Kindergeld trotz Erwerbstätigkeit: Geht das Kind in dem Zeitraum, in dem es die gesetzlichen Voraussetzungen eines Berücksichtigungstatbestands i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a bis c EStG erfüllt, einer Erwerbstätigkeit nach und übersteigen seine gesamten Einkünfte und Bezüge den (anteiligen) Jahresgrenzbetrag nicht, besteht ein Anspruch auf Kindergeld unabhängig davon, ob es sich bei der Erwerbstätigkeit um eine Vollzeiterwerbstätigkeit handelt (Änderung der Rechtsprechung). - Urt.; BFH 16.11.2006, III R 15/06; SIS 07 06 05
I. Die Klägerin und
Revisionsklägerin (Klägerin) bezog für ihre am
13.6.1980 geborene Tochter K Kindergeld.
K begann nach Abschluss ihrer
Schulausbildung am 2.10.2000 eine Berufsausbildung zur
Touristikassistentin, die zwei Jahre dauern sollte. Die Ausbildung
wurde zum 30.9.2001 infolge einer psychischen Erkrankung
unterbrochen. Im Oktober 2001 meldete sich K arbeitslos und
beantragte Arbeitslosengeld.
Bei einer routinemäßigen
Überprüfung der Anspruchsvoraussetzungen erklärten
die Klägerin und K im März 2004, K habe in der Zeit vom
5.2.2003 bis zum 31.12.2003 einen Bruttoarbeitslohn von 8.759,78
EUR und in der Zeit vom 1.1.2004 bis zum 4.2.2004 einen solchen von
1.285,20 EUR erzielt.
Daraufhin hob die Beklagte und
Revisionsbeklagte (Familienkasse) mit Bescheid vom 22.4.2004 die
Festsetzung des Kindergeldes für K ab März 2003 mit der
Begründung auf, K habe eine Beschäftigung aufgenommen,
die den Anspruch auf Kindergeld ausschließe. Nach den Daten
der Berufsberatung werde K dort nicht als Bewerberin um eine
berufliche Ausbildungsstelle geführt. Etwaige eigene
Bewerbungen seien nachzuweisen. Das danach für die Zeit von
März 2003 bis Februar 2004 überzahlte Kindergeld von
1.848 EUR habe die Klägerin zu erstatten. Der Einspruch blieb
ohne Erfolg.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab.
Sein Urteil ist in EFG 2006, 1849 = SIS 06 27 68
abgedruckt.
Das FG führte im Wesentlichen aus,
nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) sei
ein Kind nicht nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b und c
des Einkommensteuergesetzes (EStG) zu berücksichtigen, wenn es
einer Vollzeiterwerbstätigkeit nachgehe. Eine
Vollzeiterwerbstätigkeit sei anzunehmen, wenn die erzielten
Einkünfte geeignet seien, das wirtschaftliche Existenzminimum
des Kindes zu sichern. Denn in diesen Fällen fehle es an einem
typisierend anzunehmenden Unterhaltsanspruch gegen die Eltern. Der
Gesetzgeber habe das wirtschaftliche Existenzminimum eines Kindes
für das Jahr 2003 auf 7.188 EUR bemessen. Hieraus ergebe sich
ein monatliches Existenzminimum vom 599 EUR. Überstiegen die
Einkünfte des Kindes aus einer Erwerbstätigkeit diesen
Betrag, sei davon auszugehen, dass es sich wirtschaftlich um eine
Vollzeiterwerbstätigkeit handelt, deren Ertrag geeignet sei,
den existenziellen Bedarf des Kindes zu sichern.
Nach diesen Grundsätzen sei im
Streitfall eine Vollzeiterwerbstätigkeit anzunehmen. Denn der
Brutto-Arbeitslohn von 8.759,78 EUR abzüglich der geltend
gemachten Werbungskosten (1.481,58 EUR) habe 7.278 EUR betragen.
Damit werde der Jahresgrenzbetrag von 7.188 EUR bzw. der
entsprechende Anteil daran überschritten.
