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I. Der Kläger und Revisionskläger
(Kläger) hatte seinen Wohnsitz im Streitjahr 2007
zunächst in England; im März jenes Jahres verzog er in
die Bundesrepublik Deutschland (Deutschland).
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Er erzielte vom April bis Dezember des
Streitjahres als Pilot einer Fluggesellschaft mit Sitz in Irland
einen (Brutto-)Arbeitslohn von ... EUR. Die von dem Arbeitgeber auf
diesen Betrag einbehaltenen und an die zuständige irische
Finanzbehörde abgeführten Steuern wurden in voller
Höhe auf Antrag des Klägers an ihn erstattet.
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Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das
Finanzamt - FA - ) unterwarf den Arbeitslohn der deutschen
Besteuerung. Die Einkünfte seien wegen § 50d Abs. 9 Satz
1 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes 2002 (EStG 2002) i.d.F. des
Jahressteuergesetzes 2007 vom 13.12.2006 (BGBl I 2006, 2878) - EStG
2002/2007 - nicht gemäß Art. XII Abs. 3 i.V.m. Art. XXII
Abs. 2 Satz 1 Buchst. a Doppelbuchst. aa des Abkommens zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und Irland zur Vermeidung der
Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung
bei den Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie der
Gewerbesteuer vom 17.10.1962 (BGBl II 1964, 267, BStBl I 1964, 321)
- DBA-Irland - von der Bemessungsgrundlage für die Steuer in
Deutschland auszunehmen.
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Die dagegen gerichtete Klage blieb
erfolglos. Das Urteil des Finanzgerichts (FG) Bremen vom 10.2.2011
1 K 20/10 (3) ist in EFG 2011, 988 = SIS 11 14 03
abgedruckt.
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Seine Revision stützt der Kläger
auf Verletzung materiellen und formellen Rechts. Er beantragt, das
FG-Urteil aufzuheben und den angefochtenen Einkommensteuerbescheid
dahin abzuändern, dass die betreffenden Einkünfte von der
deutschen Besteuerung freigestellt und lediglich im Rahmen des
Progressionsvorbehalts berücksichtigt werden.
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Das FA beantragt, die Revision
zurückzuweisen.
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II. Die Revision ist begründet. Sie
führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur anderweitigen
Steuerfestsetzung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der
Finanzgerichtsordnung - FGO - ). § 50d Abs. 9 Satz 1 Nr. 2
EStG 2002/2007 ist im Ergebnis entgegen der Auffassung der
Vorinstanz für die im Streitfall zu beurteilende Konstellation
nicht anwendbar; die Regelung wird durch die insoweit vorrangige
Vorschrift des § 50d Abs. 8 EStG 2002 i.d.F. des Zweiten
Gesetzes zur Änderung steuerlicher Vorschriften
(Steueränderungsgesetz 2003) vom 15.12.2003 (BGBl I 2003,
2645) - EStG 2002/2004 - verdrängt.
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1. Der Kläger hatte seit April des
Streitjahres seinen Wohnsitz in Deutschland. Er unterfällt
deswegen gemäß § 1 Abs. 1 EStG 2002 hier mit seinem
Welteinkommen der unbeschränkten Einkommensteuerpflicht.
Dieser Pflicht ist auch der Arbeitslohn (§ 19 EStG 2002)
unterworfen, den er als Flugzeugführer für die irische
Fluggesellschaft im Zeitraum von April bis Dezember des
Streitjahres vereinnahmt hat.
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2. Das Besteuerungsrecht für diesen
Arbeitslohn ist in Deutschland allerdings nach Art. XII Abs. 3
i.V.m. Art. XXII Abs. 2 Satz 1 Buchst. a Doppelbuchst. aa Satz 1
DBA-Irland von der Bemessungsgrundlage für die Einkommensteuer
auszunehmen, weil es sich hierbei um Einkünfte aus Quellen
innerhalb Irlands handelt, die in Übereinstimmung mit dem
Abkommen in Irland besteuert werden können: Dass es sich um
Einkünfte aus Quellen innerhalb Irlands handelt, ergibt sich
aus Art. XXII Abs. 3 DBA-Irland; Dienstleistungen, die eine
natürliche Person ganz oder überwiegend an Bord von
Luftfahrzeugen erbringt, die eine in einem Vertragsstaat
ansässige Person betreibt, gelten danach als in diesem
Vertragsstaat erbracht. Und die Vergütungen für solche
Dienstleistungen können nach Art. XII Abs. 3 DBA-Irland in dem
Vertragsstaat besteuert werden, in dem sich der Ort der
tatsächlichen Geschäftsleitung des Unternehmens befindet,
im Streitfall also in Irland. In Deutschland verbleibt nach Art.
