Auf die Beschwerde der Antragstellerin werden
der Beschluss des Finanzgerichts München vom 12.12.2022 - 7 V
1753/22 aufgehoben und die Bescheide über die gesonderte
Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags zur
Körperschaftsteuer zum 31.12.2016 und über die gesonderte
Feststellung des vortragsfähigen Gewerbeverlustes auf den
31.12.2016 vom 21.07.2022 ohne Sicherheitsleistung von der
Vollziehung ausgesetzt.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat der
Antragsgegner zu tragen.
1
|
A. Die Beteiligten streiten über die
Rechtmäßigkeit von Feststellungsbescheiden, in denen
nicht genutzte Verluste aus Vorjahren bzw. Fehlbeträge aus
früheren Erhebungszeiträumen wegen schädlichen
Beteiligungserwerbs auf der Grundlage von § 8c Abs. 1 Satz 1
des Körperschaftsteuergesetzes in der im Jahr 2016
(Streitjahr) geltenden Fassung unter Berücksichtigung der
rückwirkenden Aufhebung des früheren Satzes 1 durch das
Gesetz zur Vermeidung von Umsatzsteuerausfällen beim Handel
mit Waren im Internet und zur Änderung weiterer steuerlicher
Vorschriften vom 11.12.2018 (BGBl I 2018, 2338, BStBl I 2018, 1377)
- KStG -, dort § 34 Abs. 6 Satz 1 KStG, bzw. von § 10a
Satz 10 des Gewerbesteuergesetzes in der im Erhebungszeitraum
geltenden Fassung (GewStG) i.V.m. § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG als
nicht abziehbar qualifiziert worden sind. In der Sache geht es
darum, ob die streitbefangenen Verlustfeststellungsbescheide wegen
möglicher Verfassungswidrigkeit des § 8c Abs. 1 Satz 1
KStG von der Vollziehung auszusetzen sind.
|
|
|
2
|
Die Antragstellerin und
Beschwerdeführerin (Antragstellerin), eine GmbH, deren Anteile
einem US-amerikanischen Konzern zuzuordnen waren, war
Alleingesellschafterin der A GmbH, die wiederum
Alleingesellschafterin der B GmbH war. Es bestand ein
mehrstöckiges Organschaftsverhältnis mit der
Antragstellerin als Organträgerin.
|
|
|
3
|
Mit Bescheid über die gesonderte
Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags zur
Körperschaftsteuer auf den 31.12.2016 wurde der verbleibende
Verlustvortrag nach § 10d des Einkommensteuergesetzes i.V.m.
§ 31 Abs. 1 KStG auf … EUR festgestellt, mit Bescheid
über die gesonderte Feststellung des vortragsfähigen
Gewerbeverlustes auf den 31.12.2016 der vortragsfähige
Gewerbeverlust nach § 10a GewStG auf … EUR. Die
Bescheide ergingen am 07.11.2018 jeweils unter dem Vorbehalt der
Nachprüfung gemäß § 164 der Abgabenordnung
(AO).
|
|
|
4
|
Am 24.05.2016 wurden in den USA
sämtliche Anteile einer C Corp. - und dadurch mittelbar alle
Anteile an der Antragstellerin - auf neue Gesellschafter
übertragen, davon 99 % auf einen einzelnen Erwerber. Nach dem
vom Antragsgegner und Beschwerdegegner (Finanzamt - FA - ) nicht
widersprochenen Vortrag der Antragstellerin verfügt diese
innerhalb der Organschaft über stille Reserven in einem
Umfang, der die Verlustvorträge auf Ebene der Antragstellerin
übersteigt.
|
|
|
5
|
Mit Änderungsbescheiden vom 21.07.2022
kürzte das FA unter Aufhebung des Vorbehalts der
Nachprüfung den zum 31.12.2016 festgestellten verbleibenden
Verlustvortrag zur Körperschaftsteuer um … EUR und den
vortragsfähigen Gewerbeverlust auf den 31.12.2016 um …
EUR.
