Auf die Revision des Finanzamts wird das
Urteil des Niedersächsischen Finanzgerichts vom 13.6.2016 11 K
10269/15 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der
Kläger zu tragen.
1
|
I. Über das Vermögen der
Schuldnerin, der GmbH, wurde am 29.6.2009 das Insolvenzverfahren
eröffnet. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger)
wurde zum Insolvenzverwalter bestellt.
|
|
|
2
|
Die GmbH war auf dem Gebiet des
Fahrzeugbaus tätig gewesen. Die notwendigen Betriebsanlagen
(Grundstücke, Gebäude, Maschinen und
Einrichtungsgegenstände) waren ihr im Rahmen einer
Betriebsaufspaltung von der KG gegen Zahlung von ... v.H. des
Rohertrags überlassen worden. Umsatzsteuerlich war man vom
Vorliegen einer Organschaft i.S. des § 2 Abs. 2 des
Umsatzsteuergesetzes (UStG) ausgegangen.
|
|
|
3
|
Im März 2009 hatte die KG
gegenüber dem Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt -
FA - ) geltend gemacht, dass entgegen der bisherigen Annahme die
Voraussetzungen für eine umsatzsteuerliche Organschaft nicht
vorgelegen hätten. Das FA war dieser Auffassung letztlich
gefolgt.
|
|
|
4
|
Am 27.7.2011 stellte die KG dem Kläger
eine Rechnung aus, mit der sie erstmals über die von ihr
gegenüber der GmbH erbrachten Pachtleistungen für den
Zeitraum Januar 2006 bis Februar 2009 abrechnete. Die Rechnung wies
Umsatzsteuer in Höhe von ... EUR aus und wurde dem Kläger
im August 2011 übergeben.
|
|
|
5
|
Die daraufhin vom FA mit Bescheid vom
13.12.2012 geänderte Festsetzung der
Umsatzsteuer-Vorauszahlung für August 2011 wies zugunsten des
Klägers einen Überschuss in Höhe von ... EUR aus.
Dieses Guthaben verrechnete das FA am selben Tag mit offenen
Steuerforderungen gegen die GmbH aus Umsatzsteuer für die
Jahre 2006 bis 2008.
|
|
|
6
|
Mit Bescheid vom 29.5.2013 setzte das FA
für 2011 Umsatzsteuer in Höhe von ... EUR fest. Ein
Vergütungsbetrag ergab sich wegen der bereits erfolgten
Verrechnung nicht.
|
|
|
7
|
Der Kläger beantragte mit Schreiben
vom 17.12.2014 unter Berufung auf § 96 Abs. 1 Nr. 1 der
Insolvenzordnung (InsO) die Auszahlung des Guthabens aus dem
Bescheid vom 29.5.2013. Das FA lehnte dies mit Abrechnungsbescheid
vom 7.10.2015 ab und stimmte einer Sprungklage zu.
|
|
|
8
|
Die daraufhin erhobene Klage war
erfolgreich. Das Finanzgericht (FG) entschied, die erklärte
Aufrechnung sei nach § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO unzulässig.
Die tatbestandlichen Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug
aus den Leistungen der KG an die GmbH seien erstmals im August 2011
durch Erteilung einer entsprechenden Rechnung vollständig
erfüllt gewesen, denn die Ausübung des Vorsteuerabzugs
setze nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 2 UStG voraus, dass
der Unternehmer eine nach §§ 14, 14a UStG ausgestellte
Rechnung besitze.
|
|
|
9
|
Mit seiner Revision trägt das FA vor,
Vorsteuervergütungsansprüche nach § 15 Abs. 1 Satz 1
Nr. 1 Satz 1 UStG seien insolvenzrechtlich bereits begründet,
wenn bzw. soweit die Leistung ausgeführt sei. Der Erhalt bzw.
Besitz einer ordnungsgemäßen Rechnung i.S. des § 14
UStG sei nicht Voraussetzung der insolvenzrechtlichen
Begründetheit. Er sei zwar zur Ausübung des
Vorsteuerabzugs unerlässlich, stelle aber nur eine
„formelle Ausübungsvoraussetzung“ dar.
|
|
|
10
|
Der Kläger erwidert, nach § 16
Abs. 2 Satz 1 UStG seien die in den Besteuerungszeitraum fallenden,
nach § 15 UStG abziehbaren Vorsteuerbeträge mit Wirkung
für diesen Veranlagungszeitraum abzusetzen. Dieser Anspruch
entstehe in dem Veranlagungszeitraum, in dem die
Anspruchsvoraussetzungen i.S. des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
Satz 1 UStG insgesamt vorlägen, und setze den Besitz einer
nach §§ 14, 14a UStG ausgestellten Rechnung voraus.
