Schwellenwert für Arbeitnehmer-Amtsveranlagung bei LuF-Einkünften und Altersentlastungsbetrag: Beträgt die positive oder die negative Summe der einkommensteuerpflichtigen Einkünfte, die nicht dem Steuerabzug vom Arbeitslohn zu unterwerfen waren, vermindert um die darauf entfallenden Beträge nach § 13 Abs. 3 und § 24 a EStG, jeweils mehr als 800 DM (410 EUR), ist eine Veranlagung nach § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG von Amts wegen durchzuführen. - Urt.; BFH 21.9.2006, VI R 52/04; SIS 06 42 41
I. Der Kläger und Revisionskläger
(Kläger) reichte seine Einkommensteuererklärung für
das Streitjahr 2000, mit der er Einkünfte aus
nichtselbständiger Arbeit und einen Verlust aus Vermietung und
Verpachtung in Höhe von 7.312 DM deklarierte, am 11.2.2003
beim Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA - ) ein. Die
negativen Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung ergaben
sich aus einheitlichen und gesonderten Feststellungen.
Das FA lehnte die Veranlagung ab. Die Klage
hatte ebenfalls keinen Erfolg (vgl. SIS 05 13 73). Die
Voraussetzungen für eine Veranlagung von Amts wegen seien
nicht gegeben. Unter Einkünften i.S. von § 46 Abs. 2 Nr.
1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) sei der Überschuss der
Einnahmen über die Werbungskosten zu verstehen, sodass ein
Verlust aus Vermietung und Verpachtung nicht zu einer
Pflichtveranlagung führen könne. Der Antrag nach §
46 Abs. 2 Nr. 8 EStG sei nicht fristgemäß gestellt
worden. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand habe das FA zu Recht
abgelehnt.
Mit der Revision rügt der Kläger
Verletzung formellen und materiellen Rechts. Entgegen der Ansicht
des Finanzgerichts (FG) sei eine Veranlagung von Amts wegen nach
§ 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG durchzuführen. Die Vorschrift sei
so zu verstehen, dass auch negative Einkünfte von mehr als 800
DM zu einer Pflichtveranlagung führen müssten.
Darüber hinaus habe das FG zu Unrecht Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand verweigert.
Der Kläger beantragt, das angefochtene
Urteil, die Nichtveranlagungsverfügung sowie die
Einspruchsentscheidung aufzuheben und das FA zu verpflichten, ihn
für den Veranlagungszeitraum 2000 zur Einkommensteuer zu
veranlagen.
Das FA beantragt, die Revision
zurückzuweisen, hilfsweise, das Verfahren bis zur Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) über die
Vorlagebeschlüsse zu § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG
auszusetzen.
II. Die Revision des Klägers ist
begründet. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und der
Klage stattzugeben (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der
Finanzgerichtsordnung - FGO - ). Entgegen der Ansicht der
Vorinstanz ist der Kläger zur Einkommensteuer zu
veranlagen.
1. Besteht das Einkommen ganz oder teilweise
aus Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit, von denen
ein Steuerabzug vorgenommen worden ist, wird eine Veranlagung nur
unter den in § 46 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 8 EStG genannten
Voraussetzungen durchgeführt. Im Streitfall liegen die
Voraussetzungen für eine Veranlagung von Amts wegen nach
§ 46 Abs. 2 Nr. 1, 1. Alternative EStG vor. Nach dieser
Vorschrift wird die Veranlagung durchgeführt, wenn die Summe
der einkommensteuerpflichtigen Einkünfte, die nicht dem
Steuerabzug vom Arbeitslohn zu unterwerfen waren, vermindert um die
darauf entfallenden Beträge nach § 13 Abs. 3 und §
24a EStG, mehr als 800 DM beträgt.
a) Die Einkünfte i.S. des § 46 Abs.