|
|
|
6
|
Gegen diese Bescheide legte die
Antragstellerin Einspruch ein und beantragte zugleich deren
Aussetzung der Vollziehung (AdV). Der Antrag wurde abgelehnt
(Bescheid vom 30.08.2022). Über die Einsprüche wurde
bislang noch nicht entschieden, da sie gemäß § 363
Abs. 2 Satz 2 AO bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
(BVerfG) im dort anhängigen Verfahren Aktenzeichen 2 BvL 19/17
(Vorlagebeschluss des Finanzgerichts - FG - Hamburg vom 29.08.2017
- 2 K 245/17, EFG 2017, 1906 = SIS 17 20 39) ruhen.
|
|
|
7
|
Den daraufhin beim FG München
gestellten Antrag auf AdV lehnte dieses durch Beschluss vom
12.12.2022 - 7 V 1753/22 ab. Zwar bestünden ernstliche Zweifel
an der Verfassungsmäßigkeit des § 8c Abs. 1 Satz 1
KStG, es fehle der Antragstellerin aber ein besonderes
Aussetzungsinteresse, so dass die Feststellungsbescheide nicht nach
§ 69 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 Alternative 1 der
Finanzgerichtsordnung (FGO) von der Vollziehung auszusetzen
seien.
|
|
|
8
|
Dagegen wehrt sich die Antragstellerin mit
ihrer Beschwerde, mit der sie sinngemäß beantragt, den
Beschluss des FG München vom 12.12.2022 - 7 V 1753/22
aufzuheben und die Bescheide über die gesonderte Feststellung
des verbleibenden Verlustvortrags zur Körperschaftsteuer zum
31.12.2016 und über die gesonderte Feststellung des
vortragsfähigen Gewerbeverlustes auf den 31.12.2016 vom
21.07.2022 ohne Sicherheitsleistung von der Vollziehung
auszusetzen.
|
|
|
9
|
Das FA beantragt, die Beschwerde
zurückzuweisen.
|
|
|
10
|
Das FG hat der Beschwerde nicht
abgeholfen.
|
|
|
11
|
B. I. Die Beschwerde ist zulässig. Das FG
hat im Tenor der Entscheidung (dort zu 3.) die Beschwerde
ausdrücklich zugelassen (s. dazu § 128 Abs. 3 Satz 1
FGO). Das FG hat diese Entscheidung zu II.4. der Gründe auch
unter Hinweis auf eine in der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs
(BFH) nicht abschließend geklärte Zweifelsfrage zu den
Zulassungsvoraussetzungen nach den Maßgaben des § 115
Abs. 2 FGO (s. § 128 Abs. 3 Satz 2 FGO) begründet. Der
Bindungswirkung der ausdrücklich erklärten Zulassung
steht nicht entgegen, dass dem angefochtenen Beschluss eine
Rechtsmittelbelehrung des Inhalts beigefügt ist, dass
„kein Rechtsmittel gegeben [ist] (§ 128 Abs. 3
FGO)“.
|
|
|
12
|
II. Die Beschwerde ist begründet. Sie
führt zur Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung und zur
Anordnung einer AdV der Bescheide über die gesonderte
Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags zur
Körperschaftsteuer zum 31.12.2016 und über die gesonderte
Feststellung des vortragsfähigen Gewerbeverlustes auf den
31.12.2016 vom 21.07.2022 ohne Sicherheitsleistung.
