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I. Streitig ist, ob sich der Verlust aus
der Veräußerung einer in der Schweiz betriebenen
Arztpraxis nach § 32b Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 des
Einkommensteuergesetzes in der im Streitjahr 2006 geltenden Fassung
(EStG 2002) nur zu einem Fünftel oder in vollem Umfang
steuersatzmindernd auswirkt.
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Die Kläger und Revisionsbeklagten
(Kläger), die im Streitjahr ihren Wohnsitz zeitweise im Inland
hatten, wurden vom Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt -
FA - ) als Eheleute zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Zum
1.4.2006 veräußerten sie ihre bis zu diesem Zeitpunkt in
A betriebene zahnärztliche Gemeinschaftspraxis
(Veräußerungsgewinn: ... EUR). Zuvor (am 1.2.2006)
eröffneten sie eine zahnärztliche Gemeinschaftspraxis in
B (Schweiz). Diese Praxis gaben sie zum 30.9.2006 wieder auf
(Veräußerungsverlust: umgerechnet ... EUR), um
anschließend wieder eine entsprechende Tätigkeit in A
auszuüben.
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Das FA, das den
Veräußerungsgewinn einer begünstigten Besteuerung
(§ 34 EStG 2002) unterwarf, berücksichtigte den
Veräußerungsverlust im Rahmen des sog. negativen
Progressionsvorbehalts unter Hinweis auf § 32b Abs. 1 Nr. 3
und Abs. 2 Nr. 2 EStG 2002 abweichend von der Rechtsauffassung der
Kläger nur zu einem Fünftel. Die gegen diese
Steuerfestsetzung erhobene Klage war erfolgreich (Finanzgericht -
FG - Münster, Urteil vom 18.3.2011 4 K 3477/09 E, EFG 2011,
1705 = SIS 11 22 30).
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Das FA rügt die Verletzung materiellen
Rechts und beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil
aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Die Kläger beantragen, die Revision
zurückzuweisen.
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II. Die Revision ist unbegründet und
daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der
Finanzgerichtsordnung - FGO - ). Das FG hat ohne Rechtsfehler den
ausländischen Veräußerungsverlust bei der
Ermittlung des Steuersatzes vollen Umfangs berücksichtigt.
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1. Die Kläger waren in den
Zeitabschnitten des Streitjahres, in denen sie einen
inländischen Wohnsitz innehatten, gemäß § 1
Abs. 1 EStG 2002 unbeschränkt steuerpflichtig. Damit war
für das Streitjahr eine (Ehegatten-)Veranlagung zur
Einkommensteuer durchzuführen (§ 2 Abs. 7 Satz 2 EStG
2002; § 26 Abs. 1 Satz 1, § 26b EStG 2002).
Abkommensrechtlich waren die Kläger den Zeitabschnitten der
unbeschränkten Steuerpflicht im Inland entsprechend auch in
der Bundesrepublik Deutschland ansässig (Art. 4 Abs. 1 i.V.m.
Abs. 5 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der
Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom
Vermögen vom 11.8.1971, BGBl II 1972, 1022, BStBl I 1972, 512,
in der Fassung des Änderungsprotokolls vom 21.12.1992, BGBl II
1993, 1888, BStBl I 1993, 928, - DBA-Schweiz 1971/1992 - ). Die in
der Schweiz während der dortigen Ansässigkeit erzielten
Einkünfte aus der zahnärztlichen Tätigkeit
einschließlich der Einkünfte aus der
Praxisveräußerung unterlagen dem Besteuerungsrecht der
Schweiz (Art. 14 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 DBA-Schweiz 1971/1992).
Diese Einkünfte sind nach Art. 24 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 Buchst.
c DBA-Schweiz 1971/1992 nicht in die Bemessungsgrundlage der
deutschen Steuer einzubeziehen, sie sind aber bei der Festsetzung
des inländischen Steuersatzes zu berücksichtigen (Art. 24
Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 DBA-Schweiz 1971/1992). Dies gilt auch für
negative Einkünfte; ein Ausschluss auf der Grundlage des
§ 2a EStG 2002 (zur Anwendung im Bereich des sog.
