Teilzeit-erwerbstätiges Kind: Geht ein volljähriges Kind, das die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b EStG erfüllt, einer Teilzeiterwerbstätigkeit von 20 Stunden in der Woche nach, besteht weiterhin eine typische Unterhaltssituation, die es rechtfertigt, für das Kind Kindergeld zu gewähren, sofern die Einkünfte und Bezüge den Jahresgrenzbetrag nicht übersteigen. Die Höhe der von dem Kind erzielten Einkünfte und Bezüge ist für die Beurteilung, ob eine die Berücksichtigung als Kind ausschließende Vollzeiterwerbstätigkeit anzunehmen ist, nicht entscheidend. - Urt.; BFH 23.2.2006, III R 82/03; SIS 06 22 79
I. Die
Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) erhielt
zunächst Kindergeld für ihre am 21.11.1976 geborene
Tochter J, die ab dem 1.9.1997 an einer Fachhochschule studierte
und im Haushalt der Klägerin lebte. Unter dem 10.5.1998 teilte
die Klägerin der Beklagten und Revisionsklägerin
(Familienkasse) mit, J habe ab dem 1.5.1998 bis voraussichtlich zum
31.12.1998 eine Erwerbstätigkeit aufgenommen und werde daraus
Bruttoeinnahmen von 2.000 DM monatlich erzielen. J hatte am
20.4.1998 einen unbefristeten Anstellungsvertrag mit einer Firma zu
einem monatlichen Bruttogehalt von 2.000 DM bei einer
wöchentlichen Arbeitszeit von 20 Stunden
abgeschlossen.
Mit Bescheid
vom 23.6.1998 änderte die Familienkasse die Festsetzung des
Kindergeldes ab Januar 1998 nach § 175 Abs. 1 Nr. 2 der
Abgabenordnung (AO 1977) und setzte das Kindergeld auf Null DM
fest. Das bis Mai 1998 bereits gezahlte Kindergeld von insgesamt
1.100 DM forderte die Familienkasse mit der Begründung
zurück, die Einkünfte und Bezüge der J
überstiegen für 1998 den Jahresgrenzbetrag von 12.360 DM
gemäß § 32 Abs. 4 Satz 2 des
Einkommensteuergesetzes (EStG) in der für das Streitjahr 1998
geltenden Fassung. Den hiergegen gerichteten Einspruch wies die
Familienkasse zurück.
Mit der Klage
wandte sich die Klägerin gegen die Versagung des Kindergelds
für die Monate Januar bis April und September bis Dezember
1998. Sie trug vor, J habe im April 1998 ihr Studium abgebrochen
und am 1.9.1998 mit dem Abschluss eines Berufsausbildungsvertrags
mit dem Unternehmen ihre Ausbildung fortgesetzt. Damit liege eine
kindergeldschädliche Übergangszeit von mehr als vier
Monaten i.S. von § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b EStG vor,
so dass die in den Monaten Mai bis August 1998 erzielten
Einkünfte in Höhe von 8.333,33 DM außer Betracht
bleiben müssten. Die in der Zeit vom 1. September bis
31.12.1998 erzielten Einkünfte in Höhe von 8.704 DM
abzüglich des anteiligen Werbungskostenpauschbetrags
lägen unterhalb des anteiligen Grenzbetrags von 8.240 DM. Zum
Nachweis des Studienabbruchs legte die Klägerin eine
Bescheinigung der Fachhochschule vor, aus der sich ergibt, dass J
mit Ablauf des Sommersemesters 1998 zum 31.8.1998 exmatrikuliert
wurde, jedoch keinerlei Leistungsnachweise oder Belegungen für
das Sommersemester registriert sind und J das Studium in dieser
Zeit nicht betrieben hatte.
