Rechtsbehelfsschrift, Auslegung: Fehlt es an einer eindeutigen und zweifelsfreien Erklärung des wirklich Gewollten in der Rechtsbehelfsschrift, hat das FG den wirklichen Willen des Steuerpflichtigen durch Auslegung seiner Erklärung zu ermitteln. Dabei ist grundsätzlich davon auszugehen, dass der Steuerpflichtige denjenigen Verwaltungsakt anfechten will, der angefochten werden muss, um zu dem erkennbar angestrebten Erfolg zu kommen. - Urt.; BFH 8.5.2008, VI R 12/05; SIS 08 44 52
I. Die Kläger und Revisionskläger
(Kläger) wurden als Ehegatten im Streitjahr (2001) mit
Bescheid vom 19.8.2002 zur Einkommensteuer,
Solidaritätszuschlag und Kirchensteuer zusammen veranlagt. Mit
Schreiben vom 29.8.2002 erhob der damalige Bevollmächtigte der
Kläger dagegen „Einspruch“ und führte zur
Begründung aus, „der Einspruch richtet sich gegen die
Festsetzung eines Kirchgeldes für die Ehefrau“. Hierauf
erwiderte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -
) mit Schreiben vom 5.9.2002, da sich der Einspruch gegen die
Festsetzung des Kirchgeldes richte und der richtige Rechtsbehelf
hiergegen der Widerspruch wäre, werde der Einspruch als
Widerspruch gegen den Kirchensteuerbescheid behandelt. Indessen
habe auch dieser keine Aussicht auf Erfolg. Nach vergeblicher Bitte
um Stellungnahme bis zum 4.10.2002 und Erinnerung vom 14.10.2002
meldete sich mit Schriftsatz vom 17.10.2002 der jetzige
Bevollmächtigte der Kläger und führte aus:
„Der Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid 2001 wird
weiter aufrecht erhalten.“ Neben der Herabsetzung des
Kirchgeldes machte er weitere Werbungskosten geltend. Nach weiterem
Schriftwechsel zur materiellen Berechtigung des
Werbungskostenabzugs setzte das FA mit Bescheid vom 29.1.2003 das
Kirchgeld antragsgemäß herab und wies mit Bescheid vom
3.2.2003 den Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid, der
ausdrücklich als zulässig bezeichnet wurde, als
unbegründet zurück.
Die am 3.3.2003 gegen den
Einkommensteuerbescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung
erhobene Klage, mit der die Kläger den Abzug weiterer
Werbungskosten geltend machten, wies das Finanzgericht (FG) mit der
Begründung ab (vgl. SIS 05 29 19), Einspruch sei erstmals mit
Schreiben vom 17.10.2002, also verspätet eingelegt worden,
weil das Schreiben vom 29.8.2002 - nach seiner Begründung -
nur als Widerspruch gegen die Kirchensteuerfestsetzung habe
angesehen werden können. Da der Einkommensteuerbescheid
demnach bestandskräftig geworden sei, sei schon aus diesem
Grund die Klage ohne weitere Sachprüfung abzuweisen.
Mit der Revision machen die Kläger
Verletzung materiellen Rechts geltend.
Die Kläger beantragen, unter Aufhebung
der Vorentscheidung die Sache an das FG zurückzuverweisen,
damit dieses über die geltend gemachten Werbungskosten
entscheiden könne.
Das FA beantragt, die Revision als
unbegründet zurückzuweisen.
II. Die Revision der Kläger ist
unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2
der Finanzgerichtsordnung - FGO - ). Das Urteil des FG entspricht
dem materiellen Recht (§ 118 Abs. 1 Satz 1 FGO). Dem Gericht
ist darin zu folgen, dass eine Überprüfung in der Sache
nicht mehr möglich gewesen ist. Der Einkommensteuerbescheid
vom 19.8.2002 ist bestandskräftig geworden.
Die Annahme des FG, der von dem ehemaligen
Prozessbevollmächtigten der Kläger als
„Einspruch“ bezeichnete Rechtsbehelf vom
29.8.2002 habe sich nicht gegen den Einkommensteuerbescheid vom
19.8.2002, sondern ausschließlich gegen den
Kirchensteuerbescheid selben Datums gerichtet, hält einer
revisionsrechtlichen Prüfung stand.
1. Gemäß § 357 Abs. 3 Satz 1
der Abgabenordnung (AO) „soll“ bei der Einlegung
des Rechtsbehelfs der Verwaltungsakt bezeichnet werden, gegen den
der Einspruch gerichtet ist. Danach ist die Rechtswirksamkeit des
eingelegten Rechtsbehelfs nicht von einer genauen Bezeichnung des
angefochtenen Verwaltungsakts abhängig. Es ist jedoch
erforderlich, dass sich die Zielrichtung des Begehrens aus der
Rechtsbehelfsschrift in der Weise ergibt, dass sich der
angefochtene Verwaltungsakt entweder aus dem Inhalt der
Rechtsbehelfsschrift selbst ermitteln lässt oder Zweifel oder
Unklarheiten am Gewollten durch Rückfragen des FA beseitigt
werden können (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom
18.1.2007 IV R 35/04, BFH/NV 2007, 1509 = SIS 07 24 17). Fehlt es
an einer eindeutigen und zweifelsfreien Erklärung des
tatsächlich Gewollten, ist der wirkliche Wille des
Steuerpflichtigen durch Auslegung seiner Erklärungen zu
ermitteln. Dabei ist grundsätzlich davon auszugehen, dass der
Steuerpflichtige denjenigen Verwaltungsakt anfechten will, der
angefochten werden muss, um zu dem erkennbar angestrebten Erfolg zu
kommen (vgl. BFH-Entscheidungen vom 8.5.2007 X B 43/06, BFH/NV
2007, 1499 = SIS 07 24 08; vom 24.7.2006 IX B 208/05, BFH/NV 2006,
2269 = SIS 06 44 88; vom 19.7.2005 XI B 206/04, BFH/NV 2006, 68 =
SIS 06 02 69; vom 27.5.2004 IV R 48/02, BFHE 206, 211, BStBl II
2004, 964 = SIS 04 36 37). Dies gilt grundsätzlich auch
für Erklärungen rechtskundiger Personen (vgl. z.B.