Progressionsvorbehalts z.B. Senatsurteile vom 12.1.2011 I R 35/10,
BFHE 232, 432, BStBl II 2011, 494 = SIS 11 13 25; vom 10.8.2011 I R
45/10, BFHE 234, 412 = SIS 11 37 53) kommt im Streitfall nicht in
Betracht. Im Übrigen steht der Anwendung des
Progressionsvorbehalts nicht entgegen, dass die ausländischen
- nicht der beschränkten Steuerpflicht unterfallenden -
Einkünfte in Zeitabschnitten des Veranlagungszeitraums bezogen
wurden, in denen keine unbeschränkte Steuerpflicht bestand
(Senatsurteile vom 19.12.2001 I R 63/00, BFHE 197, 495, BStBl II
2003, 302 = SIS 02 05 75; vom 15.5.2002 I R 40/01, BFHE 199, 224,
BStBl II 2002, 660 = SIS 02 85 74; vom 19.11.2003 I R 19/03, BFHE
204, 155, BStBl II 2004, 549 = SIS 03 53 43). Dies alles ist
zwischen den Beteiligten nicht streitig und bedarf keiner weiteren
Erörterung.
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2. Die abkommensrechtlich zugelassene
Einbeziehung der (negativen) Einkünfte bei der Festsetzung des
inländischen Steuersatzes erfolgt im Wege des sog.
Progressionsvorbehalts. Dabei ist der
Veräußerungsverlust bei der Ermittlung des sog.
Steuersatzeinkommens in vollem Umfang mindernd zu
berücksichtigen; außerordentliche Einkünfte, die
insoweit nach § 32b Abs. 2 Nr. 2 EStG 2002 nur zu einem
Fünftel anzusetzen sind, liegen nicht vor.
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a) Nach § 32b Abs. 1 Nr. 3 EStG 2002 ist
für einen Steuerpflichtigen, der zeitweise oder während
des gesamten Veranlagungszeitraums unbeschränkt
einkommensteuerpflichtig ist, auf das nach § 32a Abs. 1 EStG
2002 zu versteuernde Einkommen u.a. dann ein besonderer Steuersatz
anzuwenden, wenn er Einkünfte bezogen hat, die nach einem
Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung unter dem Vorbehalt
der Einbeziehung bei der Berechnung der Einkommensteuer steuerfrei
sind. Der besondere Steuersatz ist in diesem Fall der Steuersatz,
der sich ergibt, wenn bei der Berechnung der Einkommensteuer das
nach § 32a Abs. 1 EStG 2002 zu versteuernde Einkommen vermehrt
oder vermindert wird um die steuerfrei bezogenen ausländischen
Einkünfte, wobei die darin enthaltenen außerordentlichen
Einkünfte mit einem Fünftel zu berücksichtigen sind
(§ 32b Abs. 2 Nr. 2 EStG 2002).
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b) Das FG hat ohne Rechtsfehler darauf
erkannt, dass der in der Schweiz erzielte und im Inland steuerfrei
gestellte Veräußerungsverlust den Einkünftebegriff
des § 32b Abs. 2 Nr. 2 EStG 2002 erfüllt und nicht
zugleich als außerordentliche Einkunft anzusehen ist.
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aa) Der in § 32b Abs. 2 Nr. 2 EStG 2002
angeführte Begriff der Einkünfte bezieht sich auf den
Regelungsinhalt des § 2 Abs. 2 EStG 2002 und erfasst damit
sowohl Gewinne/Überschüsse als auch Verluste aus den in
§ 2 Abs. 1 EStG 2002 aufgezählten Einkunftsarten (s.
Senatsurteil vom 8.2.1995 I R 17/94, BFHE 177, 79, BStBl II 1995,
692 = SIS 95 12 77; Senatsbeschluss vom 15.5.2002 I B 73/01, BFH/NV
2002, 1295 = SIS 02 93 85). Ein bei der Veräußerung
einer zahnärztlichen Praxis erzielter Verlust ist den
freiberuflichen Einkünften zuzuordnen (§ 18 Abs. 3 i.V.m.