Ein Anspruch auf Kindergeld für
Februar 2004 könne ebenfalls nicht festgestellt werden, weil
nicht ersichtlich bzw. nachgewiesen sei, dass K schon vor Ablauf
dieses Monats als nach einem Ausbildungsplatz Suchende zu
berücksichtigen gewesen wäre.
Mit der Revision trägt die
Klägerin im Wesentlichen vor, die vom FG angestellte
Berechnung berücksichtige nicht den Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 11.1.2005 2 BvR 167/02
(BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 = SIS 05 30 28),
wonach die Sozialversicherungsbeiträge aus der
Bemessungsgröße für den Jahresgrenzbetrag
abzusetzen seien. K habe somit im Veranlagungszeitraum 2003
lediglich Einkünfte in Höhe von 6.970,30 EUR erzielt, so
dass der Jahresgrenzbetrag in Höhe von 7.188 EUR
unterschritten sei. Die Auffassung der Familienkasse, eine
Vollzeiterwerbstätigkeit sei unabhängig von der Höhe
der Einkünfte anzunehmen, führe zu einer
Ungleichbehandlung. Ein Kind, das einen Ausbildungsplatz suche und
sich vorübergehend in einem Beschäftigungsverhältnis
befinde, sei als Kind zu berücksichtigen, wenn seine
Einkünfte den Jahresgrenzbetrag nicht
überstiegen.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des
FG und den Bescheid der Familienkasse vom 22.4.2004 in der Fassung
der Einspruchsentscheidung aufzuheben.
Die Familienkasse beantragt, die Revision
zurückzuweisen.
II. Die Revision ist begründet. Sie
führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur
Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen
Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der
Finanzgerichtsordnung - FGO - ).
Das FG hat zu Unrecht einen Anspruch der
Klägerin auf Kindergeld für die Monate März 2003 bis
Januar 2004 allein mit der Begründung verneint, dass K in
diesem Zeitraum einer Vollzeitbeschäftigung nachgegangen und
deshalb nicht als Kind zu berücksichtigen sei.
1. Nach § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. §
32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 EStG wird ein Kind, welches das 18., aber
noch nicht das 27. Lebensjahr vollendet hat, unter anderem beim
Kindergeldberechtigten berücksichtigt, wenn es für einen
Beruf ausgebildet wird (Buchst. a), sich in einer
Übergangszeit von höchstens vier Monaten zwischen zwei
Ausbildungsabschnitten befindet (Buchst. b) oder eine
Berufsausbildung mangels Ausbildungsplatzes nicht beginnen oder
fortsetzen kann (Buchst. c) und wenn es Einkünfte und
Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der
Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, von nicht mehr als
7.188 EUR im Kalenderjahr 2003 bzw. 7.680 EUR im Kalenderjahr 2004
hat (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG). Für jeden Kalendermonat,
in dem die Voraussetzungen nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 EStG
an keinem Tag vorliegen, ermäßigt sich der Grenzbetrag
um 1/12 (§ 32 Abs. 4 Satz 7 EStG). Einkünfte und
Bezüge des Kindes, die auf diese Kalendermonate entfallen,
bleiben außer Ansatz (§ 32 Abs. 4 Satz 8 EStG).
2. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass die
Eltern in den Fällen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst.
a bis c EStG typischerweise durch Unterhaltsleistungen für
ihre Kinder in ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit
beeinträchtigt sind. Übt das Kind eine
Vollzeiterwerbstätigkeit aus, kann es aber in der Regel -
unter Freistellung der Eltern von ihren Unterhaltspflichten -
seinen existenznotwendigen Bedarf selbst decken. Nach
ständiger Rechtsprechung des BFH ist daher ein Kind, auch wenn
die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a, b
oder c EStG im Übrigen vorliegen, in den Monaten einer
Vollzeiterwerbstätigkeit nicht als Kind zu
berücksichtigen, weil es in diesen Monaten typischerweise an
einer verminderten wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der
Eltern fehlt, die eine Entlastung durch Kindergeld rechtfertigt
(BFH-Urteile vom 19.10.2001 VI R 39/00, BFHE 197, 92, BStBl II
2002, 481 = SIS 02 02 19; vom 15.9.2005 III R 67/04, BFHE 211, 452,
BStBl II 2006, 305 = SIS 06 07 04).