XXII Abs. 2 Satz 1 Buchst. a Doppelbuchst. aa Satz 2 DBA-Irland
lediglich die Möglichkeit, die Einkünfte gemäß
§ 32b EStG 2002 dem Progressionsvorbehalt zu unterwerfen.
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3. Jedoch wird die Freistellung jener
Einkünfte nach Maßgabe des Abkommens zur Vermeidung der
Doppelbesteuerung nach § 50d Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 EStG
2002/2007 ungeachtet des Abkommens nicht gewährt, wenn die
Einkünfte in dem anderen Staat nur deshalb nicht
steuerpflichtig sind, weil sie von einer Person bezogen werden, die
in diesem Staat nicht aufgrund ihres Wohnsitzes, ständigen
Aufenthalts, des Ortes ihrer Geschäftsleitung, des Sitzes oder
eines ähnlichen Merkmals unbeschränkt steuerpflichtig
ist. Mit dieser Formulierung will das Gesetz erreichen, dass das
Besteuerungsrecht an Deutschland zurückfällt, falls der
andere Vertragsstaat als Quellenstaat von dem ihm
abkommensrechtlich zugestandenen Besteuerungsrecht an bestimmten
Einkünften im Rahmen seiner beschränkten Steuerpflicht
rechtlich keinen Gebrauch macht.
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Eine derartige Situation ist im Streitfall
nach den tatrichterlichen und den Senat bindenden (vgl. § 118
Abs. 2 FGO) Feststellungen des FG zu der irischen Rechtslage
gegeben: Irland gebührt nach Art. XII Abs. 3 DBA-Irland das
Besteuerungsrecht für die in Rede stehenden Vergütungen
des Klägers. Irland verzichtet nach seinem Steuerrecht aber
auf die Einkommensbesteuerung. Zwar ist der leistende Arbeitgeber -
hier die Fluggesellschaft - verpflichtet, die auf den Arbeitslohn
anfallende Steuer als Quellensteuer einzubehalten und an die
Finanzbehörden abzuführen. Dem beschränkt
Steuerpflichtigen steht indes ein Erstattungsrecht zu. Von diesem
Recht hat im Streitfall auch der Kläger Gebrauch gemacht. Dass
die Geltendmachung des Erstattungsanspruchs antragsgebunden ist,
muss an der Regelungslage ebenso wenig ändern wie der Umstand,
dass die Quellensteuerabzugspflicht temporär oder - bei
unterbleibendem Erstattungsantrag - final eine doppelte Besteuerung
eines und desselben Sachverhalts in Irland und in Deutschland zur
Folge haben kann. Es verbleibt ungeachtet dessen und ungeachtet des
notwendigen Erstattungsantrags dabei, dass die Einkünfte nach
materiellem Recht in Irland abstrakt nicht beschränkt
steuerpflichtig sind und der dort einbehaltenen Quellensteuer
(Lohnsteuer) sonach auch keine abgeltende Wirkung zukommt. Der
Tatbestand des § 50d Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 EStG 2002/2007 ist
damit als solcher erfüllt.
