Freistellungsbescheinigung betr. Dividenden, EU-Widrigkeit von Quellensteuern, Haftung: 1. Eine Freistellungsbescheinigung des (vormaligen) Bundesamtes für Finanzen (heute: Bundeszentralamt für Steuern), wonach bestimmte Kapitalerträge (hier: Dividenden einer Tochtergesellschaft) von der Kapitalertragsteuer ausgenommen sind, die dem Empfänger in einem bestimmten Zeitraum "zufließen", ist regelmäßig so auszulegen, dass damit der jeweilige kapitalertragsteuerrechtliche Zuflusszeitpunkt gemeint ist. - 2. Eine Dividende gilt dem Gesellschafter auch dann gemäß § 44 Abs. 2 Satz 2 EStG 1990 als am Tag nach dem Gewinnausschüttungsbeschluss zugeflossen, wenn dieser bestimmt, die Ausschüttung solle nach einem bestimmten Tag (hier: "nach dem 30.6.1996") erfolgen. - 3. Hat eine inländische Tochtergesellschaft an ihre im EU-Ausland ansässige Muttergesellschaft eine Dividende gezahlt, gilt diese Dividende als vor dem 30.6.1996 zugeflossen und wurde die auf sie entfallende Quellensteuer von 5 v.H. nicht einbehalten und abgeführt, so haftet die Tochtergesellschaft für diese Quellensteuer. Im Haftungsverfahren ist nicht zu prüfen, inwiefern die Besteuerung der Muttergesellschaft mit Gemeinschaftsrecht vereinbar ist. - Urt.; BFH 20.12.2006, I R 13/06; SIS 07 16 72
I. Streitpunkt ist, ob die Klägerin
und Revisionsbeklagte (Klägerin) als Haftungsschuldnerin
für nicht abgeführte Kapitalertragsteuer in Anspruch
genommen werden kann.
Die Klägerin, eine GmbH, war im
Streitjahr 1996 die Tochtergesellschaft einer Kapitalgesellschaft
französischen Rechts (S.A.) mit Sitz in Frankreich. Ihre
Gesellschafterversammlung beschloss am 19.4.1996 für das Jahr
1995 eine Gewinnausschüttung von 4 Mio. DM, die „nach
dem 30.6.1996“ stattfinden solle. Auf Antrag erteilte das
(vormalige) Bundesamt für Finanzen (BfF) am 11.7.1996 einen
Bescheid, wonach die Klägerin berechtigt sei, den Steuerabzug
in Höhe von 0 v.H. des Bruttoertrags vorzunehmen. Die
Bescheinigung gelte „nur für Kapitalerträge, die in
der Zeit vom 1.7.1996 bis zum 30.6.1999 zufließen“. Die
Klägerin zahlte den Gewinnausschüttungsbetrag von 4 Mio.
DM am 22.7.1996 ohne Abzug von Kapitalertragsteuer an die S.A.
aus.
Mit Haftungsbescheid vom 20.12.2000 nahm
der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA - ) die
Klägerin in Bezug auf die am 19.4.1996 beschlossene
Gewinnausschüttung als Haftungsschuldnerin für nicht
abgeführte Kapitalertragsteuer im Betrag von 200.000 DM in
Anspruch. Nach Auffassung des FA wird die Gewinnausschüttung
vom Zeitrahmen des Freistellungsbescheids des BfF nicht erfasst,
weil die Ausschüttung nach der Fiktion des § 44 Abs. 2
Satz 2 des Einkommensteuergesetzes 1990 in der zuletzt durch Art. 1
des Jahressteuer-Ergänzungsgesetzes 1996 vom 18.12.1995
geänderten Fassung (EStG 1990) als am Tag nach der Fassung des
Ausschüttungsbeschlusses - mithin am 20.4.1996 - zugeflossen
gelte. Die Festlegung eines taggenauen Ausschüttungszeitpunkts
gemäß § 44 Abs. 2 Satz 1 EStG 1990 könne auf
der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs - BFH -
(Senatsurteil vom 8.7.1998 I R 57/97, BFHE 186, 374, BStBl II 1998,
672 = SIS 98 19 87) in der Formulierung „nach dem
30.6.1996“ nicht gesehen werden.