Das
Finanzgericht (FG) gab der Klage statt. Das Urteil ist in DStRE
2003, 1386 = SIS 03 51 20 und in juris veröffentlicht. Das FG
führte im Wesentlichen aus: J habe von Mai bis September 1998
nur 20 Wochenstunden gearbeitet. Bei dem monatlichen Bruttolohn von
2.000 DM sei sie indes in der Lage gewesen, ihren Unterhalt zu
bestreiten, sodass die Klägerin keinen Unterhalt habe leisten
müssen. Demnach seien der Grenzbetrag und die von J erzielten
Einkünfte anteilig anzusetzen. J habe in den Monaten September
bis Dezember 1998 einen Bruttolohn von insgesamt 8.704 DM erzielt.
Die während der Erwerbstätigkeit von Mai bis August 1998
erzielten Bruttoeinnahmen von 8.333,33 DM blieben außer
Betracht. Der Grenzbetrag von 12.360 DM sei wie folgt anteilig
anzusetzen: 12.360 DM: 12 x 8 = 8.240 DM. Von den während der
Ausbildungszeit erzielten Einkünften in Höhe von
insgesamt 8.704 DM sei der Werbungskostenpauschbetrag nach §
9a EStG von 2.000 DM anteilig in Höhe von 8/12 = 1.333 DM
abzuziehen, sodass sich im Streitfall Einkünfte und
Bezüge der J für 1998 in Höhe von 7.371 DM
ergäben, die unter dem anteiligen Grenzbetrag lägen. Der
Klägerin stehe damit wie beantragt Kindergeld für die
Monate Januar bis April und September bis Dezember 1998 zu.
Lediglich für Mai 1998 sei das Kindergeld zurückzuzahlen
bzw. zu verrechnen.
Mit der
Revision trägt die Familienkasse vor: J sei während des
gesamten Kalenderjahres 1998 als Kind zu berücksichtigen. Sie
habe sich von Mai bis August 1998 gemäß § 32 Abs. 4
Satz 1 Nr. 2 Buchst. b EStG in einer Übergangszeit zwischen
zwei Ausbildungsabschnitten von höchstens vier Monaten
befunden, da der nächste Ausbildungsabschnitt in dem Monat
nach Ablauf des vierten vollen Kalendermonats begonnen habe
(September 1998). Eine Übergangszeit i.S. des § 32 Abs. 4
Satz 1 Nr. 2 Buchst. b EStG sei nur dann nicht anzunehmen, wenn das
Kind in diesem Zeitraum einer Vollzeiterwerbstätigkeit
nachgehe, unabhängig von der Höhe der erzielten
Einkünfte (Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 19.10.2001
VI R 39/00, BFHE 197, 92, BStBl II 2002, 481 = SIS 02 02 19, und
vom 14.5.2002 VIII R 83/98, BFH/NV 2002, 1551 = SIS 03 02 23).
Entscheidend sei nur der Umfang der Arbeitszeit. Dass J
während ihrer Teilzeiterwerbstätigkeit von Mai bis August
1998 imstande gewesen sei, ihren Lebensunterhalt sicherzustellen,
sei unerheblich.
Die
Familienkasse beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage
abzuweisen.
Die
Klägerin beantragt, die Revision
zurückzuweisen.
II.
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des
angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an
das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126
Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO - ).
Entgegen der
Auffassung des FG ist J im gesamten Kalenderjahr 1998 nach §
32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a bzw. Buchst. b EStG als Kind zu
berücksichtigen, so dass für die Prüfung, ob der
Grenzbetrag § 32 Abs. 4 Sätze 2 ff. EStG
überschritten ist, ihre gesamten im Kalenderjahr 1998
bezogenen Einkünfte und Bezüge zu berücksichtigen
sind.
1.