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4. Die Anwendbarkeit von § 50d Abs. 9
Satz 1 Nr. 2 EStG 2002/2007 wird indessen ihrerseits durch Abs. 8
der Vorschrift ausgeschlossen. Diese Vorschrift ordnet in einer mit
Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 vergleichbaren Weise den Rückfall des
Besteuerungsrechts an Deutschland unbeschadet einer
völkerrechtlich vereinbarten Freistellung von Einkünften
an, dies aber - erstens - nur für Einkünfte eines
unbeschränkt Steuerpflichtigen aus nichtselbständiger
Arbeit und - zweitens -, soweit der Steuerpflichtige nicht
nachweist, dass der andere Vertragsstaat, dem nach dem Abkommen das
Besteuerungsrecht zusteht, auf dieses Besteuerungsrecht verzichtet
hat oder dass die in diesem Staat auf die Einkünfte
festgesetzten Steuern entrichtet wurden. Im Streitfall steht nach
den beschriebenen tatrichterlichen Feststellungen fest, dass Irland
die in Rede stehenden Einkünfte aus nichtselbständiger
Arbeit des Flugpersonals nicht in den Katalog beschränkt
steuerpflichtiger Einkünfte aufgenommen und insofern auf den
ihm eingeräumten Besteuerungszugriff nach seinem
innerstaatlichen Recht verzichtet hat; der (vorübergehende)
Lohnsteuereinbehalt widerspricht dem (auch hier) nicht. Das erhellt
zugleich, dass der Kläger den erforderlichen Nachweis
über den irischen Besteuerungsverzicht erbracht hat: Was
ohnehin feststeht, muss nicht gesondert nachgewiesen werden.
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Es verbleibt deswegen bei der
Einkommensfreistellung. § 50d Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 EStG
2002/2007 ändert daran unilateral nichts. Dass die
tatbestandlichen Voraussetzungen (auch) der letzteren Vorschrift
erfüllt sind, ist unbeachtlich. Denn § 50d Abs. 9 Satz 3
EStG 2002/2007 ordnet ausdrücklich an, dass (u.a.)
„Abs. 8 ... unberührt (bleibt)“. Das Gesetz
akzeptiert insofern mit § 50d Abs. 8 EStG 2002/2004 den -
einseitigen - Besteuerungsverzicht des anderen Staates (zu den
Verzichtsmotiven s. Wassermeyer in Debatin/Wassermeyer, DBA, MA
Art. 15 Rz 181) als Ausübung der zwischenstaatlich
vereinbarten Besteuerungszuordnung. Es ist nichts (auch nicht aus
der amtlichen Gesetzesbegründung, vgl. BTDrucks 16/2712, S. 61
f.) dafür ersichtlich, dass diese Akzeptanz durch Abs. 9 Satz
1 Nr. 2 im Verhältnis zu der Regelung in Abs. 8 der Vorschrift
für die Situation der (nicht im Ausland erfassten)
beschränkten Steuerpflicht wieder zurückgenommen werden
soll. Vielmehr hat umgekehrt § 50d Abs. 8 EStG 2002/2004 als
die speziellere Vorschrift sowohl inhaltlich als auch in seiner
gesetzessystematischen Stellung gegenüber Abs. 9 Satz 1 Nr. 2
Vorrang und steht demzufolge seinerseits auch nicht unter einem
entsprechenden, gegenläufigen Anwendungsvorbehalt zugunsten
von § 50d Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 EStG 2002/2007. Bestätigt
wird das dadurch, dass der Vorbehalt in Abs. 9 Satz 3 zum
„Unberührtbleiben“ von § 50d Abs. 8
EStG 2002/2004 sich auf beide dort rückfallauslösenden
Tatbestandsalternativen - nicht nachgewiesener Besteuerungsverzicht
einerseits oder nicht nachgewiesene Steuerzahlung andererseits -
erstreckt und damit allgemein und unbedingt wirkt, anders als
insoweit der nur eingeschränkte Vorrang einschlägiger
DBA-Rückfallklauseln, der in § 50d Abs. 9 Satz 3 EStG
2002/2007 zwar ebenfalls angeordnet wird, das aber nur für den
Fall, dass die jeweilige DBA-Rückfallklausel die Freistellung
von Einkünften in einem „weitergehenden
Umfang“ (als § 50d Abs. 9 EStG 2002/2007)
einschränkt (vgl. demgegenüber allerdings die