Die gegen den Haftungsbescheid erhobene
Klage führte zu dessen Aufhebung. Das Urteil des
Finanzgerichts (FG) München vom 3.1.2006 7 K 1396/03 ist in
EFG 2006, 1432 = SIS 06 13 66 veröffentlicht.
Gegen dieses Urteil richtet sich die
Revision, mit der das FA die Verletzung materiellen Rechts
rügt.
Das FA beantragt, das vorinstanzliche
Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt
(sinngemäß), die Revision zurückzuweisen.
II. Die Revision ist begründet und
führt gemäß § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der
Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung des angefochtenen Urteils
und zur Abweisung der Klage. Der Haftungsbescheid vom 20.12.2000
ist rechtmäßig, weil die Klägerin gemäß
§ 44 Abs. 5 Satz 1 EStG 1990 für die dort mit 5 v.H. der
am 19.4.1996 beschlossenen Gewinnausschüttung bemessene
Kapitalertragsteuer haftet.
1. Die von der Klägerin im Jahr 1996 an
die S.A. ausgeschütteten Gewinne unterlagen als
inländische Kapitalerträge gemäß § 43
Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 EStG 1990,
§ 49 Abs. 1 des Körperschaftsteuergesetzes (KStG 1996)
der Kapitalertragsteuer. Diese entsteht gemäß § 44
Abs. 1 Satz 2 EStG 1990 in dem Zeitpunkt, in dem die
Kapitalerträge dem Gläubiger zufließen. Als
Schuldnerin der Kapitalerträge hatte die Klägerin
gemäß § 44 Abs. 1 Satz 3 EStG 1990 den Steuerabzug
für Rechnung der S.A. - der Schuldnerin der
Kapitalertragsteuer (§ 44 Abs. 1 Satz 1 EStG 1990) -
vorzunehmen. Soweit der Abzug unterblieben ist, haftet die
Klägerin gemäß § 44 Abs. 5 Satz 1 EStG 1990
für die nicht abgeführte Kapitalertragsteuer.
Für Ausschüttungen an die S.A. als
französische Muttergesellschaft galten die Sonderregeln des
§ 44d EStG 1990, mit dem Art. 5 der Mutter-/Tochter-Richtlinie
- MTR - (Richtlinie 435/90/EWG des Rates vom 23.7.1990 über
das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften
verschiedener Mitgliedstaaten, Amtsblatt der Europäischen
Gemeinschaften - ABlEG - Nr. L 225, 6, berichtigt ABlEG Nr. L 266,
20) in nationales Recht umgesetzt worden ist. Danach konnte die
Kapitalertragsteuer gemäß § 44d Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
EStG 1990 auf Antrag auf 5 v.H. des Kapitalertrages reduziert
werden. Dies entspricht auch dem Höchstbetrag des
gemäß Art. 9 Abs. 5 des Abkommens zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik zur
Vermeidung der Doppelbesteuerungen und über gegenseitige Amts-
und Rechtshilfe auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom
Vermögen sowie der Gewerbesteuern und der Grundsteuern vom
21.7.1959 (BGBl II 1961, 398) in der bis 31.12.2001 geltenden
Fassung (DBA-Frankreich) zulässigen Quellensteuerabzugs
für derartige Kapitalerträge. Für nach dem 30.6.1996
zufließende Kapitalerträge wurde gemäß §
44d Abs. 1 Satz 3 EStG 1990 auf Antrag die Kapitalertragsteuer
nicht mehr erhoben. Für die hiernach mögliche Reduzierung
bzw. Nichterhebung von Kapitalertragsteuer sah § 50d Abs. 3
Satz 1 EStG 1990 ein Freistellungsverfahren beim BfF vor, welches
die Berechtigung zum Unterlassen bzw. zur Reduzierung des
Steuerabzugs auf Antrag zu bescheinigen hatte.