2 Nr. 1 EStG bestimmen sich nach Grund und Höhe nach
Maßgabe der §§ 2 bis 24 EStG (Urteile des
Bundesfinanzhofs - BFH - vom 24.4.1961 VI 246/60 U, BFHE 73, 113,
BStBl III 1961, 310, 311 = SIS 61 02 11, und vom 12.2.1976 IV R
8/73, BFHE 118, 209, BStBl II 1976, 413 = SIS 76 02 18; Schmidt/
Glanegger, EStG, 25. Aufl., § 46 Rz. 51; Trzaskalik, in:
Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 46 Rdnr. B 7;
Blümich/ Heuermann, § 46 EStG Rz. 57). Danach liegen
grundsätzlich auch Einkünfte vor, wenn die
Erwerbsaufwendungen die Erwerbseinnahmen übersteigen. Der
Begriff „Einkünfte“ umfasst nach der
Begriffsbestimmung des § 2 Abs. 2 EStG - auch ohne
ausdrückliche tatbestandliche Anordnung - nicht nur die
positiven, sondern auch die negativen Einkünfte, also den
Verlust und den Werbungskostenüberschuss (vgl. bereits
BFH-Urteil in BFHE 73, 113, BStBl III 1961, 310 = SIS 61 02 11,
m.w.N.; Kirchhof, in: Kirchhof/Söhn/ Mellinghoff, EStG, §
2 Rdnr. B 66 ff., m.w.N.). § 2 Abs. 3 EStG knüpft daran
an, fasst die Beträge der Einkünfte aus den einzelnen
Einkunftsarten in einer Summe zusammen, gibt damit dem
Verlustausgleich die Rechtsgrundlage und setzt zugleich auch die
Möglichkeit einer negativen Summe der Einkünfte
voraus.
Die Summe der einkommensteuerpflichtigen
Einkünfte, die nicht dem Steuerabzug vom Arbeitslohn zu
unterwerfen waren, kann ebenfalls positiv oder negativ sein. Auch
der Wortlaut des § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG enthält keine
ausdrückliche Beschränkung auf die positive Summe der
Einkünfte. Dagegen unterscheidet das EStG für andere
Konstellationen durchaus zwischen der positiven und der negativen
Summe der Einkünfte. In § 2 Abs. 3 EStG i.d.F. des
Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 (StEntlG 1999/2000/2002)
vom 24.3.1999 (BGBl I 1999, 402, BStBl I 1999, 304) setzt der
Gesetzgeber in Satz 1 noch positive und negative Einkünfte
voraus, verwendet dann aber in den folgenden Sätzen neben dem
Begriff der „Summe der Einkünfte“ die
Begriffe „Summe der positiven Einkünfte“,
„negative Summen der Einkünfte“ und
„Summe der negativen Einkünfte“. § 24a
Satz 1 EStG spricht ausdrücklich von der „positiven
Summe der Einkünfte“. In § 39a Abs. 1 Nr. 5b
EStG wird hinsichtlich des Freibetrags, der auf der Lohnsteuerkarte
vom Arbeitslohn abzuziehen ist, unter anderem die
„negative Summe der Einkünfte im Sinne des § 2
Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 3, 6 und 7“ genannt. Das EStG
enthält damit eine differenzierte Terminologie zu den
Maßgrößen der Einkünfte. Dieser Wortlaut
deutet darauf hin, dass, wenn das Gesetz - wie in § 46 Abs. 2
Nr. 1 EStG - nicht ausdrücklich bestimmt, dass nur die
positive oder nur die negative Summe der Einkünfte gemeint
ist, § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG nach seinem Wortlaut an den
Regelfall anknüpft und deshalb die positiven und die negativen
Einkünfte umfasst.