3. Das FG hat auf der Grundlage der
BFH-Rechtsprechung K für die Monate März 2003 bis
Dezember 2004 nicht als Kind berücksichtigt, weil sie in
diesem Zeitraum einer Vollzeiterwerbstätigkeit nachgegangen
sei. Eine Vollzeiterwerbstätigkeit sei anzunehmen, weil die
Einkünfte der K in diesem Zeitraum das wirtschaftliche
Existenzminimum, das dem (anteiligen) Jahresgrenzbetrag entspreche,
überstiegen hätten. Nach Auffassung der Verwaltung kommt
es dagegen für die Annahme einer Vollzeiterwerbstätigkeit
nicht auf die Höhe der erzielten Einnahmen an, sondern darauf,
ob das Arbeitsverhältnis über zumindest drei Viertel der
branchenüblichen, tariflichen oder allgemein betriebsintern
festgesetzten Arbeitszeit abgeschlossen ist (Dienstanweisung zur
Durchführung des steuerlichen Familienleistungsausgleichs nach
dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes 63.3.2.6 Abs. 2a Satz
2). Der Senat hat für die Abgrenzung der
Vollzeiterwerbstätigkeit von der Teilzeitbeschäftigung
bisher ebenfalls auf die Arbeitszeit abgestellt, aber noch nicht
abschließend geklärt, unter welchen Voraussetzungen im
Einzelnen eine Vollzeiterwerbstätigkeit anzunehmen ist (vgl.
BFH-Urteile in BFHE 211, 452, BStBl II 2006, 305 = SIS 06 07 04;
vom 23.2.2006 III R 82/03, BFHE 212, 476, BFH/NV 2006, 1390 = SIS 06 22 79; III R 8/05, III R 46/05, BFHE 212, 486, BFH/NV 2006, 1391
= SIS 06 22 78).
4. Im Streitfall kann der Senat unentschieden
lassen, welche Kriterien die Annahme einer
Vollzeiterwerbstätigkeit rechtfertigen und ob die
Erwerbstätigkeit der K als Vollzeiterwerbstätigkeit zu
beurteilen ist. Denn wenn - wie im Streitfall - die gesamten
Einkünfte und Bezüge des Kindes im maßgebenden
Zeitraum den anteiligen Jahresgrenzbetrag nicht überschreiten,
kann der Anspruch auf Kindergeld nicht aufgrund einer
Vollzeiterwerbstätigkeit entfallen.
Zwar hat der BFH in den Urteilen in BFHE 197,
92, BStBl II 2002, 481 = SIS 02 02 19 (unter II. 2. e) und in BFHE
212, 486, BFH/NV 2006, 1391 = SIS 06 22 78 (unter II. 2. a)
beiläufig ausgeführt, ein Kind sei für die Dauer der
Vollzeiterwerbstätigkeit auch dann nicht zu
berücksichtigen, wenn seine Einkünfte und Bezüge -
bei Einbeziehung der Einkünfte aus der
Vollzeiterwerbstätigkeit - insgesamt den Jahresgrenzbetrag
nicht übersteigen würden. Diese Einschränkung des
Kindergeldanspruchs sei als Folge der typisierenden Betrachtung
hinzunehmen, weil die Kinder während der Dauer ihrer
Vollzeiterwerbstätigkeit ihre Eltern regelmäßig
nicht mit Unterhaltsansprüchen belasten würden. Hieran
hält der Senat nicht mehr fest.
Die vom Wortlaut abweichende Auslegung, dass
die Tatbestände des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a
bis c EStG in den Monaten einer Vollzeiterwerbstätigkeit des
Kindes nicht erfüllt sind, wirkte sich in den bisher
entschiedenen Fällen zu Gunsten der Kindergeldberechtigten
aus. Wären die Kinder auch in den Monaten der
Vollzeiterwerbstätigkeit berücksichtigt worden,
hätten ihre Einkünfte den Jahresgrenzbetrag
überschritten und es wäre der Kindergeldanspruch für
das gesamte Kalenderjahr entfallen. Dadurch, dass die Kinder nur in
den Monaten berücksichtigt wurden, in denen sie nicht
vollzeiterwerbstätig waren, überstiegen die
Einkünfte und Bezüge den anteiligen Jahresgrenzbetrag
nicht und es blieb der Anspruch auf Kindergeld für diese
Monate erhalten.