2. Danach war die Klägerin hinsichtlich
der am 19.4.1996 beschlossenen Gewinnausschüttung zum
Kapitalertragsteuerabzug verpflichtet. Die von jeglichem
Steuerabzug freistellende Bescheinigung des BfF vom 11.7.1996 war
ausdrücklich auf nach dem 30.6.1996 zufließende
Kapitalerträge beschränkt, während die
streitgegenständliche Gewinnausschüttung der S.A.
steuerlich bereits am 20.4.1996 - dem Tag nach Fassung des
Gewinnausschüttungsbeschlusses - zugeflossen ist.
a) Nach § 44 Abs. 2 Satz 2 EStG 1990 gilt
bei auf Beschlüssen einer Körperschaft beruhenden
Ausschüttungen als Zuflusszeitpunkt der Tag nach der
Beschlussfassung, wenn ein Beschluss über den
Auszahlungszeitpunkt nicht gefasst worden ist. Ein Beschluss
über den Auszahlungszeitpunkt in diesem Sinne liegt nach der
an den Gesetzeswortlaut anknüpfenden Rechtsprechung des Senats
nur vor, wenn der Auszahlungszeitpunkt gemäß § 44
Abs. 2 Satz 1 EStG 1990 im Beschluss taggenau bestimmt wird. Die
Angabe eines über einen Tag hinausgehenden
Auszahlungszeitraums genügt zur Bestimmung einer abweichenden
Fälligkeit nicht (Senatsurteil in BFHE 186, 374, BStBl II
1998, 672 = SIS 98 19 87).
b) Nach diesem Maßstab enthielt der
Ausschüttungsbeschluss vom 19.4.1996 keine Bestimmung
über den Auszahlungszeitpunkt. Denn mit der Formulierung, die
Ausschüttung erfolge „nach dem 30.6.1996“,
wurde kein taggenauer Auszahlungszeitpunkt, sondern nur der Beginn
eines Auszahlungszeitraums bestimmt. Daraus ergab sich lediglich
ein Zeitraum, bis zu dem die Auszahlung in keinem Fall fällig
sein sollte, nicht aber ein taggenau bestimmter
Fälligkeitszeitpunkt. Wenn schon die Angabe eines bestimmten
Auszahlungszeitraums (Woche, Monat, Jahr) nicht als Festlegung
eines Auszahlungszeitpunkts gemäß § 44 Abs. 2 Satz
2 EStG 1990 angesehen werden kann (Senatsurteil in BFHE 186, 374,
BStBl II 1998, 672 = SIS 98 19 87), muss dies erst recht für
den hier gegebenen Fall der Festlegung eines zum Ende hin
unbestimmten Auszahlungszeitraums gelten.
c) Ist mithin im Streitfall der 20.4.1996 als
kapitalertragsteuerrechtlicher Zuflusszeitpunkt anzusehen, war die
Ausschüttung von der ausdrücklich auf nach dem 30.6.1996
zufließende Kapitalerträge beschränkten
Freistellungsbescheinigung des BfF vom 11.7.1996 nicht umfasst. Die
Freistellungsbescheinigung ist entgegen der Sicht des FG so zu
verstehen, dass mit dem dort verwendeten Zuflussbegriff der
steuerrechtlich maßgebliche Zuflusszeitpunkt und nicht der
Zeitpunkt des tatsächlichen Eingangs des
Ausschüttungsbetrages bei der S.A. gemeint ist.
aa) Der Inhalt der Freistellungsbescheinigung
als behördlicher Erklärung ist vom Senat ohne Bindung an
die vorinstanzliche Auslegung in eigener Zuständigkeit zu
ermitteln (Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 24.3.1998 I R
83/97, BFHE 186, 67, BStBl II 1998, 601 = SIS 98 19 88; vom
16.11.2000 XI R 28/99, BFHE 193, 494, BStBl II 2001, 303 = SIS 01 06 12; vom 14.1.2004 X R 19/02, BFHE 205, 87, BStBl II 2004, 711 =
SIS 04 21 38). Bei der Auslegung ist im Zweifel grundsätzlich
das den Betroffenen weniger belastende Auslegungsergebnis
vorzuziehen, da er als Empfänger einer
auslegungsbedürftigen Willenserklärung der Verwaltung
durch etwaige Unklarheiten aus ihrer Sphäre nicht
benachteiligt werden darf (BFH-Urteile vom 27.11.1996 X R 20/95,
BFHE 183, 348, BStBl II 1997, 791 = SIS 97 14 63; vom 13.9.2001 IX
R 62/98, BFHE 196, 550, BStBl II 2003, 912 = SIS 02 04 01). Im
Übrigen gilt der Grundsatz, dass empfangsbedürftige
Willenserklärungen so auszulegen sind, wie sie der
Erklärungsempfänger nach Treu und Glauben unter
Berücksichtigung aller ihm bekannten Umstände verstehen
musste (Empfängerhorizont; vgl. BFH-Urteil vom 10.10.2002 VI R
13/01, BFHE 200, 363, BStBl II 2003, 156 = SIS 03 09 04). Es ist
daher auch zu berücksichtigen, welche behördliche
Entscheidung der Betroffene nach seinem Empfängerhorizont in
Kenntnis des in seiner Wissenssphäre verwirklichten
Sachverhalts billigerweise erwarten durfte (BFH-Urteil in BFHE 205,
87, BStBl II 2004, 711 = SIS 04 21 38).