Die systematische und teleologische Auslegung
des § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG bestätigt dieses
Normverständnis. § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG soll der
Vereinfachung dienen (BFH-Urteil vom 10.1.1992 VI R 117/90, BFHE
167, 152, BStBl II 1992, 720 = SIS 92 12 34; Nolde in
Herrmann/Heuer/Raupach - HHR -, § 46 EStG Anm. 75;
Blümich/ Heuermann, § 46 EStG Rz. 53; vgl. auch BTDrucks
11/2157, S. 164; kritisch Trzaskalik, in:
Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 46 Rdnr. B 6). Aus dem
systematischen Zusammenhang, in dem § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG
steht, ergibt sich, dass es der Gesetzgeber zur
Verfahrensvereinfachung beim Lohnsteuerabzug belassen will (§
46 Abs. 4 Satz 1 EStG), wenn nicht - in den in § 46 Abs. 2 Nr.
1 bis Nr. 8 EStG genannten Veranlagungsfällen - eine Korrektur
dieses Verfahrens erforderlich ist.
Ziel der nach § 46 Abs. 2 EStG
durchzuführenden Veranlagung ist die Herstellung steuerlicher
Gleichheit zwischen allen Steuerpflichtigen durch Festsetzung der
materiell richtigen Einkommensteuer (vgl. auch BVerfG-Beschluss vom
13.12.1967 1 BvR 679/64, BVerfGE 23, 1, BStBl II 1968, 70 = SIS 68 00 47). Mit der Veranlagung sollen im Lohnsteuerverfahren
systembedingt auftretende Steuerüber- und -untererhebungen
ausgeglichen werden. Diesem Gesetzeszweck entspricht es, § 46
Abs. 2 Nr. 1 EStG dahin auszulegen, dass eine Veranlagung von Amts
wegen nicht nur dann durchzuführen ist, wenn die positive
Summe der Einkünfte, die nicht dem Steuerabzug vom Arbeitslohn
zu unterwerfen waren (Nebeneinkünfte), den Betrag von 800 DM
(410 EUR) übersteigt, sondern auch, wenn die negative Summe
der betreffenden Nebeneinkünfte diesen Betrag übersteigt.
Denn die Abweichung des Lohnsteuerabzugs von der materiell
richtigen Einkommensteuer gewinnt nicht nur mit zunehmend
höheren positiven, sondern auch mit zunehmend höheren
negativen Nebeneinkünften wachsende Bedeutung. Je höher
die Summe der positiven oder negativen Nebeneinkünfte ist,
umso mehr weicht die in Form des Lohnsteuerabzugs tatsächlich
erhobene Einkommensteuer von der materiell richtigen
Einkommensteuer ab. Die verfassungsrechtlich gebotene
gleichheitsgerechte Besteuerung nach der finanziellen
Leistungsfähigkeit würde damit im Hinblick auf die
„horizontale“ und „vertikale“
Steuergerechtigkeit (vgl. BVerfG-Beschluss vom 16.3.2005 2 BvL
7/00, BVerfGE 112, 268 = SIS 05 30 25) sowohl bei einer
höheren positiven als auch bei einer höheren negativen
Summe der Nebeneinkünfte zunehmend verfehlt.
Dieses der Steuergerechtigkeit und der
Gleichmäßigkeit der Besteuerung widersprechende Ergebnis
wird durch die vom Senat für zutreffend erachtete Auslegung
von § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG vermieden. Denn sie führt
dazu, dass nur in einem Bereich, in dem die negativen oder
positiven Nebeneinkünfte den Betrag von 800 DM nicht
übersteigen, keine Amtsveranlagung durchzuführen ist.
Damit wird einerseits der Vereinfachung Rechnung getragen, indem
Pflichtveranlagungen ohne oder mit nur geringen
Steuernachforderungen oder Steuererstattungen unterbleiben.
Andererseits wird eine gleichmäßige Festsetzung der
Einkommensteuer erreicht, die den im Lohnsteuerverfahren
auftretenden Steuerüber- und -untererhebungen
gleichermaßen Rechnung trägt.
