Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil
des Finanzgerichts Düsseldorf vom 28.11.2012 15 K 4263/11 Kg =
SIS 13 09 64 insoweit aufgehoben, als die Familienkasse
verpflichtet wurde, für den Sohn des Klägers ab Januar
2007 Kindergeld in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Die Sache wird an das Finanzgericht Düsseldorf
zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des
Revisionsverfahrens übertragen.
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I. Streitig ist der Kindergeldanspruch
für den in Polen lebenden Sohn des Klägers von Januar
2007 bis November 2011.
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Der Kläger und Revisionsbeklagte
(Kläger) ist polnischer Staatsangehöriger. Er ist der
Vater einer im Dezember 1988 geborenen Tochter (T) und eines im
Februar 1995 geborenen Sohnes (S). S lebt im Haushalt der Schwester
und des Schwagers des Klägers in Polen.
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Der Kläger wohnt seit dem Jahr 2005 in
der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) und ist dort als
selbständiger Unternehmer tätig. Die Kindsmutter wohnt in
Großbritannien.
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Die Beklagte und Revisionsklägerin
(Familienkasse) lehnte den Kindergeldantrag des Klägers
für seine beiden Kinder durch Bescheid vom 15.7.2011 ab. Den
hiergegen gerichteten Einspruch wies sie mit Einspruchsentscheidung
vom 8.11.2011 als unbegründet zurück.
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Das Finanzgericht (FG) gab der dagegen
gerichteten Klage teilweise statt und verpflichte die Familienkasse
zur Kindergeldfestsetzung für T von Januar 2007 bis Juni 2008
und für S ab Januar 2007.
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Mit ihrer hiergegen gerichteten Revision
rügt die Familienkasse die Verletzung materiellen Rechts
hinsichtlich des Kindergeldanspruchs für S.
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Die Familienkasse beantragt, das Urteil des
FG insoweit aufzuheben, als die Familienkasse verpflichtet wurde,
für den Sohn des Klägers ab Januar 2007 Kindergeld in
gesetzlicher Höhe zu gewähren, und die Klage insoweit
abzuweisen.
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Der Kläger beantragt, die Revision als
unbegründet zurückzuweisen.
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Mit Beschluss vom 9.3.2015 hat der
Bundesfinanzhof das Ruhen des Verfahrens bis zur Entscheidung des
Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) über das bei
ihm anhängige Vorabentscheidungsersuchen C-378/14 angeordnet.
Der EuGH hat mit Urteil vom 22.10.2015 C-378/14 (EU:C:2015:720,
DStRE 2015, 1501 = SIS 15 28 09) über die Vorlagefragen
entschieden.
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II. Die Revision ist begründet. Sie
führt gemäß § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der
Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung des finanzgerichtlichen
Urteils, soweit der Kindergeldanspruch für S ab Januar 2007
betroffen ist, und zur Zurückverweisung der nicht spruchreifen
Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung.
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Das FG hat zwar zu Recht eine
Anspruchsberechtigung des Klägers bejaht (dazu 1.). Es fehlen
aber für den Zeitraum Januar 2007 bis April 2010 hinreichende
tatsächliche Feststellungen dazu, dass der Anspruch nicht
(teilweise) durch vorrangige ausländische Ansprüche der
Schwester oder des Schwagers des Klägers oder der Kindsmutter
verdrängt wird (dazu 2.). Für den Zeitraum Mai 2010 bis
November 2011 hat das FG zu Unrecht entschieden, eine vorrangige
Anspruchsberechtigung der Schwester oder des Schwagers des
Klägers als Pflegeeltern nach § 64 Abs. 2 Satz 1 des
Einkommensteuergesetzes in der im Streitzeitraum gültigen
geltenden Fassung (EStG) komme nicht in Betracht, da diese eine
Anspruchsberechtigung nach § 62 EStG voraussetze, die hier
ausscheide. Denn der Kläger ist zwar nach nationalem Recht
(§§ 62 ff. EStG) anspruchsberechtigt (dazu 3.). Der
Schwester oder dem Schwager des Klägers könnte aber nach
§ 64 Abs. 2 EStG ein vorrangiger Kindergeldanspruch zustehen,
sofern bei diesen im Streitzeitraum - was das FG im zweiten
Rechtsgang noch festzustellen hat - tatsächlich ein
Pflegekindschaftsverhältnis (§ 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG) zu S bestanden hat (dazu 4. bis
8.).
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1. Der Kläger ist grundsätzlich
kindergeldberechtigt.