bb) Nach diesen Maßstäben konnte
die Klägerin als Adressatin der Freistellungsbescheinigung
diese nur so verstehen, dass von der Freistellung lediglich jene
Ausschüttungen umfasst sein sollten, die der S.A. im
steuerrechtlichen Sinne nach dem 30.6.1996 zugeflossen sind und
noch zufließen würden. Der Freistellungsantrag war das
speziell für die Freistellung von Kapitalerträgen von der
deutschen Kapitalertragsteuer vorgesehene Verfahren
gemäß § 50d Abs. 3 EStG 1990, weshalb die
Klägerin ohne weiteres davon ausgehen musste, dass die in
diesem Sachzusammenhang behördlich verlautbarte Begrenzung der
Freistellung auf ab dem 30.6.1996 zufließende
Kapitalerträge auf Zuflüsse im
kapitalertragsteuerrechtlichen Sinne abstellt. Aus der
Freistellungsbescheinigung ergibt sich keinerlei Anhalt dafür,
dass das BfF in der Bescheinigung einen von der steuerrechtlichen
Betrachtung abweichenden Zuflussbegriff im Sinne des vom FG
angenommenen umgangssprachlichen Verständnisses hat definieren
wollen. Da die Freistellungsbescheinigung allgemein gefasst ist und
sich nicht auf eine konkrete Ausschüttung bezog, bestand auch
kein Anlass für das BfF, den steuerrechtlichen Zuflussbegriff
in der Bescheinigung konkret zu definieren und bestimmte
Konstellationen - etwa den Fall der Zuflussfiktion des § 44
Abs. 2 Satz 2 EStG 1990 - zu erläutern.
d) Der Klägerin kann nicht darin gefolgt
werden, dass die Zuflussfiktion des § 44 Abs. 2 Satz 2 EStG
1990 von einer Interessenabwägung im Einzelfall abhängt
und ihre Anwendbarkeit ausgeschlossen ist, wenn besonders
schützenswerte Interessen der Beteiligten dagegen sprechen.
Der Senat hat bereits in der von der Klägerin in Bezug
genommenen, aber offenbar missverstandenen Passage am Schluss des
Urteils in BFHE 186, 374, BStBl II 1998, 672 = SIS 98 19 87
ausgeführt, dass für eine Interessenabwägung im
Rahmen des § 44 Abs. 2 Satz 2 EStG 1990 eine Rechtsgrundlage
nicht erkennbar ist.
3. Die Klägerin hat nicht den Nachweis
erbracht, gemäß § 44 Abs. 5 Satz 1 EStG 1990 beim
Unterlassen des Steuerabzugs weder grob fahrlässig noch
vorsätzlich gehandelt zu haben. Die
Freistellungserklärung des BfF, auf deren umgangssprachliches
Verständnis sich die Klägerin beruft, ist erst im Juli
1996 erteilt worden und war am Tag nach der Fassung des
Ausschüttungsbeschlusses vom 19.4.1996, an dem
gemäß § 44 Abs. 1 Satz 3 EStG 1990 die
Abführungspflicht entstanden ist, auch noch nicht
beantragt.
