Steuerhinterziehung, Berufung auf verlängerte Festsetzungsfrist: 1. Mit der gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 AO auf zehn Jahre verlängerten Festsetzungsfrist soll es dem durch eine Steuerstraftat geschädigten Steuergläubiger ermöglicht werden, die ihm vorenthaltenen Steuerbeträge auch noch nach Ablauf von vier Jahren zurückzufordern. Sinn und Zweck des § 169 Abs. 2 Satz 2 AO bestehen jedoch nicht darin, den Steuerhinterzieher in die Lage zu versetzen, Erstattungsansprüche über die reguläre Verjährungsfrist hinaus zu realisieren. - 2. § 169 Abs. 2 Satz 2 AO setzt einen hinterzogenen Betrag im Sinne eines Anspruchs des Fiskus auf eine Abschlusszahlung voraus, der wegen einer vollendeten Steuerhinterziehung bislang nicht geltend gemacht werden konnte. - Urt.; BFH 26.2.2008, VIII R 1/07; SIS 08 25 83
I. Streitig ist, ob eine Änderung der
Einkommensteuerfestsetzung für 1997, die im Ergebnis durch
Anrechnung einbehaltener Kapitalertragsteuer zu einer Erstattung
führen würde, noch aufgrund der verlängerten
Festsetzungsfrist gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 der
Abgabenordnung (AO) - Steuerhinterziehung - zulässig
ist.
Die Kläger und Revisionsbeklagten
(Kläger) wurden im Streitjahr 1997 zusammen zur
Einkommensteuer veranlagt. In ihrer am 29.3.1999 beim Beklagten und
Revisionskläger (Finanzamt - FA - ) eingereichten
Einkommensteuererklärung gaben sie Einkünfte aus
Gewerbebetrieb, aus nichtselbstständiger Arbeit und aus
Vermietung und Verpachtung an. Auf Seite 2 des Mantelbogens
erklärten sie zudem durch Ankreuzen des Kästchens in
Zeile 31 des Mantelbogens, dass die Einnahmen aus
Kapitalvermögen weniger als 12.200 DM betragen. Die Anlage KSO
fügten sie ihrer Steuererklärung nicht bei. Das FA
veranlagte erklärungsgemäß und setzte mit Bescheid
vom 21.6.1999 die Einkommensteuer auf 0 DM fest.
Am 24.12.2004 ging beim FA ein als
Selbstanzeige und strafbefreiende Erklärung bezeichnetes
Schreiben der Kläger vom 23.12.2004 ein. Aus dem
Schriftstück ergab sich, dass die Kläger in den Jahren
1993 bis 2002 nicht erklärte Kapitaleinkünfte bezogen
hatten. Für das Jahr 1997 war die Anlage KSO nebst
Steuerbescheinigungen einer Bank beigefügt. Daraus ging
hervor, dass die Kläger Einkünfte aus
Kapitalvermögen in Höhe von 34.443 DM erzielt hatten und
Kapitalertragsteuer von 12.438,66 DM sowie Körperschaftsteuer
von 711,43 DM anzurechnen waren.
Das FA nahm eine Probeberechnung vor, nach
der eine Veranlagung zu einer festzusetzenden Einkommensteuer in
Höhe von 5.706 DM, nach Abzug der anzurechnenden
Kapitalertrag- und Körperschaftsteuer jedoch zu einer
Steuererstattung von 7.445 DM geführt hätte. Daraufhin
lehnte das FA die von den Klägern begehrte Änderung der
Einkommensteuerfestsetzung sowie die Anrechnung der
Kapitalertragsteuer ab. Eine Änderung gemäß §
173 Abs. 1 Nr. 1 AO sei nicht zulässig, weil die
Festsetzungsverjährung bereits eingetreten sei. Die
Verlängerung der Frist gemäß § 169 Abs. 2 Satz
2 AO setze eine Steuerhinterziehung i.S. von § 370 AO voraus,
an der es im Streitfall aber fehle. Bereits der objektive
Tatbestand der Strafnorm sei nicht erfüllt, weil dem Fiskus
durch den Einbehalt der Abzugssteuer kein Schaden entstanden sei.