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a) Nach den für den Senat bindenden
tatsächlichen Feststellungen des FG (vgl. § 118 Abs. 2
FGO) erfüllt der Kläger - was zwischen den Beteiligten
nicht streitig ist - für den gesamten Streitzeitraum die
Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. §
63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 EStG.
Unerheblich ist dabei, dass S seinen Wohnsitz in Polen hat (§
63 Abs. 1 Satz 3 EStG).
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b) Anders als die Familienkasse meint, tritt
die Anspruchsberechtigung des Klägers auch nicht aufgrund
eines etwaigen Pflegekindschaftsverhältnisses i.S. des §
63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG zwischen
seiner Schwester oder seinem Schwager (Pflegeelternteile) und dem S
(Pflegekind) gemäß § 32 Abs. 2 Satz 2 EStG hinter
die Anspruchsberechtigung der Pflegeelternteile zurück. Zwar
ist nach § 32 Abs. 2 Satz 2 EStG ein im ersten Grad mit dem
Steuerpflichtigen verwandtes Kind, das zugleich ein Pflegekind ist,
vorrangig als Pflegekind zu berücksichtigen. Diese Bestimmung
findet jedoch im Kindergeldrecht keine Anwendung, da § 63 Abs.
1 Satz 2 EStG nur auf § 32 Abs. 3 bis 5 EStG, nicht jedoch auf
§ 32 Abs. 2 EStG verweist. Sinn und Zweck des § 32 Abs. 2
EStG sprechen auch nicht dafür, dass § 63 Abs. 1 Satz 2
EStG insoweit eine planwidrige Regelungslücke enthält, zu
deren Schließung der Rechtsgedanke des § 32 Abs. 2 Satz
2 EStG herangezogen werden könnte. § 32 Abs. 2 EStG
bezweckt im Interesse einer Harmonisierung von Einkommensteuer- und
Kindergeldrecht, eine früher mögliche
Doppelberücksichtigung von Pflegekindern und angenommenen
Kindern beim Kinderfreibetrag zu vermeiden (BTDrucks 13/1558, S.
155, zu Nr. 21c, zum Entwurf eines Jahressteuergesetzes 1996).
Demgegenüber kann es beim Kindergeld zu keiner
Doppelberücksichtigung des Pflegekindes bei einerseits dem
Pflegeelternteil und andererseits dem leiblichen Elternteil kommen.
Denn das Konkurrenzverhältnis zwischen mehreren
Anspruchsberechtigten wird bereits über § 64 Abs. 1 und
Abs. 2 EStG aufgelöst.
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2. Die tatsächlichen Feststellungen des
FG reichen nicht aus, um beurteilen zu können, ob für den
Zeitraum Januar 2007 bis April 2010 konkurrierende Ansprüche
der Schwester oder des Schwagers des Klägers und der
Kindsmutter bestehen und diese den Anspruch des Klägers ganz
oder teilweise ausschließen.
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a) Das FG hat bereits keine hinreichenden
Feststellungen dazu getroffen, ob nach dem jeweils
einschlägigen polnischen und britischen Recht Ansprüche
der Schwester oder des Schwagers des Klägers und der
Kindsmutter bestehen. Es führt hierzu lediglich aus, dass nach
den Gesamtumständen ein Anspruch der Kindsmutter sowohl in
Polen als auch in Großbritannien ausscheide und gleiches
für die Pflegeeltern in Polen gelte. Weiter legt es dar, dass
der Kläger die einschlägige Gesetzeslage zu polnischen
und britischen Familienleistungen aus Sicht des Gerichts zutreffend
wiedergegeben und subsumiert und die Familienkasse keine
Einwendungen erhoben habe. Nähere Feststellungen zu den
für das FG maßgeblichen Gesamtumständen und dem
Vortrag des Klägers lassen sich der Entscheidung nicht
entnehmen. Das Fehlen entsprechender Feststellungen im Urteil des
FG ist ein materiell-rechtlicher Fehler, den das Revisionsgericht
auch ohne Rüge von Amts wegen zu beachten hat (z.B.
Senatsurteil vom 30.7.2009 III R 8/07, BFH/NV 2010, 190 = SIS 10 01 31, m.w.N.). Zu den Anforderungen an die Ermittlungspflichten des
FG bei der Feststellung ausländischen Rechts wird auf die
Senatsurteile vom 13.6.2013 III R 63/11 (BFHE 242, 34, BStBl II
2014, 711 = SIS 13 25 79) und vom 13.6.2013 III R 10/11 (BFHE 241,
562, BStBl II 2014, 706 = SIS 13 25 78) verwiesen.