|
|
|
13
|
1. Nach § 69 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 2
Satz 2 FGO soll das Gericht der Hauptsache auf Antrag die
Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes ganz oder
teilweise aussetzen, wenn ernstliche Zweifel an der
Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes bestehen. Ernstliche
Zweifel sind zu bejahen, wenn bei summarischer Prüfung des
angefochtenen Verwaltungsaktes neben den für seine
Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige
Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit
in der Beurteilung von Rechtsfragen bewirken (s. zu den allgemeinen
Voraussetzungen einer AdV z.B. Senatsbeschlüsse vom 24.11.2021
- I B 44/21 (AdV), BFHE 275, 136, BStBl II 2022, 431 = SIS 22 02 79; vom 15.02.2022 - I B 55, 56/21 (AdV), BFH/NV 2022, 801 = SIS 22 10 50). Ernstliche Zweifel können auch verfassungsrechtliche
Zweifel an der Gültigkeit einer dem angefochtenen
Verwaltungsakt zugrundeliegenden Norm sein (ständige
Rechtsprechung, z.B. BFH-Beschluss vom 25.04.2018 - IX B 21/18,
BFHE 260, 431, BStBl II 2018, 415 = SIS 18 06 23, m.w.N.).
|
|
|
14
|
2. Das FG hat im angefochtenen Beschluss
ausdrücklich festgestellt, dass ernstliche Zweifel an der
Rechtmäßigkeit der Anwendung der den Belastungseffekt
auslösenden Norm des § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG im
Streitfall bestehen (zu II.2.c der Gründe). Dem ist
beizupflichten.
|
|
|
15
|
a) Nach § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG sind bis
zum schädlichen Beteiligungserwerb nicht genutzte Verluste
vollständig nicht mehr abziehbar, wenn innerhalb von fünf
Jahren mittelbar oder unmittelbar mehr als 50 % des gezeichneten
Kapitals, der Mitgliedschaftsrechte, der Beteiligungsrechte oder
der Stimmrechte an einer Körperschaft an einen Erwerber oder
diesem nahe stehende Personen übertragen werden oder ein
vergleichbarer Sachverhalt vorliegt. Die Anteile der
Antragstellerin wurden in 2016 zu mehr als 50 % mittelbar an einen
einzelnen Erwerber veräußert. Dem Wortlaut des § 8c
Abs. 1 Satz 1 KStG zufolge sind daher die streitbefangenen Verluste
insgesamt nicht mehr abziehbar.
|
|
|
16
|
Dabei ist allerdings nicht ersichtlich, dass
sich das FG mit den möglichen Rechtsfolgen aus dem
„vom FA nicht in Zweifel gezogenen Vortrag der
Antragstellerin“ befasst hat, im
Organkreis bestünden (im Inland steuerpflichtige) stille
Reserven in einer Höhe, die den gekürzten Verlust
übersteige. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass es diesen
Vortrag in die Richtung gedeutet haben könnte, dass der
Antragstellerin die Fähigkeit zur Steuerzahlung (infolge
vorhandener Liquidität im Organkreis) zugesprochen werden
könne, so dass durch den Vollzug einer Steuerforderung keine
„irreparablen Nachteile“ drohen
würden (so wohl die Deutung zu II.2.d bb der Gründe des
angefochtenen Beschlusses). Der Vortrag könnte aber auch dahin
verstanden werden, es lägen zu einem Anwendungsausschluss der
Norm führende stille Reserven vor; damit ist es -
abhängig von einem bisher nicht aufgeklärten Umstand
eines vortragsentsprechenden Vorhandenseins entsprechenden
Betriebsvermögens - als jedenfalls nicht ausgeschlossen
anzusehen, dass - je nach Interpretation des sachlichen
Anwendungsbereichs der sog. Stille-Reserven-Klausel des § 8c
Abs. 1 Satz 5 ff. KStG im Organkreis (s. zur Frage, ob stille
Reserven in den Wirtschaftsgütern einer Organgesellschaft
einzubeziehen sind, ablehnend z.B. Neumann in
Rödder/Herlinghaus/Neumann, KStG, § 8c Rz 253 f.; Leibner
in Dötsch/Pung/Möhlenbrock, Die Körperschaftsteuer,
§ 8c KStG Rz 279; befürwortend z.B. Suchanek in
Herrmann/Heuer/Raupach, § 8c KStG Rz 57a; Roser in Gosch,
KStG, 4. Aufl., § 8c Rz 175; Brandis/Heuermann/Brandis, §
8c KStG Rz 61, jeweils m.w.N.) - der Anwendung des § 8c Abs. 1
Satz 1 KStG schon
„einfachrechtlich“ das Hindernis
einer Aufhebung des Abzugsverbots auf der Grundlage des § 8c
Abs. 1 Satz 5 KStG entgegensteht.