Nach § 36 Abs. 2 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG)
scheide auch die Anrechnung der Kapitalertragsteuer aus, weil die
Einnahmen aus Kapitalvermögen infolge
Festsetzungsverjährung nicht mehr erfasst werden
könnten.
Nach erfolglosem Einspruch gab das
Finanzgericht (FG) mit in EFG 2006, 473 = SIS 06 13 68
veröffentlichtem Urteil der Klage mit im Wesentlichen
folgender Begründung statt:
Die Voraussetzungen für eine
Änderung des Einkommensteuerbescheids nach § 173 Abs. 1
Nr. 1 AO lägen vor. Es greife auch die zehnjährige
Festsetzungsfrist nach § 169 Abs. 2 Satz 2 AO ein. Entgegen
der Auffassung u.a. der Oberfinanzdirektion (OFD) München
(Verfügung vom 19.5.2004 S 0351 - 31 St 312 = SIS 05 08 46,
AO-Kartei Bayern § 173 AO Karte 2) sei der Tatbestand der
Steuerhinterziehung gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO
erfüllt.
Mit der - vom Senat mit Beschluss vom
9.1.2007 VIII B 232/05 zugelassenen - Revision rügt das FA die
Verletzung der §§ 169 Abs. 2 Satz 2 und 370 Abs. 1
AO.
Der objektive Tatbestand des § 370 AO
sei nicht erfüllt. Bei der Steuerhinterziehung handele es sich
um ein Erfolgsdelikt, ein Steuerschaden sei dem Fiskus wegen der
einbehaltenen Abzugssteuern aber nicht entstanden. Selbst wenn eine
konkrete Gefährdung des Steueraufkommens
tatbestandsmäßig sei, dürfte vorliegend der
Vorteilsausgleich - Kompensation der Steuermehrfestsetzung durch
die Steueranrechnung - zulässig sein. Denn das
Kompensationsverbot des § 370 Abs. 4 Satz 3 AO greife nicht
ein, wenn es um die rechtliche Beurteilung ein und desselben
Vorganges gehe. Zinsen und Zinsabschlag seien in diesem Sinne
unmittelbar miteinander verbunden.
Selbst wenn § 370 AO objektiv und
subjektiv erfüllt wäre, käme § 169 Abs. 2 Satz
2 AO nur dann zur Anwendung, wenn eine tatsächlich zu zahlende
Steuer hinterzogen worden sei. Dies folge aus einer
verständigen, am Normzweck orientierten Auslegung dieser
Vorschrift. Auf das in EFG 2005, 1579 = SIS 05 43 37
veröffentlichte Urteil des FG Hamburg vom 24.6.2005 I 349/04 =
SIS 05 43 37 sei zu verweisen.
Das FA beantragt, das angefochtene Urteil
aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen, die Revision
zurückzuweisen.
Die Frage einer Kompensation und damit des
Kompensationsverbots spiele keine Rolle. Bei der Steuerfestsetzung
im Streitfall sei tatsächlich die Steuer zu niedrig
festgesetzt worden, erst durch den nachfolgenden zusätzlichen
Verwaltungsakt (Anrechnungsverfügung) habe sich eine
niedrigere zu zahlende Steuer ergeben. § 370 Abs. 4 Satz 3 AO
könne daher allenfalls analog angewandt werden. Es sei
offensichtlich, dass man Festsetzung und Anrechnung nicht in einen
Topf werfen könne.
II. Die Revision des FA ist begründet.
Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung
der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung
- FGO - ).
Das FG hat zu Unrecht angenommen, dass die
Festsetzungsfrist gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 AO im
Streitfall zehn Jahre beträgt und die Änderung der
Einkommensteuerfestsetzung 1997 somit noch zulässig ist.