Die Regelungen über den
Härteausgleich in § 46 Abs. 3 und Abs. 5 EStG stehen dem
nicht entgegen. In § 46 Abs. 2 EStG sind die Voraussetzungen
festgelegt, unter denen bei Bezug von Einkünften aus
nichtselbständiger Arbeit eine Veranlagung durchgeführt
wird. Die Härteausgleichsvorschriften sind bei der Veranlagung
anzuwenden. Die Durchführung der Veranlagung selbst wird durch
das Verfahren bei der Ermittlung des Härteausgleichsbetrags
aber nicht berührt (BFH-Urteil vom 2.12.1971 IV R 142/70, BFHE
104, 337, BStBl II 1972, 278 = SIS 72 01 65). Die Regelungen
über den Härteausgleich werden auch nicht gegenstandslos.
Denn der Härteausgleich nach § 46 Abs. 3 bzw. Abs. 5 EStG
kommt ohnehin nur in Betracht, wenn die Summe der
einkommensteuerpflichtigen Nebeneinkünfte einen positiven
Betrag ergibt (vgl. BFH-Urteil vom 19.11.1965 VI 120/64 U, BFHE 84,
297, BStBl III 1966, 108 = SIS 66 00 63; Nolde in HHR, § 46
EStG Anm. 195, m.w.N.).
Auch aus § 1 Abs. 3, § 13 Abs. 3,
§ 32 Abs. 4 Satz 2 und § 33a Abs. 1 Satz 4 EStG ergibt
sich für die Auslegung von § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG nichts
anderes. § 1 Abs. 3 EStG betrifft u.a. „die nicht der
deutschen Einkommensteuer unterliegenden Einkünfte“.
§ 13 Abs. 3 Satz 1 EStG bezieht sich auf
„Einkünfte“ aus Land- und Forstwirtschaft.
In Satz 2 der Vorschrift wird der Begriff „Summe der
Einkünfte“ verwendet. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG
und § 33a Abs. 1 Satz 4 EStG sprechen von Einkünften und
Bezügen. Wie der Senat oben bereits dargelegt hat,
enthält das EStG eine differenzierte Terminologie zu den
Maßgrößen der Einkünfte. Die Frage, ob der
Begriff der (Summe der) Einkünfte nur im Sinne eines positiven
oder auch eines negativen Betrags zu verstehen ist, ist durch
Auslegung der jeweiligen Vorschriften zu beantworten. Folglich kann
die Auslegung von § 1 Abs. 3, § 13 Abs. 3, § 32 Abs.
4 Satz 2 und § 33a Abs. 1 Satz 4 EStG nicht entscheidend
dafür sein, wie § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG auszulegen ist.
Denn diese Vorschriften und § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG regeln
völlig andere Sachverhalte, dienen verschiedenen Zwecken und
stehen in unterschiedlichen systematischen Zusammenhängen.
b) Nach den vorgenannten Grundsätzen hat
das FG das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Veranlagung
des Klägers nach § 46 Abs. 2 Nr. 1, 1. Alternative EStG
zu Unrecht verneint. Der Senat kann in der Sache selbst
entscheiden. Denn nach den tatsächlichen Feststellungen des FG
erzielte der Kläger negative Einkünfte aus Vermietung und
Verpachtung in Höhe von 7.312 DM. Dieser Betrag
übersteigt die Freigrenze von 800 DM.
Da der Kläger Nebeneinkünfte i.S.
von § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG nur aus einer Einkunftsart
erzielte, kommt es im Streitfall für die Ermittlung der Summe
der einkommensteuerpflichtigen Einkünfte, die nicht dem
Steuerabzug vom Arbeitslohn zu unterwerfen waren, auch nicht auf
die in § 2 Abs. 3 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002
vorgeschriebene Verhältnisrechnung an.
Bei dieser Sachlage kann außerdem
dahinstehen, ob die vom Kläger erhobene Verfahrensrüge
durchgreift.
2. Eine Aussetzung des Verfahrens
gemäß § 74 FGO kam nicht in Betracht. Denn die
Entscheidung des Rechtsstreits hängt nicht von der
Entscheidung des BVerfG in den Normenkontrollverfahren 2 BvL 55,
56/06 zur Verfassungsmäßigkeit der Ausschlussfrist in
§ 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG ab.