4. Gemeinschaftsrechtliche Aspekte stehen der
Inanspruchnahme der Klägerin als Haftungsschuldnerin nicht
entgegen.
a) Zwar mag nicht gänzlich außer
Zweifel stehen, ob die sich im Streitfall aus der Anwendung der
Zuflussfiktion des § 44 Abs. 2 Satz 2 EStG 1990 ergebende
Kapitalertragsteuerpflicht für die tatsächlich erst am
22.7.1996 bewirkte Ausschüttung an die S.A. mit Art. 5 Abs. 1
MTR vereinbar ist oder ob - wie die Klägerin meint - bei
Auslegung des Art. 5 MTR ein vom nationalen Recht
unabhängiger, eigenständiger Zuflussbegriff zugrunde zu
legen ist.
Aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht ist
überdies zweifelhaft, ob die bis 30.6.1996 praktizierte
Besteuerung von Gewinnausschüttungen an gebietsfremde
Muttergesellschaften mit dem auf 5 v.H. reduzierten Steuersatz auch
dann mit der Niederlassungsfreiheit und der Kapitalverkehrsfreiheit
vereinbar wäre, wenn die Kapitalertragsteuer für die
Muttergesellschaft - wie im Streitfall von der Klägerin
hinsichtlich der S.A. behauptet - definitiv würde. Hierin
könnte eine Diskriminierung der gebietsfremden
Muttergesellschaft liegen (vgl. dazu zuletzt Urteile des
Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften - EuGH - vom
14.12.2006 Rs. C-170/05 „Denkavit“, BFH/NV 2007,
Beilage 4, 194 = SIS 07 02 97; vom 12.12.2006 Rs. C-374/04
„Test Claimants in Class IV of the ACT Group
Litigation“, BFH/NV 2007, Beilage 4, 163 = SIS 07 03 01;
Senatsurteil vom 9.8.2006 I R 31/01, BFH/NV 2007, 158 = SIS 06 45 43 unter II.7.d der Entscheidungsgründe), weil in Deutschland
ansässige Muttergesellschaften die zu ihren Lasten
abgeführte Kapitalertragsteuer in vollem Umfang auf ihre
Körperschaftsteuerschuld anrechnen konnten (§ 36 Abs. 2
Nr. 2 EStG 1990 i.V.m. § 49 Abs. 1 KStG 1996) und
gegebenenfalls - soweit im jeweiligen Veranlagungszeitraum keine
Körperschaftsteuer in entsprechender Höhe entstanden ist
- ausgezahlt erhielten (§ 36 Abs. 4 Satz 2 EStG 1990 i.V.m.
§ 49 Abs. 1 KStG 1996).
b) Die vorstehend angesprochenen Fragen
bedürfen jedoch im Streitfall keiner weiteren Erörterung,
weil sie nicht die Pflicht der Klägerin zum Steuerabzug und
die aus dem Unterlassen der Abführung resultierende Haftung
betreffen. Sie wären vielmehr erst auf zweiter Stufe in einem
von der S.A. einzuleitenden Freistellungs- bzw.
Erstattungsverfahren von Relevanz.
aa) Nach § 50d Abs. 1 EStG 1990 sind bei
dem Steuerabzug vom Kapitalertrag unterliegenden Einkünften,
die nach § 44d EStG 1990 oder nach einem
Doppelbesteuerungsabkommen nicht oder nur nach einem niedrigeren
Steuersatz besteuert werden können, die Vorschriften über
den Steuerabzug ungeachtet des § 44d EStG 1990 und des
Abkommens anzuwenden. Der Gläubiger der Vergütung hat
jedoch einen Anspruch auf Erstattung der einbehaltenen und
abgeführten Steuer, der durch einen entsprechenden Antrag
geltend zu machen ist (§ 50d Abs. 1 Satz 2 EStG 1990).