1. Steuerbescheide sind gemäß
§ 173 Abs. 1 Nr. 1 AO zu ändern, soweit Tatsachen
nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer
führen. Eine Änderung ist jedoch dann nicht mehr
zulässig, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist (§
169 Abs. 1 Satz 1 AO). Die Frist zur Festsetzung der
Einkommensteuer beträgt nach § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO
vier Jahre. Sie beträgt zehn Jahre, soweit eine Steuer
hinterzogen, und fünf Jahre, soweit sie leichtfertig
verkürzt worden ist (§ 169 Abs. 2 Satz 2 AO). Erstattet
der Steuerpflichtige vor Ablauf der Festsetzungsfrist eine
Selbstanzeige gemäß § 371 AO oder gemäß
§ 378 Abs. 3 AO, so endet die Festsetzungsfrist nicht vor
Ablauf eines Jahres nach Eingang der Anzeige (§ 171 Abs. 9
AO).
Die Annahme einer auf zehn oder fünf
Jahre verlängerten Frist setzt voraus, dass die objektiven und
subjektiven Tatbestandsmerkmale einer vollendeten
Steuerhinterziehung i.S. des § 370 AO oder einer
leichtfertigen Steuerverkürzung i.S. des § 378 AO
vorliegen (ständige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs - BFH
-, vgl. BFH-Urteile vom 2.4.1998 V R 60/97, BFHE 186, 1, BStBl II
1998, 530 = SIS 98 17 51; vom 19.12.2002 IV R 37/01, BFHE 200, 495,
BStBl II 2003, 385 = SIS 03 18 31).
Gemäß § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG
wird auf die Einkommensteuer die durch Steuerabzug erhobene
Einkommensteuer angerechnet, soweit sie auf die bei der Veranlagung
erfassten Einkünfte entfällt. Wenn sich aus der
Abrechnung ein Überschuss zuungunsten des Steuerpflichtigen
ergibt, so hat er diesen Betrag innerhalb eines Monats nach
Bekanntgabe des Steuerbescheids zu entrichten (Abschlusszahlung,
§ 36 Abs. 4 Satz 1 EStG). Die Anrechnungsverfügung stellt
einen selbstständigen, von der Steuerfestsetzung zu
unterscheidenden, rechtsbestätigenden Verwaltungsakt dar, der
Teil des Erhebungsverfahrens ist (BFH-Urteile vom 15.4.1997 VII R
100/96, BFHE 182, 506, BStBl II 1997, 787 = SIS 97 19 74; vom
18.7.2000 VII R 32, 33/99, BFHE 192, 405, BStBl II 2001, 133 = SIS 01 02 03).
2. Nach diesen Maßstäben ist im
Streitfall die Festsetzungsfrist abgelaufen und die Änderung
der Steuerfestsetzung 1997 nicht mehr zulässig. Da die
Kapitaleinkünfte somit bei der Veranlagung nicht mehr erfasst
werden können, kommt die von den Klägern im Ergebnis
begehrte Anrechnung der Kapitalertragsteuer und eine hieraus
resultierende Auszahlung des Überschusses nicht in
Betracht.
Die Einkommensteuererklärung 1997 wurde
am 29.3.1999 abgegeben. Der Beginn der Festsetzungsfrist fiel daher
gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO auf das
Jahresende 1999. Die normale Festsetzungsfrist von vier Jahren
endete mit Ablauf des 31.12.2003. Da die Selbstanzeige erst im
Dezember 2004 erstattet wurde, war der Ablauf der Festsetzungsfrist
nicht nach § 171 Abs. 9 AO oder nach § 171 Abs. 3 AO
gehemmt. Beide Tatbestände setzen nach ihrem eindeutigen
Wortlaut nämlich eine offene Verjährungsfrist voraus, an
der es vorliegend aber fehlt.