Nach § 62, § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4
Satz 1 Nr. 2 EStG wird ein Kind, welches das 18., aber noch nicht
das 27. Lebensjahr vollendet hat, unter anderem beim
Kindergeldberechtigten berücksichtigt, wenn es für einen
Beruf ausgebildet wird (Buchst. a), sich in einer
Übergangszeit zwischen zwei Ausbildungsabschnitten von
höchstens vier Monaten befindet (Buchst. b) oder eine
Berufsausbildung mangels Ausbildungsplatzes nicht beginnen oder
fortsetzen kann (Buchst. c) und wenn es Einkünfte und
Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der
Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, von nicht mehr als
12.360 DM im Kalenderjahr hat (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG).
Für jeden Kalendermonat, in dem die Voraussetzungen nach
§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 EStG nicht vorliegen,
ermäßigt sich der Betrag nach Satz 2 um ein
Zwölftel (§ 32 Abs. 4 Satz 6 EStG). Einkünfte und
Bezüge, die auf diese Kalendermonate entfallen, bleiben
außer Ansatz (§ 32 Abs. 4 Satz 7 EStG).
2.
Für die Monate Januar bis April und September bis Dezember
1998 ist J nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG als
Kind zu berücksichtigen. Denn von Januar bis April befand sie
sich im Studium und ab September in einem
Ausbildungsdienstverhältnis. Zwar wurde sie erst zum 31.8.1998
exmatrikuliert, d.h. aus dem Verzeichnis der Fachhochschule
gestrichen. Sie hatte ihr Studium jedoch im Mai nicht mehr
fortgesetzt, sondern diese Ausbildung mit dem Abschluss des
Vertrags im April 1998 über eine unbefristete Anstellung ab
1.5.1998 spätestens Ende April 1998 abgebrochen (vgl.
BFH-Urteil vom 17.11.2004 VIII R 56/04, BFH/NV 2005, 693 = SIS 05 18 27). Nach dem Monatsprinzip (vgl. BFH-Urteil vom 17.2.2004 VIII
R 34/03, BFH/NV 2004, 1094 = SIS 04 30 22) ist J noch für den
ganzen Monat April 1998, in dem sie sich zeitweise noch im Studium
befand, zu berücksichtigen. Mit der Aufnahme des
Ausbildungsdienstverhältnisses zum 1.9.1998 hat sie eine neue
Ausbildung begonnen.
3.
Im Zeitraum Mai bis August ist J nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2
Buchst. b EStG als Kind zu berücksichtigen.
Die
Vier-Monats-Frist des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b EStG
ist nicht taggenau zu berechnen, sondern umfasst vier volle
Kalendermonate (BFH-Urteil vom 15.7.2003 VIII R 105/01, BFHE 203,
102, BStBl II 2003, 847 = SIS 03 45 48; ebenso H 180a des Amtlichen
Einkommensteuer-Handbuchs; DA 63.3.3 Abs. 1 der Dienstanweisung zur
Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X.
Abschnitt des Einkommensteuergesetzes - DA-FamEStG - ).
Da
J frühestens im April 1998 das Studium abgebrochen und damit
einen Ausbildungsabschnitt beendet hat, hat sie mit dem Beginn des
Ausbildungsdienstverhältnisses zum 1.9.1998 die
Vier-Monats-Frist nicht überschritten.
4.
Entgegen der Auffassung des FG entfällt die
Berücksichtigung der J als Kind in der Übergangszeit
zwischen den beiden Ausbildungsabschnitten von Mai bis August 1998
nicht durch deren Erwerbstätigkeit.