|
|
|
17
|
b) Darüber hinaus bestehen auf der
Grundlage des zu § 8c (später: Abs. 1) Satz 1 KStG a.F.
ergangenen BVerfG-Beschlusses vom 29.03.2017 - 2 BvL 6/11 (BVerfGE
145, 106, BStBl II 2017, 1082 = SIS 17 08 86) - an den der §
8c (später: Abs. 1) Satz 2 KStG betreffende Vorlagebeschluss
des FG Hamburg in EFG 2017, 1906 = SIS 17 20 39 anknüpft -
ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der
Regelung des § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG, da sie in ihrer
Tatbestandlichkeit durch die alleinige Anknüpfung an den
Umstand einer Anteilsübertragung (wie ebenfalls auch § 8c
[später: Abs. 1] Satz 1 KStG a.F.) nicht am typischen
Missbrauchsfall (der auch nicht bei einem besonders qualifizierten
Erwerbsquorum - im Streitfall 99 % - vermutet werden kann)
ausgerichtet ist (s. insoweit übereinstimmend auch Beschluss
des FG Hamburg vom 11.04.2018 - 2 V 20/18, EFG 2018, 1128 = SIS 18 06 00; Beschluss des FG Düsseldorf vom 15.10.2018 - 12 V
1531/18 A (G,F), EFG 2019, 379 = SIS 19 02 77 [die
Nichtzulassungsbeschwerde war unbegründet, s. Senatsbeschluss
vom 04.02.2019 - I B 67/18, nicht veröffentlicht]; s.a.
Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land
Nordrhein-Westfalen vom 18.10.2018 - 14 B 961/18, Kommunale
Steuerzeitschrift 2019, 37 [die Regelung verstoße
„mit überwiegender Wahrscheinlichkeit gegen Art. 3
Abs. 1 GG“]; zustimmend und m.w.N. auch
zur Gegenmeinung z.B. Brandis/Heuermann/Brandis, § 8c KStG Rz
22b und 22c).
|
|
|
18
|
Dass im Streitfall mit dem Veranlagungs- bzw.
Erhebungszeitraum 2016 ein Zeitraum angesprochen ist, der in der
verfassungsrechtlichen Überprüfung durch das BVerfG
ersichtlich mit Blick auf weitere Aktivitäten des Gesetzgebers
zur „Entschärfung“ des
§ 8c KStG offen geblieben ist (Einfügung des § 8d
KStG durch das Gesetz zur Weiterentwicklung der steuerlichen
Verlustverrechnung bei Körperschaften vom 20.12.2016, BGBl I
2016, 2998, BStBl I 2017, 3 [zum 01.01.2016 rückwirkend in
Kraft getreten]), ist gerade mit Blick auf die Einschränkung
des persönlichen Anwendungsbereichs dieser Regelung
(Ausschluss von Organträgern aus dem persönlichen
Anwendungsbereich, s. § 8d Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 KStG) hier ohne
Belang.
|
|
|
19
|
3. Das FG hat allerdings eine AdV abgelehnt,
da der Antragstellerin auf der Grundlage der verfassungsrechtlich
begründeten Rechtsanwendungszweifel (s. zu 2.) angesichts des
(ohne Erwähnung im Gesetzeswortlaut als Aussetzungshindernis
formulierten) Vorrangs eines öffentlichen Interesses am
Vollzug eines formell verfassungsgemäß zustande
gekommenen Gesetzes ein „besonderes
Aussetzungsinteresse“ nicht zuzusprechen
sei. Insbesondere erfülle die Antragstellerin nicht die in der
Rechtsprechung zugestandene Rückausnahme (Hinweis auf eine
„Fallgruppe 7“ unter Verweis auf
den BFH-Beschluss vom 15.12.2000 - IX B 128/99, BFHE 194, 157,
BStBl II 2001, 411 = SIS 01 03 81), dass das BVerfG eine
„ähnliche Vorschrift (bereits) für nichtig
erklärt hatte“. Dem ist nicht
beizupflichten.