Denkschriften zu dem neu verhandelten DBA-Großbritannien
sowie dem ebenfalls neu verhandelten DBA-Irland, jeweils vom
30.3.2011, BTDrucks 17/2254, S. 38, und 17/6258, S. 36, wo auch
insoweit ein Spezialitätenvorrang gegenüber Abs. 9
angenommen wird). § 50d Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 EStG 2002/2007,
der allein auf das Fehlen einer spezifischen beschränkten
Steuerpflicht in dem anderen Staat abhebt, läuft damit
für Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit im
Ergebnis weitgehend leer. Ein Anwendungsbereich bleibt - ohne dass
darüber abschließend entschieden werden müsste -
allenfalls für jenen (hier nicht einschlägigen) Fall, in
welchem der Besteuerungsverzicht des anderen Staates nur einen Teil
der betreffenden Einkünfte erfasst. Denn § 50d Abs. 8
EStG 2002/2004 schränkt den Besteuerungsrückfall
entsprechend ein („soweit“), während §
50d Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 EStG 2002/2007 die Rechtsfolge des
Besteuerungsrückfalls davon abweichend mit dem
auslösenden Verzicht konditional verknüpft
(„wenn“) und insoweit eine partielle
Doppelbesteuerung in Kauf zu nehmen scheint. Ansonsten reduziert
sich der verbleibende Anwendungsbereich von § 50d Abs. 9 EStG
2002/2007 gegenüber Abs. 8 auf Abs. 9 Satz 1 Nr. 1, der im
Streitfall aber ebenfalls - und unter den Beteiligten auch
unstreitig - nicht einschlägig ist.
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Im Ergebnis folgt der Senat damit der im
Schrifttum überwiegend vertretenen Auffassung (z.B. Urbahns,
Unternehmenssteuern und Bilanzen 2011, 420; M. Klein/Hagena in
Herrmann/Heuer/ Raupach, EStG/KStG, § 50d EStG Rz 110, 124;
Nieland in Lademann, EStG, § 50d Rz 411; Schönfeld in
Flick/Wassermeyer/ Baumhoff/Schönfeld, Außensteuerrecht,
§ 50d EStG Rz 142; Frotscher, EStG, § 50d Rz 190; anders
Grotherr in Gosch/ Kroppen/Grotherr, DBA, Art. 23A, Art. 23B Rz
75/9). Der entgegenstehenden - die Frage des Anwendungsvorrangs von
§ 50d Abs. 8 EStG 2002/2004 aber möglicherweise nicht
erkennenden - Verwaltungspraxis (vgl. Bundesministerium der
Finanzen, Schreiben vom 12.11.2008, BStBl I 2008, 988 = SIS 08 41 08; Bayerisches Landesamt für Steuern, Verfügung vom
8.6.2011, DStR 2011, 1714, beide zum in Deutschland ansässigen
Flugpersonal irischer Fluggesellschaften) ist nicht
beizupflichten.
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5. Es bedarf angesichts dessen keiner weiteren
Überlegungen dazu, ob die Regelung des § 50d Abs. 9 Satz
1 Nr. 2 EStG 2002/2007 ebenso wie jene des § 50d Abs. 8 EStG
2002/2004 gegen das in Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes verankerte
Rechtsstaatsgebot verstoßen, weil sie als sog. treaty
override völker- und verfassungsrechtswidrig sein könnten
(s. z.B. Senatsbeschluss vom 19.5.2010 I B 191/09, BFHE 229, 322,
BStBl II 2011, 156 = SIS 10 17 73, m.w.N.).
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6. Die von der Vorinstanz vertretene
Rechtsauffassung weicht im Ergebnis von jener des erkennenden
Senats ab. Ihr Urteil war aufzuheben. Die Sache ist spruchreif. Der
angefochtene Steuerbescheid ist antragsgemäß zu
ändern; die in Rede stehenden - als solche unstreitigen -
Einkünfte in Höhe von ... EUR sind im Ergebnis und im
Einklang mit dem DBA-Irland antragsgemäß steuerfrei zu
belassen, jedoch dem Progressionsvorbehalt zu unterwerfen. Die
Ermittlung und Berechnung des festzusetzenden Betrages wird dem FA
nach Maßgabe der Gründe dieser Entscheidung
überlassen (§ 121 Satz 1 i.V.m. § 100 Abs. 2 Satz 2
FGO).
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