3. Die Festsetzungsfrist war nicht
gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 AO auf fünf oder
zehn Jahre verlängert. Die höchstrichterlich bislang
nicht geklärte und von der Vorinstanz bejahte Streitfrage, ob
der objektive und subjektive Tatbestand der
Einkommensteuerhinterziehung oder der leichtfertigen
Einkommensteuerverkürzung gegeben ist, wenn aufgrund einer
unrichtigen Steuererklärung die Einkommensteuer zwar zu
niedrig festgesetzt, Einkommensteuer durch Steuerabzug aber bereits
erhoben wurde, lässt der Senat dahinstehen, weil es hierauf im
Ergebnis nicht ankommt. Denn die Regelung in § 169 Abs. 2 Satz
2 AO ist dahin zu interpretieren, dass sie einen hinterzogenen
Betrag im Sinne eines Anspruchs des Fiskus auf eine
Abschlusszahlung voraussetzt, der wegen einer vollendeten
Steuerhinterziehung oder leichtfertigen Steuerverkürzung
bislang nicht realisiert werden konnte (gleicher Auffassung Urteil
des FG Hamburg in EFG 2005, 1579 = SIS 05 43 37; Frotscher in
Schwarz, AO, § 169 Rz 22; Lindwurm, Der AO-Steuerberater -
AO-StB - 2007, 218; kritisch, aber ohne nähere Begründung
Kruse in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, §
169 AO Rz 13). An dem so definierten hinterzogenen Betrag fehlt es
vorliegend aber, weil der Steuergläubiger die geschuldete
Einkommensteuer durch Steuerabzug bereits erhoben hatte und
objektiv nie ein Anspruch auf eine Abschlusszahlung zu seinen
Gunsten bestand.
Das hier gefundene Ergebnis folgt im
Wesentlichen aus der an den Zwecken des § 169 Abs. 2 Satz 2 AO
orientierten Auslegung (vgl. zur teleologischen Auslegung
BFH-Urteile vom 14.5.1991 VIII R 31/88, BFHE 164, 516, BStBl II
1992, 167 = SIS 91 19 17; vom 26.9.1995 VIII R 70/94, BFHE 180, 21,
BStBl II 1996, 464 = SIS 96 18 41; vom 10.10.2002 VI R 95/99, BFHE
200, 359, BStBl II 2002, 886 = SIS 03 01 77). Im Einzelnen sind
für den Senat folgende Erwägungen maßgebend:
a) Nach den Wertungen des Gesetzes soll es dem
durch eine Steuerstraftat geschädigten Steuergläubiger
ermöglicht werden, die ihm vorenthaltenen Steuerbeträge
auch noch nach Ablauf von vier Jahren zurückzufordern. Sinn
und Zweck des § 169 Abs. 2 Satz 2 AO bestehen jedoch nicht
darin, den Hinterzieher in die Lage zu versetzen,
Erstattungsansprüche über die reguläre
Verjährungsfrist hinaus zu realisieren.
aa) Mit der Fristverlängerung verfolgt
der Gesetzgeber einen doppelten Zweck. Das erste Regelungsziel
besteht nach allgemeiner Meinung darin, dass der Verwaltung
ausreichend Zeit zur Berichtigung falscher Bescheide zur
Verfügung gestellt werden soll, um den mit der
Steuerhinterziehung einhergehenden objektiven Erschwernissen bei
der Sachverhaltsaufklärung angemessen Rechnung zu tragen.
Steuerhinterziehungen sind dadurch gekennzeichnet, dass der
Täter bewusst die Mittel der Täuschung einsetzt, um den
wahren Sachverhalt zu verschleiern und so den staatlichen
Besteuerungszugriff ins Leere laufen zu lassen. Der Straftäter
hat zudem ein starkes Eigeninteresse daran, die Aufklärung des
Steuerfalls zu erschweren oder gar zu vereiteln, weil sein Streben
dahin geht, sich den Besitz des betrügerisch erlangten
Vermögensvorteils auf Dauer zu erhalten und der drohenden
Bestrafung zu entgehen. Regelmäßig bedarf es daher
staatlicherseits besonderer Mittel und Anstrengungen, die über
das hinausgehen, was im Veranlagungsverfahren üblicherweise
geleistet werden kann. Häufig gelingt es der Verwaltung erst
nach Jahren - ggf. im Zuge einer Außenprüfung (zu diesem
Aspekt bereits Becker, Die Reichsabgabenordnung, 7. Aufl., §
121 Nr. 3) - den wahren Sachverhalt aufzudecken. Die Berichtigung
der falschen Bescheide soll dann nicht an der Geltung einer relativ
kurzen Verjährungsfrist scheitern (vgl. BFH-Urteile vom
4.3.1980 VII R 88/77, BFHE 130, 131; in BFHE 186, 1, BStBl II 1998,
530 = SIS 98 17 51; Abgabenordnung [Gesetzesentwurf der
Bundesregierung], BTDrucks VI/1982, S. 150; Ruban in
Hübschmann/Hepp/Spitaler - HHSp -, § 169 AO Rz 28;
Becker, a.a.O., § 121 Nr. 3).
