abzustellen ist (vgl. BFH-Urteil vom 13.12.2000 X R 96/98,
BFHE 193, 512, BStBl II 2001, 274 = SIS 01 05 76).
2. Da der Bescheid vom 6.10.2005 nicht wirksam
geworden ist, ist der Zinsbescheid vom 17.10.2005 ein erstmaliger
Zinsbescheid. Das FA durfte die Zinsen daher abweichend von dem
(unwirksamen) Bescheid vom 6.10.2005 festsetzen, ohne dass die
Voraussetzungen einer Korrekturvorschrift (§ 129 oder
§§ 172 ff. AO) vorlagen. Eines Hinweises auf die
Unwirksamkeit des Bescheids vom 6.10.2005 bedurfte es nicht.