Verfahrensrechtliche Grundlage der Erstattung ist ein
Freistellungsbescheid i.S. des § 155 Abs. 1 Satz 3 der
Abgabenordnung (AO 1977), was inzwischen in § 50d Abs. 1 Satz
3 EStG ausdrücklich geregelt ist, aber ebenso für die
Rechtslage vor der Neufassung des § 50d EStG gilt
(Senatsurteile vom 11.10.2000 I R 34/99, BFHE 193, 336, BStBl II
2001, 291 = SIS 01 03 71; vom 20.3.2002 I R 38/00, BFHE 198, 514,
BStBl II 2002, 819 = SIS 02 84 91; vom 19.11.2003 I R 22/02, BFHE
205, 37, BStBl II 2004, 560 = SIS 04 18 31).
bb) Die vorstehend beschriebenen Regeln gelten
allerdings nach dem eindeutigen Wortlaut des § 50d Abs. 1 Satz
1 EStG 1990 nur für steuerabzugspflichtige Einkünfte,
für die sich eine Beschränkung der Besteuerung entweder
aus § 44d EStG 1990 oder aus einem Doppelbesteuerungsabkommen
ergibt. Sie greifen deshalb nicht - auch nicht entsprechend -, wenn
geltend gemacht wird, dass dem Steuerabzug unterworfene Zahlungen
aus anderen Gründen richtigerweise keine deutsche Steuer
auslösen (Senatsurteil in BFHE 205, 37, BStBl II 2004, 560 =
SIS 04 18 31; Blümich/Wied, § 50d EStG Rz 19, 24).
Würden die unter II.4.a geschilderten gemeinschaftsrechtlichen
Bedenken durchgreifen, wären die Voraussetzungen des §
50d Abs. 1 Satz 1 EStG 1990 jedoch gegeben, denn in beiden
Fällen würde sich die eingeschränkte Besteuerung aus
§ 44d EStG 1990 ergeben.
aaa) Unterstellt, die Zuflussfiktion des
§ 44 Abs. 2 Satz 2 EStG 1990 sei im Lichte von Art. 5 MTR im
Streitfall nicht anwendbar, wäre die Gewinnausschüttung
als nach dem 30.6.1996 erfolgt zu behandeln; es ergäbe sich
die Möglichkeit einer vollständigen Nichterhebung der
Kapitalertragsteuer aus § 44d Abs. 1 Satz 3 EStG 1990.
bbb) Auch bei einer aus den
gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten abzuleitenden weiteren
Reduzierung der gemäß § 44d Abs. 1 Satz 2 Nr. 1
EStG 1990 bereits auf 5 v.H. herabgesetzten Besteuerung der
Kaptalerträge bliebe es - jedenfalls für die Zwecke des
§ 50d Abs. 1 EStG 1990 - bei § 44d Abs. 1 Satz 2 Nr. 1
EStG 1990 als einheitlicher Rechtsgrundlage für die gesamte
Steuerermäßigung. Die Anwendung des Abzugs- und
Erstattungsverfahrens für die gesamte Steuerreduzierung
wäre in diesem Fall gerade auch im Interesse des
haftungsbedrohten Vergütungsschuldners geboten, dem es nicht
zumutbar wäre, sich im Zusammenhang mit jeder
Ausschüttung zunächst vergewissern zu müssen,
inwiefern im Ansässigkeitsstaat der Muttergesellschaft eine
Anrechnung oder Vergütung überbezahlter
Kapitalertragsteuer möglich ist und in welchem Umfang danach
eine Kapitalertragsteuer in Höhe von 5 v.H. für die
Ausschüttungsempfängerin noch definitiv werden
könnte.
cc) Die Zweistufigkeit des Steuerabzugs- und
Haftungsverfahrens mit der Möglichkeit einer
anschließenden Steuererstattung ist ihrerseits aus
gemeinschaftsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden. Der EuGH hat
sie in seinem Urteil vom 3.10.2006 Rs. C-290/04
„Scorpio“ (BFH/NV 2007, Beilage 1, 36 = SIS 06 44 26) als im Grundsatz gemeinschaftsrechtskonform angesehen.
Gerade im Falle der Kapitalertragsteuer führen diese
Verfahrensabläufe überdies zu einer Gleichbehandlung der
gebietsfremden mit den inländischen Muttergesellschaften, die
ebenfalls zunächst den Steuerabzug hinnehmen müssen und
eine Anrechnung bzw. Auszahlung erst im Zusammenhang mit der
Veranlagung zur Körperschaftsteuer erreichen können.