Vorliegend steht jedoch ein Fall der
„Selbstschädigung“ des Steuerpflichtigen
zur Beurteilung an. Denn der angebliche Täter der
Steuerhinterziehung wäre „finanziell besser
gefahren“, wenn er bei der Wahrheit geblieben wäre
und seinen Erstattungsanspruch geltend gemacht hätte. Hat in
einem solchen Fall der Täter tatsächlich
vorsätzlich, also in Kenntnis der Tatumstände gehandelt,
so hat er allen Anlass, Hindernisse bei der
Sachverhaltsaufklärung beiseite zu räumen und den wahren
Sachverhalt beizeiten aufzudecken, um sich in den Genuss der
Steuererstattung zu bringen. Ein objektives Bedürfnis, die
Festsetzungsfrist in einem solchen Fall zu verlängern, besteht
hiernach nicht.
bb) Die objektiven administrativen
Schwierigkeiten bei der Sachverhaltsaufklärung und
Steuerfestsetzung liefern jedoch nicht den einzigen Grund für
die Fristverlängerung. Da die Fristlänge je nach dem
Unrechts- und Schuldgehalt der steuerlichen Verfehlung variiert -
fünf Jahre bei leichtfertiger Steuerverkürzung,
Verdoppelung auf zehn Jahre bei vorsätzlicher Begehungsweise
-, zeigt sich daran, dass die Anwendung des § 169 Abs. 2 Satz
2 AO auch von subjektiven Unrechtselementen geprägt wird. Der
Norm geht es darum, den mit dem Institut der Verjährung
allgemein verfolgten Zweck, Rechtsfriede zwischen dem
Abgabeberechtigten und dem Steuerpflichtigen eintreten zu lassen -
insoweit liegt die Regelung gleichermaßen im Interesse der
Allgemeinheit als auch des Steuerpflichtigen (vgl. BFH-Urteil vom
19.8.1999 III R 57/98, BFHE 191, 198, BStBl II 2000, 330 = SIS 00 09 37) -, im speziellen Fall der Steuerunehrlichkeit in zeitlicher
Hinsicht für eine längere Zeitspanne zurücktreten zu
lassen. Hat also der leichtfertig, erst recht aber der
vorsätzlich handelnde Steuerdelinquent selbst die
entscheidende Ursache dafür gesetzt, dass die Steuern nicht in
gesetzmäßiger Weise festgesetzt und erhoben wurden, dann
darf er je nach dem Maß seiner Unehrlichkeit die
Rechtswohltat der Verjährung (vgl. § 47 AO) erst nach
Ablauf von fünf oder zehn Jahren in Anspruch nehmen. Der
geschädigte Fiskus darf bis dahin die hinterzogenen
Beträge im Interesse der Besteuerungsgleichheit nachfordern.
Rechtsfriede nach Ablauf der vierjährigen Frist soll nur in
den Fällen eintreten, in denen sich der Steuerpflichtige nicht
schuldhaft, also steuerehrlich verhalten hat. Allein der
Steuerehrliche darf das vom Rechtsinstitut der Verjährung
geschützte Vertrauen, nach Ablauf der regulären
Verjährungsfrist im Interesse der Rechtssicherheit keinen
Steuernachforderungen des Finanzamts mehr ausgesetzt zu sein, in
Anspruch nehmen (vgl. BFH-Urteile in BFHE 130, 131, und in BFHE
186, 1, BStBl II 1998, 530 = SIS 98 17 51; BFH-Urteil vom 12.8.1997
VII R 107/96, BFHE 184, 198, BStBl II 1998, 131 = SIS 98 03 77;
Ruban in HHSp, § 169 AO Rz 28; Kruse in Tipke/Kruse, a.a.O.,
§ 169 AO Rz 13; Hartmann in Beermann/Gosch, AO, § 169 Rz
20).