Wie
der Senat in dem Urteil vom 15.9.2005 III R 67/04 (BFH/NV 2006, 656
= SIS 06 07 04) ausgeführt hat, sind die Voraussetzungen des
§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b EStG nicht erfüllt,
wenn das Kind in der Übergangszeit einer
Vollzeiterwerbstätigkeit nachgeht. Dies beruht auf der
typisierenden Annahme, dass - unabhängig von der Höhe der
von dem Kind in dieser Zeit erzielten Einkünfte und
Bezüge - eine Unterhaltspflicht der Eltern nicht besteht
(BFH-Urteil vom 16.3.2004 VIII R 65/03, BFH/NV 2004, 1522 = SIS 04 38 61). Entscheidend ist daher nicht, ob das Kind über eigene
seinen Lebensunterhalt sichernde Mittel verfügt und deshalb
nicht auf Unterhaltsansprüche angewiesen ist. Die Höhe
der von dem Kind erzielten Einkünfte und Bezüge ist nur
bei der Ermittlung des Grenzbetrags des § 32 Abs. 4 Satz 2
EStG zu prüfen. Abzustellen ist nicht auf die konkrete
Unterhaltssituation, sondern darauf, ob typischerweise eine
Unterhaltssituation der Eltern gegenüber dem Kind besteht,
auch wenn diese typisierende Annahme im Einzelfall nicht zutrifft
(BFH-Urteil vom 30.11.2004 VIII R 9/04, BFH/NV 2005, 860 = SIS 05 21 99).
Der
Senat kann offen lassen, ob - wie die Verwaltung meint - eine
typische Unterhaltssituation anzunehmen ist, solange das
Arbeitsverhältnis drei Viertel der üblichen Arbeitszeit
nicht übersteigt (DA 63.3.3 Abs. 4 Satz 2 i.V.m. DA 63.3.2.6
Abs. 2 a Satz 2 DA-FamEStG). Eine Beschäftigung von 20
Wochenstunden - wie im Streitfall -, was etwa der Hälfte der
üblichen regelmäßigen Arbeitszeit von Arbeitnehmern
entspricht, reicht jedenfalls typischerweise nicht aus, den
üblichen Lebensunterhalt zu sichern. Bei einem in einem
solchen Arbeitsverhältnis stehenden Kind besteht daher eine
typische Unterhaltssituation gegenüber den Eltern, die es
rechtfertigt, das Kind gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr.
2 Buchst. b EStG zu berücksichtigen.
5.
Da das FG von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen ist, war
sein Urteil aufzuheben. Die Sache ist nicht spruchreif. Der
Kindergeldanspruch der Klägerin hängt davon ab, ob J
Einkünfte und Bezüge i.S. von § 32 Abs. 4 Satz 2
EStG erzielt hat, die den Grenzbetrag von 12.360 DM
übersteigen. Dazu liegen keine ausreichenden
tatsächlichen Feststellungen vor. Die Sache wird daher an das
FG zurückverwiesen.
J erzielte in den Monaten Mai bis August 1998
Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit von 8.333,33 DM und
von September bis Dezember von 8.704 DM (Ausbildungsvergütung
monatlich 1.076 DM zuzüglich monatlicher Prämie 1.100
DM), insgesamt 17.037,33 DM. Nach Abzug des
Arbeitnehmerpauschbetrags gemäß § 9a EStG in der
für das Streitjahr geltenden Fassung von 2.000 DM verbleiben
Einkünfte von 15.037,33 DM. Nach dem Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts vom 11.1.2005 2 BvR 167/02 (BFH/NV 2005,
Beilage 3, 260 = SIS 05 30 28) sind bei der Ermittlung des
Grenzbetrags gemäß § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG
diejenigen Beträge nicht in die Bemessungsgröße des
§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG einzubeziehen, die - wie die
gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge - von Gesetzes wegen
dem Einkünfte erzielenden Kind oder dessen Eltern nicht zur
Verfügung stehen und deshalb keine Entlastung der Eltern
bewirken können, sondern anderen Zwecken als der Bestreitung
des Unterhalts zu dienen bestimmt sind. Das FG wird zu prüfen
haben, ob bei J weitere Zuflüsse einzubeziehen sind und ob
unter Berücksichtigung der Sozialversicherungsbeiträge
und ggf. weiterer weder ihr noch der Klägerin verfügbarer
Abzugsbeträge der Grenzbetrag überschritten ist.