Hierbei handele es sich nicht um ein nur formelles, sondern um ein
materiell-rechtliches Erfordernis. Auch sei allgemein anerkannt,
dass die Rechtsausübung des Vorsteuerabzugs nicht auf den
Entstehungszeitpunkt zurückwirke; erst in dem
Erklärungszeitraum, in dem sowohl die Lieferung oder sonstige
Leistung bewirkt worden sei und der Steuerpflichtige eine Rechnung
besitze, sei der Vorsteuerabzug gegeben. Des Weiteren habe die KG
erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens gemäß
§ 9 Abs. 1 UStG auf die Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 12
Buchst. a UStG verzichtet. Erst dieser Verzicht bewirke, dass die
betreffende Leistung steuerpflichtig werde und der leistende
Unternehmer die auf die Leistung entfallende Umsatzsteuer schulde.
Das gelte auch bei einem Verzicht auf die Steuerfreiheit für
zurückliegende Zeiträume.
|
|
|
11
|
II. Die Revision ist begründet. Sie
führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur
Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der
Finanzgerichtsordnung - FGO - ). Das angefochtene Urteil verletzt
Bundesrecht (§ 118 Abs. 1 Satz 1 FGO). Das FG ist
rechtsfehlerhaft zu dem Ergebnis gelangt, § 96 Abs. 1 Nr. 1
InsO stehe der Aufrechnung entgegen.
|
|
|
12
|
1. Nach § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO ist die
Aufrechnung unzulässig, wenn ein Insolvenzgläubiger erst
nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens etwas zur
Insolvenzmasse schuldig geworden ist.
|
|
|
13
|
a) Ob ein Insolvenzgläubiger bereits vor
Eröffnung des Insolvenzverfahrens etwas zur Insolvenzmasse
schuldig geworden ist, bestimmt sich nach der Rechtsprechung des
erkennenden Senats danach, ob der Tatbestand, der den betreffenden
Anspruch begründet, nach den steuerrechtlichen Vorschriften
bereits vor oder erst nach Insolvenzeröffnung vollständig
verwirklicht und damit abgeschlossen ist. Entscheidend ist, ob
sämtliche materiell-rechtlichen Tatbestandsvoraussetzungen
für die Entstehung eines Erstattungsanspruchs im Zeitpunkt der
Eröffnung des Insolvenzverfahrens bereits erfüllt waren
(Senatsurteile vom 8.11.2016 VII R 34/15, BFHE 256, 6, BStBl II
2017, 496 = SIS 16 28 23, und vom 25.7.2012 VII R 29/11, BFHE 238,
307, BStBl II 2013, 36 = SIS 12 28 19; vgl. auch Senatsurteil vom
18.8.2015 VII R 29/14, BFH/NV 2016, 87 = SIS 15 28 66, und
Senatsbeschluss vom 21.3.2014 VII B 214/12, BFH/NV 2014, 1088 = SIS 14 16 15).
|
|
|
14
|
b) Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht
materiell-rechtlich, wenn die betreffende Lieferung von
Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht wird.
Auf den Besitz der Rechnung kommt es für die
insolvenzrechtliche Begründung des Erstattungsanspruchs nicht
an.
|
|
|
15
|
aa) Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1
UStG kann ein Unternehmer die gesetzlich geschuldete Steuer
für Lieferungen und sonstige Leistungen, die von einem anderen
Unternehmer für sein Unternehmen ausgeführt worden sind,
als Vorsteuerbetrag abziehen. Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
Satz 2 UStG setzt die Ausübung des Vorsteuerabzugs voraus,
dass der Unternehmer eine nach den §§ 14, 14a UStG
ausgestellte Rechnung besitzt.
|
|
|
16
|
Auch wenn damit die Ausübung des
Vorsteuerabzugs nach den genannten Regelungen den Besitz einer
Rechnung voraussetzt, entsteht doch das Recht auf Vorsteuerabzug
materiell-rechtlich gemäß Art. 167 der Richtlinie
2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame
Mehrwertsteuersystem (Amtsblatt der Europäischen Union Nr. L
347/1) - RL 2006/112/EG - bereits dann, wenn der Anspruch auf die
abziehbare Steuer entsteht. Gemäß Art. 63 RL 2006/112/EG
ist das der Zeitpunkt, zu dem die Lieferung von Gegenständen
bewirkt oder die Dienstleistung erbracht wird. Der Rechnungsbesitz
ist demzufolge eine nur formelle, nicht aber eine materielle
Bedingung für die Entstehung des Rechts auf Vorsteuerabzug (so
ausdrücklich Urteil des Gerichtshofs der Europäischen
Union - EuGH - Senatex vom 15.9.2016 C-518/14, EU:C:2016:691, DStR
2016, 2211 = SIS 16 19 41, Rz 38, mit Anmerkung Wäger; zur
Unterscheidung zwischen materiell- und formell-rechtlichen
Voraussetzungen des Rechts auf Vorsteuerabzug s. auch EuGH-Urteile
Volkswagen vom 21.3.2018 C-533/16, EU:C:2018:204, DStR 2018, 676 =
SIS 18 06 52, Rz 40 ff., und Biosafe - Industria de Reciclagens vom
12.4.2018 C-8/17, EU:C:2018:249, DStR 2018, 787 = SIS 18 04 88, Rz
30 ff.).