Die Regelung des § 169 Abs. 2 Satz 2 AO
ist damit auf eine - vom jeweiligen Schuldumfang abhängige -
verfahrensrechtliche Schlechterstellung des Steuerhinterziehers im
Vergleich zum steuerehrlichen Bürger angelegt. Diese
Grundentscheidung des Gesetzgebers darf in Erstattungsfällen,
wie dem vorliegenden, nicht in ihr Gegenteil verkehrt werden. Es
gilt vielmehr, sie folgerichtig zu Ende zu denken, um sachlich
nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlungen zwischen ehrlichen
und unehrlichen Steuerpflichtigen zu vermeiden. Denn die -
lediglich - vierjährige Verjährungsfrist gilt auch
für den ehrlichen Steuerpflichtigen, dem aus Rechtsunkenntnis,
wegen eines Irrtums, wegen leicht fahrlässigen Handelns oder
aus reiner Vergesslichkeit ein (Flüchtigkeits-)Fehler bei der
Anfertigung der Steuererklärung unterläuft, der zu einem
ihn benachteiligenden falschen Steuerbescheid führt. Nur
innerhalb der normalen Verjährung besteht für ihn die
Möglichkeit, die Korrektur der gesetzwidrig zu hohen
Steuerfestsetzung oder der zu niedrigen Steuererstattung
herbeizuführen. Gegenüber einem solchen
Steuerpflichtigen, der Kapitalerträge etwa deswegen i.S. des
§ 370 Abs. 1 AO nicht erklärt, weil er in Folge eines
Tatbestandsirrtums gemäß § 16 Abs. 1 des
Strafgesetzbuchs (StGB) an die abgeltende Wirkung der einbehaltenen
Kapitalertragsteuer glaubt, darf ein Steuerhinterzieher nicht
verfahrensrechtlich privilegiert werden.
b) Die grammatische Interpretation der in
§ 169 Abs. 2 Satz 2 AO verwandten Begriffsfolge
„soweit eine Steuer hinterzogen worden ist“ und
der systematische Zusammenhang der Regelung mit verwandten
steuerverfahrensrechtlichen Vorschriften, zu deren
Tatbestandsmerkmalen eine Steuerhinterziehung gehört,
bestätigen das Ergebnis der teleologischen Auslegung. Sie
zeigen, dass eine Steuer dann i.S. des § 169 Abs. 2 Satz 2 AO
hinterzogen worden ist, wenn eine vollendete Steuerhinterziehung
dazu geführt hat, dass dem Fiskus ein Steuerbetrag
vorenthalten wurde, zu dessen Rückgewinnung jener auf eine
verlängerte Festsetzungsfrist angewiesen ist. Dieses
Normverständnis folgt aus dem Umstand, dass der
Straftatbestand der vollendeten Steuerhinterziehung von seinem
Anwendungsbereich her Taten erfasst, die sich materiell als
Fälle bloßer Vermögensgefährdung
beziehungsweise als Fälle versuchter Steuerhinterziehung
erweisen. Hier gibt es, obgleich der Tatbestand des § 370 AO
vollständig erfüllt wurde, keinen hinterzogenen
Steuerbetrag, der Gegenstand der zehnjährigen
Festsetzungsfrist sein kann.
aa) So führt das in § 370 Abs. 4
Satz 3 AO enthaltene sogenannte Kompensationsverbot in seinem
typischen Anwendungsbereich zwar zur Annahme einer vollendeten
Steuerhinterziehung, aber nicht zur Verlängerung der
Festsetzungsfrist gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 AO.