Diese einschränkende Auslegung darf
jedoch nicht dazu führen, dass das Existenzminimum des Kindes
bezogen auf das Kalenderjahr beim Kindergeldberechtigten nicht
entsprechend den verfassungsrechtlichen Vorgaben durch das
Kindergeld oder den Kinderfreibetrag von der Einkommensteuer
freigestellt wird. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass die Eltern
wirtschaftlich durch Unterhaltsleistungen für ihre Kinder
belastet sind, wenn die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 1
Nr. 1 oder 2 EStG vorliegen und die Einkünfte und Bezüge,
die das Kind im Kalenderjahr erhalten hat, den am Existenzminimum
eines Erwachsenen ausgerichteten Jahresgrenzbetrag - bzw. den
anteiligen Jahresgrenzbetrag, wenn das Kind die Voraussetzungen des
§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 oder 2 EStG nicht während des
gesamten Jahres erfüllt (§ 32 Abs. 4 Satz 7 EStG) - nicht
übersteigen. Durch die Regelung in § 32 Abs. 4 Satz 2
EStG soll erreicht werden, dass Eltern solange durch die
Gewährung von Kindergeld bzw. den Kinderfreibetrag entlastet
werden, als das Kind einen Tatbestand i.S. des § 32 Abs. 4
Satz 1 Nr. 1 und 2 EStG erfüllt und in diesem Zeitraum keine
eigenen Einkünfte und Bezüge in Höhe seines
Existenzminimums hat (Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich,
Kommentar, Fach A, I. Kommentierung, § 32 EStG Rz. 88). Diesem
Regelungszweck würde es widersprechen, ein Kind für die
Monate einer Vollzeiterwerbstätigkeit nicht zu
berücksichtigen, auch wenn es die Voraussetzungen eines
Berücksichtigungstatbestands grundsätzlich erfüllt
und seine gesamten Einkünfte und Bezüge
(einschließlich der Einkünfte aus der
Vollzeiterwerbstätigkeit) den (anteiligen) Jahresgrenzbetrag
nicht überschreiten. Denn bezogen auf das Kalenderjahr (bzw.
den abgekürzten Zeitraum) sind die Eltern typischerweise mit
Unterhaltszahlungen belastet und deshalb durch die Gewährung
eines Kinderfreibetrags zu entlasten bzw. durch das Kindergeld zu
fördern.
5. Da die Einkünfte von K im Zeitraum
März 2003 bis Januar 2004 nach Abzug der
Sozialversichersicherungsbeiträge entsprechend der
Entscheidung des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage
3, 260 = SIS 05 30 28 jeweils den anteiligen Jahresgrenzbetrag nach
§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG unterschritten haben - Bezüge
i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG hatte K nicht -, hängt
der Anspruch auf Kindergeld im Streitfall davon ab, ob K im
Zeitraum März 2003 bis Januar 2004 trotz ihrer
Erwerbstätigkeit weiterhin eine Ausbildung anstrebte und nur
mangels Ausbildungsplatz gehindert war, eine Berufsausbildung zu
beginnen oder fortzusetzen (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c
EStG). Ob diese Voraussetzung erfüllt ist, kann der Senat
mangels entsprechender Feststellungen des FG, die es aus seiner
Sicht zu Recht nicht getroffen hat, nicht entscheiden. Das FG wird
im zweiten Rechtsgang die entsprechenden Feststellungen nachzuholen
haben.
6. Das FG hat den Anspruch der Klägerin
auf Kindergeld für Februar 2004 hingegen zu Recht verneint.
Insofern waren nach den den Senat bindenden Feststellungen des FG
(§ 118 Abs. 2 FGO) die Voraussetzungen von § 32 Abs. 4
Satz 1 Nr. 2 EStG nicht nachgewiesen.