|
|
|
20
|
a) Es kann offen bleiben, ob diese gerade auf
den vom FG hervorgehobenen „öffentlichen
Belang“ einer „geordneten
Haushaltsführung“ (auf der Grundlage
des formell geltenden Rechts) abzielende Aussetzungsbedingung auch
dann Wirkung haben sollte, wenn - wie im Streitfall - für das
Streitjahr keine unmittelbare finanzielle Auswirkung in Rede steht,
weil es ausschließlich um eine grundlagenbescheidsbezogene
Wirkung einer Feststellung für Folgezeiträume (§ 182
Abs. 1 AO) geht; immerhin steht (vom FG nicht ausdrücklich
festgestellt) eine Wirkung auf das Jahr 2017 (Ausgleich mit dort
erzielten positiven Einkünften zur Ermittlung des Einkommens
bzw. des Gewerbeertrags) im Raum.
|
|
|
21
|
b) Es liegt ein Umstand vor, der der
Rückausnahme, dass „das BVerfG eine ähnliche
Vorschrift (bereits) für nichtig erklärt
hatte“, gleichsteht. Auf dieser Grundlage
ist vom Senat die eigentlich vorrangige Grundfrage der
Rechtsverbindlichkeit einer solchen Aussetzungsbedingung (offen
geblieben z.B. auch in den Senatsbeschlüssen vom 09.05.2012 -
I B 18/12, BFH/NV 2012, 1489 = SIS 12 21 91; vom 18.12.2013 - I B
85/13, BFHE 244, 320, BStBl II 2014, 947 = SIS 14 10 54) nicht zu
beantworten.
|
|
|
22
|
aa) In der BFH-Rechtsprechung wird die AdV bei
verfassungsrechtlichen Zweifeln an der Gültigkeit einer dem
angefochtenen Verwaltungsakt zugrunde liegenden Norm wegen des
Geltungsanspruchs jedes formell verfassungsgemäß
zustande gekommenen Gesetzes zuweilen davon abhängig gemacht,
„dass ein besonderes berechtigtes Interesse des
Antragstellers an der Gewährung vorläufigen
Rechtsschutzes besteht, dem der Vorrang gegenüber dem
öffentlichen Interesse am Vollzug des Gesetzes zukommt. Bei
der Prüfung, ob ein solches berechtigtes Interesse des
Steuerpflichtigen besteht, ist dieses mit den gegen die
Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes sprechenden
öffentlichen Belangen abzuwägen. Dabei kommt es
maßgeblich einerseits auf die Bedeutung und die Schwere des
durch die Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes
eintretenden Eingriffs beim Steuerpflichtigen und andererseits auf
die Auswirkungen einer Aussetzung bzw. Aufhebung der Vollziehung
hinsichtlich des Gesetzesvollzugs und des öffentlichen
Interesses an einer geordneten Haushaltsführung an. Dem bis zu
einer gegenteiligen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
bestehenden Geltungsanspruch jedes formell
verfassungsmäßig zustande gekommenen Gesetzes ist der
Vorrang einzuräumen, wenn die Aussetzung bzw. Aufhebung der
Vollziehung eines Verwaltungsaktes im Ergebnis zur vorläufigen
Nichtanwendung eines ganzen Gesetzes führen würde, die
Bedeutung und die Schwere des durch die Vollziehung des
angefochtenen Bescheides im Einzelfall eintretenden Eingriffs beim
Steuerpflichtigen als eher gering einzustufen sind und der Eingriff
keine dauerhaften nachteiligen Wirkungen
hat“ (so z.B. BFH-Beschlüsse vom
20.09.2022 - II B 3/22 (AdV), BFH/NV 2022, 1328 = SIS 22 17 18; vom
18.01.2023 - II B 53/22 (AdV), BFH/NV 2023, 382 = SIS 23 03 01,
jeweils m.w.N.).