Fingiert etwa ein Steuerstraftäter Werbungskosten im
betragsmäßigen Umfang von 2.000 EUR und unterlässt
er aus Rechtsunkenntnis die Geltendmachung von angefallenen
Krankheitskosten als außergewöhnliche Belastung im
gleichen betragsmäßigen Umfang, so ist es ihm nach
Aufdeckung seiner Manipulationen von Gesetzes wegen verwehrt, die
fingierten Werbungskosten mit den außergewöhnlichen
Belastungen zu verrechnen. Er hat sich der vollendeten
Einkommensteuerhinterziehung schuldig gemacht. Dies ist die
außer jedem Streit stehende Kernaussage des strafrechtlichen
Kompensationsverbots. Trotz tatbestandlich vollendeter
Einkommensteuerhinterziehung gibt es aber keinen
„hinterzogenen Steuerbetrag“, der Gegenstand
einer verlängerten Festsetzungsfrist sein könnte. Denn
Werbungskosten und außergewöhnliche Belastungen sind als
unselbständige Besteuerungsgrundlagen als solche nicht
Gegenstand der Verjährung. Folglich unterliegt der auf die
fingierten Werbungskosten entfallende Mehr-Steuerbetrag nicht einer
gesonderten - gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 AO
verlängerten - Festsetzungsfrist (vgl. BFH-Beschluss vom
29.9.1995 V B 38/95, BFH/NV 1996, 277). Mangels Geltungsanspruchs
des strafrechtlichen Kompensationsverbots im
„normalen“ Besteuerungsverfahren sind die zu
einer höheren Steuer führenden neuen Tatsachen (§
173 Abs. 1 Nr. 1 AO in Bezug auf die fingierten Werbungskosten) mit
den steuerlichen Auswirkungen der nicht geltend gemachten
Krankheitskosten gemäß § 177 Abs. 1 AO zwingend zu
saldieren (die einschränkende Voraussetzung des groben
Verschuldens i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO gilt nicht, so
BFH-Urteil vom 5.8.1986 IX R 13/81, BFHE 148, 394, BStBl II 1987,
297 = SIS 87 05 50). Einen hinterzogenen Betrag i.S. des § 169
Abs. 2 Satz 2 AO gibt es nicht.
Die Situation stellt sich nicht anders dar als
bei der vergleichbaren Problematik der Festsetzung von
Hinterziehungszinsen gemäß § 235 AO oder der
Haftung gemäß § 71 AO. Eine Haftung für einen
Steuerbetrag, der zwar im Sinne des Kompensationsverbots
hinterzogen wurde, der aber nach materiellem Steuerrecht gar nicht
besteht, scheidet aus (vgl. BFH-Urteil vom 13.7.1994 I R 112/93,
BFHE 175, 489, BStBl II 1995, 198 = SIS 95 06 35). Auch
Hinterziehungszinsen in Bezug auf einen solchen Steuerbetrag
festzusetzen, erscheint nicht gerechtfertigt (Urteil des FG
Köln vom 25.5.1988 6 K 289/83, wistra 1988, 316; Urteil des FG
München vom 28.6.2000 1 K 137/99, EFG 2000, 1169 = SIS 01 51 10; Klein/Rüsken, AO, 9. Aufl., § 235 Rz 19; Schwarz in
Schwarz, AO, § 235 Rz 7; Baum in Koch/Scholtz, AO, 5. Aufl.,
§ 235 Rz 6; Kögel in Beermann/Gosch, a.a.O., § 235
Rz 21; Anwendungserlass zur Abgabenordnung - AEAO -, zu § 235,
Nr. 2.4; a.A. wohl Loose in Tipke/Kruse, a.a.O., § 235 AO Rz
10; offen gelassen in BFH-Urteil vom 12.10.1993 VII R 44/93, BFHE
172, 401, BStBl II 1994, 438 = SIS 94 06 31).