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b) Sollten derartige Ansprüche bestanden
haben, wäre weiter zu prüfen, wie eine Konkurrenz zum
inländischen Anspruch des Klägers aufzulösen ist.
Insoweit weist der Senat darauf hin, dass der Zeitraum Januar 2007
bis April 2010 noch in den zeitlichen Anwendungsbereich der
Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14.6.1971 zur Anwendung
der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und
Selbständige sowie deren Familienangehörige, die
innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (VO Nr. 1408/71) und
der VO (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21.3.1972 über die
Durchführung der VO (EWG) Nr. 1408/71 über die Anwendung
der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und
Selbständige sowie deren Familienangehörige, die
innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (VO Nr. 574/72),
fällt. Der Senat verweist auf seine hierzu einschlägige
Rechtsprechung (s. insbesondere Senatsurteile vom 12.9.2013 III R
16/11, BFH/NV 2014, 320 = SIS 14 03 84; vom 18.12.2013 III R 52/11,
BFH/NV 2014, 851 = SIS 14 13 26; vom 13.11.2014 III R 1/13, BFHE
248, 20 = SIS 15 00 68; vom 16.7.2015 III R 39/13, BFHE 251, 154 =
SIS 15 28 19; und vom 4.2.2016 III R 16/14, BFH/NV 2016, 911 = SIS 16 09 80).
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3. Für den Zeitraum Mai 2010 bis November
2011 könnte der Kläger entgegen der Rechtsauffassung des
FG - für den Fall, dass S im Verhältnis zu der Schwester
oder dem Schwager des Klägers ein Pflegekind i.S. des §
32 Abs. 1 Nr. 2 EStG ist - nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG nur
nachrangig anspruchsberechtigt sein, weil die Pflegeeltern S in
ihren Haushalt aufgenommen haben und gemäß Art. 67 der
Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und
des Rates vom 29.4.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen
Sicherheit (Amtsblatt der Europäischen Union - ABlEU - 2004
Nr. L 166, S. 1) in der für den Streitzeitraum
maßgeblichen Fassung - VO Nr. 883/2004 (Grundverordnung) -
i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des
Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.9.2009 zur
Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der
Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der
Systeme der sozialen Sicherheit (ABlEU 2009 Nr. L 284, S. 1) in der
für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung - VO Nr.
987/2009 (Durchführungsverordnung) - zu unterstellen ist, dass
sie mit S in Deutschland wohnen.
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a) Nach § 64 Abs. 1 EStG wird für
jedes Kind nur einem Berechtigten Kindergeld gezahlt. Bei mehreren
Berechtigten wird das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind
in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 Satz 1
EStG).
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b) Im Streitfall könnte sich die
Anspruchsberechtigung der Schwester oder des Schwagers aus §
62 Abs. 1 Nr. 1 EStG ergeben. Zwar liegt der nach dieser Vorschrift
erforderliche Inlandswohnsitz tatsächlich nicht vor. Es finden
jedoch die Vorschriften der VO Nr. 883/2004 und der VO Nr. 987/2009
Anwendung (dazu 4.). Dadurch könnte gemäß Art. 67
der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr.
987/2009 ein Inlandswohnsitz der Schwester oder des Schwagers
fingiert werden (dazu 5.). Insoweit ist vom FG im zweiten
Rechtsgang jedoch noch zu klären, ob die Schwester oder der
Schwager des Klägers die Pflegeelterneigenschaft und alle
übrigen Voraussetzungen für eine vorrangige
Anspruchsberechtigung erfüllen (dazu 7.).
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4. Der Anwendungsbereich der VO Nr. 883/2004
ist im Streitfall eröffnet und Deutschland ist danach der
zuständige Mitgliedstaat.
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a) Der Kläger ist polnischer
Staatsangehöriger und fällt damit nach Art. 2 Abs. 1 der
VO Nr. 883/2004 in den persönlichen Anwendungsbereich der
Grundverordnung. Ebenso ist das Kindergeld nach dem EStG eine
Familienleistung i.S. des Art. 1 Buchst. z der VO Nr. 883/2004,
weshalb auch deren sachlicher Anwendungsbereich nach Art. 3 Abs. 1
Buchst. j der VO Nr. 883/2004 eröffnet ist.
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b) Gemäß Art. 11 Abs. 1 der VO Nr.