BFH-Beschlüsse vom 24.8.2006 XI B 149/05, BFH/NV 2006, 2035 =
SIS 06 41 31; vom 6.7.2005 XI B 45/03, BFH/NV 2005, 2029 = SIS 05 45 27).
Die Auslegung des Einspruchs ist Gegenstand
der vom FG zu treffenden tatsächlichen Feststellungen, an die
das Revisionsgericht gebunden ist (§ 118 Abs. 2 FGO), soweit
im Revisionsverfahren keine zulässigen und begründeten
Revisionsrügen erhoben werden. Das Revisionsgericht kann die
Auslegung durch das FG nur daraufhin überprüfen, ob das
FG die gesetzlichen Auslegungsregeln beachtet und nicht gegen
Denkgesetze und Erfahrungssätze verstoßen hat
(BFH-Urteil in BFH/NV 2007, 1509 = SIS 07 24 17; vgl.
Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 118 Rz
48). Revisionsrechtlich in vollem Umfang nachprüfbar ist
indes, ob der Einspruch auslegungsbedürftig ist. Hieran fehlt
es, wenn die Erklärung nach Wortlaut und Zweck einen
eindeutigen Inhalt hat (vgl. BFH-Urteile vom 28.11.2001 I R 93/00,
BFH/NV 2002, 613 = SIS 02 62 03; vom 19.6.1997 IV R 51/96, BFH/NV
1998, 6).
2. Die Entscheidung des FG entspricht diesen
Rechtsgrundsätzen.
a) Der insoweit streitgegenständliche
Bescheid über Einkommen- und Kirchensteuer vom 19.8.2002 ist
ein sog. Sammelbescheid. Beide Steuerfestsetzungen stehen
selbständig nebeneinander und sind lediglich in einem Bescheid
verbunden. Die Steuerfestsetzungen können daher
grundsätzlich unabhängig voneinander angefochten werden
(BFH-Urteil in BFH/NV 2007, 1509 = SIS 07 24 17; Birkenfeld in
Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 347 AO Rz 79). Ausgehend von
dieser Sachlage ist der Inhalt des mit Schreiben vom 29.8.2002
eingelegten Rechtsbehelfs auslegungsbedürftig. Zwar wird darin
zunächst, gleichsam einleitend, ausgeführt, dass
Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr
eingelegt werde. Eine Beschwer durch die Einkommensteuerfestsetzung
haben die Kläger allerdings nicht dargelegt, sondern
ausgeführt, dass sich der Einspruch gegen die Festsetzung
eines Kirchgeldes für die Ehefrau richte, und dies kurz
begründet. Das FA hatte den Rechtsbehelf des damaligen
Prozessbevollmächtigten der Kläger infolgedessen
zunächst als „Widerspruch“ gegen die
Festsetzung der Kirchensteuer desselben Jahres angesehen.
Angesichts dieser Widersprüchlichkeiten hat das FG die mit
Schriftsatz vom 29.8.2002 abgegebenen Erklärungen der
Kläger zu Recht als auslegungsbedürftig und
auslegungsfähig angesehen.
b) Die vom FG vorgenommene Auslegung, dass der
mit Schreiben vom 29.8.2002 eingelegte Rechtsbehelf als Widerspruch
gegen den Kirchensteuerbescheid zu werten sei, lässt einen
Verstoß gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze nicht
erkennen.
Die Auslegung orientiert sich ersichtlich an
dem von den Klägern dargelegten Rechtsschutzziel, sich gegen
die Festsetzung des Kirchgeldes für den
kirchenangehörigen Ehegatten zu wenden. Daher steht auch der
Umstand, dass die rechtskundig beratenen Kläger ihren
Rechtsbehelf zunächst als Einspruch gegen den
Einkommensteuerbescheid bezeichnet haben, anstatt den
Kirchensteuerbescheid mit dem hierfür vorgesehenen
Rechtsbehelf des Widerspruchs anzugreifen, dieser Auslegung nicht
entgegen. Denn ebenso, wie nach § 357 Abs. 1 Satz 4 AO die
unrichtige Bezeichnung des Einspruchs nicht schadet, also etwa auch
ein als Widerspruch bezeichneter Rechtsbehelf als wirksamer
Einspruch angesehen werden kann (Tipke in Tipke/Kruse,
Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 357 AO Rz 4), kann
ein als Einspruch bezeichneter Rechtsbehelf als Widerspruch zu
behandeln sein. Wenn daher das FG angesichts der Ausführungen
der Kläger, sich gegen die Festsetzung eines Kirchgeldes
für die Ehefrau wenden zu wollen, den als Einspruch
bezeichneten Rechtsbehelf als Widerspruch gegen die
Kirchgeldfestsetzung auslegte, ist dies revisionsrechtlich nicht zu
beanstanden.