bb) Eine dem Kompensationsverbot durchaus
vergleichbare Situation stellt sich ein, wenn die
Kapitalertragsteuer einbehalten und auf Rechnung des
Steuerpflichtigen bereits an den von § 370 AO geschützten
Steuergläubiger abgeführt wurde. Hier gibt es ebenfalls
keine Abschlusszahlung, also keinen zunächst durch
Hinterziehung vorenthaltenen und nach Tatentdeckung nachzuzahlenden
Steuerbetrag. Einen Vermögensschaden hat der Fiskus
tatsächlich nicht erlitten, weil die Einkommensteuer durch den
Steuerabzug bereits erhoben wurde. Die, soweit ersichtlich,
einhellige Meinung folgert hieraus, dass Hinterziehungszinsen
gemäß § 235 AO in Ermangelung eines
„hinterzogenen Betrages“ nicht anfallen, wenn
die Kapitalertrag- oder eine sonstige Abzugssteuer bereits
entrichtet worden ist (Urteil des FG München vom 29.11.1983 VI
(XII) 108/78 AO, EFG 1984, 267; Loose in Tipke/Kruse, a.a.O.,
§ 235 AO Rz 9; Kögel in Beermann/Gosch, a.a.O., §
235 Rz 19; Klein/Rüsken, a.a.O., § 235 Rz 18; Baum in
Koch/Scholtz, a.a.O., § 235 Rz 3; Pahlke/ Koenig,
Abgabenordnung, § 235 Rz 10). Sachliche Gründe, das fast
wortgleich formulierte Tatbestandsmerkmal „hinterzogene
Steuern“ im Rahmen des § 169 Abs. 2 Satz 2 AO anders
zu interpretieren als im Rahmen des § 235 Abs. 1 Satz 1 AO,
sind nicht ersichtlich (vgl. BFH-Urteil in BFHE 186, 1, BStBl II
1998, 530 = SIS 98 17 51).
c) Schließlich deutet ein Blick in die
Historie auf die Richtigkeit des gefundenen Auslegungsergebnisses
hin. Die Vorgängervorschriften brachten das Erfordernis des
hinterzogenen Betrages im Sinne eines zugunsten des
geschädigten Fiskus bestehenden Nachzahlungsanspruchs
sprachlich deutlich zum Ausdruck. So definierte § 359 Abs. 1
der Reichsabgabenordnung (RAO) vom 13.12.1919 (RGBl 1919, 993) die
Steuerhinterziehung als die Verkürzung von
Steuereinnahmen. § 121 Satz 1 RAO sprach davon, dass
die Verjährungsfrist bei hinterzogenen Beträgen, also
verkürzten Steuereinnahmen, zehn Jahre laufe. Es spricht
nichts dafür, dass der Gesetzgeber der AO 1977 von der
Vorstellung abrücken wollte, dass nicht dem Hinterzieher,
sondern dem durch ein Steuerdelikt geschädigten Fiskus zum
Zwecke der Nachforderung vorenthaltener Steuerbeträge eine
längere Frist als sonst üblich einzuräumen ist.
4. Der Hinweis der Kläger, mangels
anrechenbarer Steuerabzugsbeträge sei jedenfalls definitiv
Kirchensteuer mit der Folge der Verlängerung der
Festsetzungsfrist hinterzogen worden, rechtfertigt keine andere
Beurteilung des Streitfalles. Abgesehen davon, dass der Freistaat
Bayern in seinem Kirchensteuergesetz die Strafvorschriften der
§§ 369 ff. AO ausdrücklich für unanwendbar
erklärt hat (Art. 18 Abs. 2, 23 Satz 2 des
Kirchensteuergesetzes i.d.F. der Bekanntmachung vom 21.11.1994,
Gesetz- und Verordnungsblatt 1994, 1026; Rolletschke/Kemper,
Steuerverfehlungen, § 370 AO Rz 83), wäre, selbst wenn es
den Straftatbestand der Kirchensteuerhinterziehung geben
würde, allein die Frist zur Festsetzung der Kirchensteuer,
nicht aber zur Festsetzung der Einkommensteuer verlängert.
Denn § 169 Abs. 2 Satz 2 AO geht, wie die Formulierung
„soweit eine Steuer hinterzogen wurde“
zeigt, von einer Teilverjährung aus. Nur diejenige Steuerart
bzw. derjenige anteilige Steuerbetrag, die tatsächlich
Gegenstand einer Steuerhinterziehung sind, verjähren nach zehn
Jahren. Im Übrigen bleibt es bei der vierjährigen Frist
(Ruban in HHSp, § 169 AO Rz 52; Kruse in Tipke/Kruse, a.a.O.,
§ 169 AO Rz 14).