883/2004 unterliegen die von der Verordnung erfassten Personen den
Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Da der Kläger im
Streitzeitraum eine selbständige Erwerbstätigkeit in
Deutschland ausgeübt hat, unterlag er den deutschen
Rechtsvorschriften (Art. 11 Abs. 3 Buchst. a der VO Nr.
883/2004).
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5. Anders als die im Streitzeitraum Januar
2007 bis April 2010 geltenden Vorgängerbestimmungen der VO Nr.
1408/71 und der VO Nr. 574/72 regeln die im Streitzeitraum Mai 2010
bis November 2011 geltenden Bestimmungen in Art. 67 Satz 1 der VO
Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009, dass
die Wohnsituation der Schwester oder des Schwagers (fiktiv) in das
Inland übertragen wird, wenn diese als Pflegeeltern
anspruchsberechtigt sind.
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a) Nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr.
987/2009 ist bei Anwendung von Art. 67 und 68 der VO Nr. 883/2004,
insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines
Leistungsanspruchs anbelangt, die Situation der gesamten Familie in
einer Weise zu berücksichtigen, als ob alle beteiligten
Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden
Mitgliedstaats fielen und dort wohnten. Nach Art. 67 der VO Nr.
883/2004 hat eine Person auch für Familienangehörige, die
in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf
Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen
Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem
Mitgliedstaat wohnten. Danach schafft Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO
Nr. 987/2009 eine gesetzliche Fiktion dahin, dass bei Anwendung der
Koordinierungsregelungen der Grundverordnung die Situation der
gesamten Familie in einer Weise berücksichtigt wird, als ob
alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des für
die Gewährung der Familienleistungen zuständigen
Mitgliedstaats fielen und dort wohnten.
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b) Art. 67 der VO Nr. 883/2004 ist ungeachtet
dessen anwendbar, dass es bereits nach nationalem Recht (§ 63
Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 3 EStG) nicht darauf ankommt, ob das Kind
seinen Wohnsitz im Inland oder in einem Mitgliedstaat der
Europäischen Union hat (EuGH-Urteil in EU:C:2015:720, DStRE
2015, 1501, Rz 35 ff.). Zudem kommt es nicht darauf an, ob im
Streitfall zusätzlich auch eine von Art. 68 der VO Nr.
883/2004 erfasste Konkurrenzsituation gegeben ist, denn Art. 60 der
VO Nr. 987/2009 findet bereits über Art. 67 der VO Nr.
883/2004 Anwendung (EuGH-Urteil in EU:C:2015:720 = SIS 15 28 09,
DStRE 2015, 1501, Rz 32 f., 35 ff.).
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c) Zu den „beteiligten
Personen“ i.S. des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr.
987/2009 gehören die
„Familienangehörigen“ i.S. des Art. 1
Buchst. i Nr. 1 Buchst. i der VO Nr. 883/2004. Da das
Kindergeldrecht nach dem EStG den Begriff des
Familienangehörigen weder verwendet noch definiert, sind
hierunter neben den Elternteilen und dem Kind auch alle Personen zu
verstehen, die nach nationalem Recht berechtigt sind, Anspruch auf
diese Leistungen zu erheben (EuGH-Urteil in EU:C:2015:720 = SIS 15 28 09, DStRE 2015, 1501, Rz 38). Daher werden von diesem Begriff
nach § 62 Abs. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, §
32 Abs. 1 Nr. 2 EStG auch Personen erfasst, die ein Kind als
Pflegekind in ihren Haushalt aufgenommen haben.
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Der Begriff der „beteiligten
Personen“ i.S. des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr.
987/2009 ist auch nicht unter Rückgriff auf Art. 1 Buchst. i
Nr. 2 der VO Nr. 883/2004 zu bestimmen. Danach werden als
„Familienangehörige“ nicht die
Pflegeeltern, sondern nur der Ehegatte, die minderjährigen
Kinder und die unterhaltsberechtigten volljährigen Kinder
angesehen, wenn die anzuwendenden Rechtsvorschriften eines
Mitgliedstaats die Familienangehörigen nicht von anderen
Personen unterscheiden, auf die diese Rechtsvorschriften anwendbar
sind. Die Nichtanwendbarkeit dieser Bestimmung ergibt sich zum
einen daraus, dass im deutschen Kindergeldrecht die
Anspruchsberechtigung von einer familienrechtlichen Beziehung
abhängig gemacht wird (vgl. § 62 Abs. 1 i.V.m. § 63
Abs. 1 EStG). Zum anderen hat auch der EuGH in seinem Urteil in
EU:C:2015:720 = SIS 15 28 09, DStRE 2015, 1501, Rz 38 zur
Bestimmung der „beteiligten Personen“ auf die
nach dem nationalen Recht Anspruchsberechtigten abgestellt und
damit etwa auch die ehemalige (geschiedene) Ehefrau des
Anspruchstellers als „beteiligte Person“
qualifiziert, obwohl diese kein Ehegatte i.S. des Art. 1 Buchst. i
Nr. 2 der VO Nr. 883/2004 ist. Insofern greift Art. 1 Buchst. i Nr.