|
|
|
23
|
Der BFH hat dabei aber in diesen Fällen
„in verschiedenen Fallgruppen dem Aussetzungsinteresse des
Steuerpflichtigen den Vorrang vor den öffentlichen Interessen
eingeräumt, und zwar wenn dem Steuerpflichtigen durch den
sofortigen Vollzug irreparable Nachteile drohen, wenn das zu
versteuernde Einkommen abzüglich der darauf zu entrichtenden
Einkommensteuer unter dem sozialhilferechtlich garantierten
Existenzminimum liegt, wenn das BVerfG eine ähnliche
Vorschrift für nichtig erklärt hatte, wenn der BFH die
vom Steuerpflichtigen als verfassungswidrig angesehene Vorschrift
bereits dem BVerfG gemäß Art. 100 Abs. 1 des
Grundgesetzes zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit
vorgelegt hatte, wenn ernstliche Zweifel an der
Verfassungsmäßigkeit der Beschränkung des bisher
zulässigen Abzugs von laufenden erwerbsbedingten Aufwendungen
als Werbungskosten bestehen oder wenn es um das aus
verfassungsrechtlichen Gründen schutzwürdige Vertrauen
auf die Beibehaltung der bisherigen Rechtslage oder um
ausgelaufenes Recht geht“ (z.B.
BFH-Beschluss in BFH/NV 2022, 1328 = SIS 22 17 18, m.w.N.).
|
|
|
24
|
bb) Allerdings hat der BFH in seinem Beschluss
in BFHE 194, 157, BStBl II 2001, 411 = SIS 01 03 81 (als
„Fallgruppe 7“ im angefochtenen
Beschluss bezeichnet) die Frage, „ob solche
öffentlichen Interessen dem Steuerpflichtigen auch dann
entgegengehalten werden können, wenn das BVerfG bereits eine
ähnliche Vorschrift für nichtig erklärt
hat“, ausdrücklich offen gelassen -
es bedürfe insoweit „keiner
Entscheidung“, da „im Streitfall
jedenfalls … die Interessenabwägung zugunsten des
Antragstellers aus(falle)“ (zu 3. der
dortigen Entscheidungsgründe). Denn „die ernsthaften
verfassungsrechtlichen Bedenken“
würden sich aus einem BVerfG-Beschluss (infolge der dortigen
Nichtigerklärung einer ähnlichen Norm) „und
insbesondere aus dem Umstand ergeben, dass der Gesetzgeber selbst
sich diese Zweifel im Gesetzgebungsverfahren (zunächst)
offensichtlich … zu Eigen gemacht, ihnen dann aber in Bezug
auf die noch offenen Altfälle ohne Angabe von Gründen
nicht Rechnung getragen hat“.
|
|
|
25
|
Dem im BVerfG-Beschluss in BVerfGE 145, 106,
BStBl II 2017, 1082 = SIS 17 08 86 mit Blick auf § 8c
(später: Abs. 1) Satz 1 KStG a.F. zur Beseitigung des
Verfassungsverstoßes (und Vermeidung einer Nichtigkeitsfolge)
aufgeforderten Gesetzgeber war auf der Grundlage der
fachliterarischen Stellungnahmen und Einschätzungen zur
möglichen Ausstrahlungswirkung des Beschlusses auf § 8c
Abs. 1 Satz 1 KStG/§ 8c (später: Abs. 1) Satz 2 KStG a.F.