|
|
|
17
|
Auch der Bundesfinanzhof (BFH) knüpft an
diese Rechtsprechung an und unterscheidet zwischen der Entstehung
und der Ausübung des Rechts zum Vorsteuerabzug (BFH-Urteil vom
20.10.2016 V R 26/15, BFHE 255, 348, DStR 2016, 2967 = SIS 16 26 03). Dass der BFH in dem Besitz der Rechnung eine materielle
Anspruchsvoraussetzung für die Ausübung des Rechts auf
Vorsteuerabzug sieht (BFH-Urteil in BFHE 255, 348, DStR 2016, 2967
= SIS 16 26 03, Rz 17), ist demzufolge für die Frage nach dem
Zeitpunkt der materiell-rechtlichen Entstehung dieses Anspruchs
ohne Bedeutung (vgl. auch BFH-Urteil vom 14.3.2012 XI R 23/10,
BFH/NV 2012, 1672 = SIS 12 24 87).
|
|
|
18
|
bb) Auf den Zeitpunkt der dem Vorsteuerabzug
zugrunde liegenden Lieferung von Gegenständen oder Erbringung
von Dienstleistungen ist auch dann abzustellen, wenn der Anspruch
auf Vorsteuerabzug auf einem Verzicht auf die Steuerfreiheit nach
§ 9 UStG beruht; denn der Verzicht wirkt hinsichtlich der
Entstehung des Anspruchs auf den Veranlagungszeitraum zurück,
in dem der Umsatz ausgeführt wurde (s. BFH-Urteile vom
23.10.2003 V R 2/02, BFHE 203, 410, BStBl II 2004, 39 = SIS 03 52 06, unter II.2.b bb; vom 28.11.2002 V R 54/00, BFHE 200, 38, BStBl
II 2003, 175 = SIS 03 10 94, unter II.2.; ebenso hinsichtlich der
Rückgängigmachung des Verzichts: BFH-Urteile vom
10.12.2009 XI R 7/08, BFH/NV 2010, 1497 = SIS 10 21 67; vom
1.2.2001 V R 23/00, BFHE 194, 493, BStBl II 2003, 673 = SIS 01 07 75; vgl. auch Wenzel in Rau/Dürrwächter,
Umsatzsteuergesetz, § 9 Rz 125).
|
|
|
19
|
In diesem Punkt unterscheidet sich der
Verzicht auf Steuerfreiheit nach § 9 UStG von einer
Berichtigung des Steuerbetrags nach § 14c Abs. 1 Satz 2 oder
Abs. 2 Satz 3 UStG; denn die Berichtigung wirkt nicht auf den
Zeitpunkt der Ausstellung der Rechnung zurück (BFH-Beschluss
vom 31.5.2017 V B 5/17, BFH/NV 2017, 1202 = SIS 17 14 24, Rz 7,
m.w.N., und BFH-Urteil vom 26.1.2012 V R 18/08, BFHE 236, 250,
BStBl II 2015, 962 = SIS 12 06 35). Daher lässt sich die
Rechtsprechung des erkennenden Senats zu § 14c UStG
(Senatsurteil in BFHE 256, 6, BStBl II 2017, 496 = SIS 16 28 23,
und Senatsbeschluss vom 25.4.2018 VII R 18/16) nicht auf den
vorliegenden Streitfall übertragen.
|
|
|
20
|
Dasselbe gilt für die Rechtsprechung des
erkennenden Senats zu § 17 Abs. 2 UStG (Senatsurteil in BFHE
238, 307, BStBl II 2013, 36 = SIS 12 28 19).
|
|
|
21
|
2. Im Streitfall hat der Kläger erst im
August 2011 eine Rechnung mit Umsatzsteuerausweis über die von
der KG bis einschließlich Februar 2009 erbrachten
Pachtleistungen erhalten. Mit dieser Rechnung hat die KG die
Pachtleistungen als steuerpflichtige Umsätze behandelt und
demzufolge auf die Steuerfreiheit der Pachtleistungen verzichtet
(§ 4 Nr. 12 Buchst. a i.V.m. § 9 Abs. 1 UStG; vgl. auch
BFH-Urteil in BFHE 203, 410, BStBl II 2004, 39 = SIS 03 52 06). Der
Verzicht auf die Steuerfreiheit bewirkte rückwirkend, dass der
Umsatz steuerpflichtig ist (vgl. BFH-Urteil in BFHE 203, 410, BStBl
II 2004, 39 = SIS 03 52 06, unter II.2.b bb). Auch wenn der
Kläger seinen Anspruch erst mit dem Erhalt der Rechnung
geltend machen konnte, ändert dies nach den dargelegten
Grundsätzen nichts an dem Umstand, dass das Recht auf den
Vorsteuerabzug materiell-rechtlich bereits zum Zeitpunkt der
jeweiligen Pachtleistung entstanden ist, also i.S. des § 96
Abs. 1 Nr. 1 InsO vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens.
|
|
|
22
|
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §
135 Abs. 1 FGO.
|