2 der VO Nr. 883/2004 auch dann nicht ein, wenn es darum geht, ob
Pflegeeltern im Zusammenhang des § 62 Abs. 1 i.V.m. § 63
Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG als
Familienangehörige zu qualifizieren sind.
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6. Schließlich käme es nicht darauf
an, ob die Schwester oder der Schwager des Klägers im Falle
ihrer Pflegeelterneigenschaft selbst einen Antrag auf Kindergeld in
Deutschland gestellt haben.
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Denn nimmt eine Person, die berechtigt ist,
Anspruch auf Leistungen zu erheben, dieses Recht nicht wahr (hier
ggf. die Pflegeelternteile), berücksichtigt nach Art. 60 Abs.
1 Satz 3 der VO Nr. 987/2009 der zuständige Träger des
Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften anzuwenden sind (hier
Deutschland), einen Antrag auf Familienleistungen, der von dem
„anderen Elternteil“ gestellt wird. Der Anspruch
auf Kindergeld müsste dem Kläger daher nicht wegen der
fehlenden Antragstellung der Pflegeeltern zuerkannt werden
(EuGH-Urteil in EU:C:2015:720 = SIS 15 28 09, DStRE 2015, 1501, Rz
50). Vielmehr reichte es aus, dass der Kläger einen Antrag auf
Kindergeld gestellt hat. Diesen hätte die deutsche
Familienkasse auch als solchen zugunsten des Kindergeldanspruchs
des Pflegeelternteils zu berücksichtigen.
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7. Das FG wird im zweiten Rechtsgang jedoch
noch aufzuklären haben, ob die Schwester oder der Schwager des
Klägers im Streitzeitraum Mai 2010 bis November 2011 in einem
Pflegekindschaftsverhältnis zu S standen. Insoweit ist nicht
entscheidend, ob sie nach polnischem Recht als Pflegeeltern
bestellt wurden. Es kommt vielmehr darauf an, ob sie die nach
deutschem Recht erforderlichen Voraussetzungen erfüllen.
Allerdings hängt das Bestehen eines
Pflegekindschaftsverhältnisses nach § 32 Abs. 1 Nr. 2
EStG u.a. davon ab, dass das Obhuts- und Pflegeverhältnis zu
beiden Elternteilen nicht mehr besteht, was jedenfalls vom
Kläger in Bezug auf seine Person bestritten wird. Zu den
insoweit gestellten Anforderungen wird auf die Senatsurteile vom
20.7.2006 III R 44/05 (BFH/NV 2007, 17 = SIS 06 47 95) und vom
12.6.1991 III R 108/89 (BFHE 165, 201, BStBl II 1992, 20 = SIS 91 24 03) verwiesen.
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§ 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG setzt mit
seiner Verweisung auf die Pflegekinddefinition des § 32 Abs. 1
Nr. 1 EStG und dem darin verwendeten Begriff des Steuerpflichtigen
- entgegen der Auffassung des Klägers - nicht voraus, dass der
Pflegeelternanteil inländische Einkünfte erzielt. Denn
für die Kindergeldberechtigung nach § 62 Abs. 1 Nr. 1
EStG genügt bereits das Vorliegen eines Wohnsitzes oder
gewöhnlichen Aufenthalts im Inland. Inländische
Einkünfte werden insoweit - anders als etwa bei § 62 Abs.
1 Nr. 2 Buchst. b EStG - nicht gefordert.
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8. Im Übrigen weist der Senat darauf hin,
dass in der Kindergeldakte ein weiterer Bescheid vom 24.9.2010
enthalten ist, mit dem Kindergeld u.a. für S ab Januar 2005
abgelehnt wurde. Ob dieser wirksam bekannt gegeben wurde und ggf.
für einen Teil des vorliegenden Streitzeitraums bereits
Bestandskraft entfaltet, lässt sich den Feststellungen des FG
nicht entnehmen. Ggf. wären auch hierzu Feststellungen noch
nachzuholen.
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9. Die Übertragung der Kostenentscheidung
auf das FG folgt aus § 143 Abs. 2 FGO.
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