(z.B. nur Gosch, GmbHR 2017, 695, 697 f., und Hohmann, DStZ 2017,
550, 553; weitere Nachweise bei Brandis/Heuermann/Brandis, §
8c KStG Rz 22b) ohne weiteres gewiss, dass als Reaktionsmöglichkeit auf
fortbestehende Verfassungszweifel durchaus eine generelle
Neuausrichtung des Tatbestands des § 8c KStG im Raum stand,
die auch angesichts der engen Tatbestandsvoraussetzungen des
(neuen) § 8d KStG in der Literatur eindringlich gefordert
wurde (z.B. nur Gosch, GmbHR 2017, 695, 697, 699, und Hohmann,
ebenda; weitere Nachweise bei Brandis/Heuermann/Brandis, § 8c
KStG Rz 23). Allerdings hat er sich diesem Ansinnen - vermutlich um
die weitere Rechtsprechung abzuwarten - verschlossen, auch wenn er
sich im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens von einer
„Minimallösung“ zu § 8c
(später: Abs. 1) Satz 1 KStG a.F. (s. BT-Drucks. 19/4455, S.
14 - Nichtanwendung der Regelung auf schädliche
Beteiligungserwerbe, die nach dem 31.12.2007 und vor dem 01.01.2016
stattgefunden haben) zu einer „kompletten Streichung der
Regelung“ (so Jauch/Hörhammer, Neue
Wirtschafts-Briefe 2018, 3890, 3891) als deutlich weiter gehender
Lösung entschlossen hat (s. BT-Drucks. 19/5595, S. 76).
|
|
|
26
|
In diesem Fall muss die
Interessenabwägung (ebenfalls) zugunsten des eine AdV
beantragenden Betroffenen ausfallen, auch wenn vom FG zutreffend
ausgeführt wird, dass das BVerfG in seinem Beschluss in
BVerfGE 145, 106, BStBl II 2017, 1082 = SIS 17 08 86§ 8c
(später: Abs. 1) Satz 1 KStG a.F. nicht für nichtig
erklärt, sondern dem Gesetzgeber
„lediglich“ aufgegeben habe, den
Verfassungsverstoß bis zum 31.12.2018 rückwirkend mit
Geltung ab dem 01.01.2008 (dem Inkrafttretenszeitpunkt der
Regelung) zu beseitigen (nur für den Fall, dass der
Gesetzgeber der Verpflichtung zur Beseitigung des
Verfassungsverstoßes bis zum 31.12.2018 nicht nachgekommen
wäre, wäre die Norm nichtig geworden - s. zur sog.
Unvereinbarkeitserklärung z.B. Seer in Tipke/Kruse, VerfRS Rz
58, m.w.N.). Denn dieser Folgenausspruch trägt nur dem Umstand
Rechnung, dass für die Beseitigung des
Verfassungsverstoßes mehrere Möglichkeiten in Betracht
kommen, die in der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers stehen
(Seer, a.a.O.), berührt aber die damit verbundene
Beeinträchtigung der „Vertrauensposition des
Gesetzgebers“, die das Hindernis für
eine AdV-Gewährung begründen soll, durch die Feststellung
des verfassungswidrigen Zustands (mit einer Ausstrahlungswirkung
auf die „ähnliche Norm“)
nicht.
|
|
|
27
|
4. Ist die Rechtmäßigkeit eines
angefochtenen Verwaltungsaktes ernstlich zweifelhaft und bestehen
keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass bei einem
Unterliegen des Antragstellers im Hauptsacheverfahren die
Durchsetzung des Steueranspruchs gefährdet wäre, ist die
Vollziehung des Verwaltungsaktes regelmäßig ohne
Sicherheitsleistung (§ 69 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 i.V.m. Abs.
2 Satz 3 FGO) auszusetzen. Das gilt selbst dann, wenn die für
die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes sprechenden Gründe
nicht überwiegen (vgl. Senatsbeschluss vom 03.02.2005 - I B
208/04, BFHE 209, 204, BStBl II 2005, 351 = SIS 05 15 22).
|
|
|
28
|
5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135
Abs. 1 FGO.
|