§ 16 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG 2002). Diese Einkünfte sind
auch Gegenstand der abkommensrechtlichen Steuerfreistellung.
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bb) Der Gesetzeswortlaut des § 32b Abs. 1
Nr. 2 EStG 2002 definiert den Begriff der außerordentlichen
Einkünfte nicht. Es ist aber davon auszugehen, dass alle im
Einkommensteuergesetz als solche bezeichneten
außerordentlichen Einkünfte angesprochen sind. Denn
wörtlich übereinstimmende Begriffe innerhalb desselben
Steuergesetzes sind sachlich identisch. Das hat der Senat in seinem
Urteil vom 9.6.1993 I R 81/92 (BFHE 171, 388, BStBl II 1993, 790 =
SIS 93 20 69) zur Gesetzesfassung des § 32b EStG 1972, mit der
bis zum Inkrafttreten des Steuersenkungsgesetzes vom 23.10.2000
(BGBl I 2000, 1433, BStBl I 2000, 1428) steuerfreie
ausländische außerordentliche Einkünfte
ausdrücklich von einer Berücksichtigung ausgenommen
wurden, entschieden. Dies gilt für die hier maßgebende
Gesetzesfassung unverändert. Die nachfolgende
Gesetzesänderung zur aktuellen Fassung des § 32b EStG
2002 hat nur die Rechtsfolge geändert, ohne den Begriffsinhalt
des Tatbestands zu berühren. Mit der Änderung sollte nach
der Begründung des Gesetzentwurfs zum Steuersenkungsgesetz dem
Umstand Rechnung getragen werden, dass die wirtschaftliche
Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen (auch) durch diese
(außerordentlichen) Einkünfte gesteigert wird (vgl.
BTDrucks 14/2683, S. 115), was eine Einbeziehung in den
Progressionsvorbehalt rechtfertigen konnte. Allerdings sollte in
Anlehnung an die sog. Fünftel-Regelung für
außerordentliche inländische Einkünfte
gemäß § 34 EStG auch im Rahmen des § 32b EStG
sichergestellt werden, dass durch die Einbeziehung jener
ausländischen Einkünfte keine übermäßige
Progressionsverschärfung eintreten würde (BTDrucks
14/2683, S. 115; s.a. die Äußerung des Finanzausschusses
in BTDrucks 14/3366, S. 119).
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cc) Ein Veräußerungsgewinn i.S. des
§ 16 und des § 18 Abs. 3 EStG 2002 unterfällt als
außerordentliche Einkunft (s. insoweit § 34 Abs. 2 Nr. 1
EStG 2002) der Begünstigung des § 34 Abs. 1 EStG 2002, da
es durch die Vollrealisierung der stillen Reserven in typisierter
Weise zu einer Zusammenballung von Ergebnissen mehrerer Jahre
kommt. Insoweit ist es sachgerecht, infolge einer progressiven
Besteuerung eintretende (jedenfalls typisiert anzunehmende)
Härten in dieser Situation abzumildern (Senatsurteil vom
12.3.1975 I R 180/73, BFHE 115, 261, BStBl II 1975, 485 = SIS 75 02 89; s.a. Drenseck in Schmidt, EStG, 30. Aufl., § 34 Rz 12;
Mellinghoff in Kirchhof, EStG, 10. Aufl., § 34 Rz 8 f.). Diese
Sonderregelung (Tarifermäßigung) bezieht sich nach dem
Regelungsgegenstand aber nur auf einen Gewinn (positive
Einkünfte). Ein Veräußerungsverlust, der
progressionsbedingte Steuermehrbelastungen nicht auslösen
kann, ist - jedenfalls soweit nicht in demselben
Veranlagungszeitraum auch ein Veräußerungsgewinn als
(weitere) außerordentliche Einkunft erzielt wurde
(offengelassen im Beschluss des Bundesfinanzhofs vom 29.3.2001 VIII
B 90/00, BFH/NV 2001, 1279 = SIS 01 75 52) - für den
Regelungsbereich einer Tarifermäßigung nicht relevant
(z.B. Senatsurteile vom 11.4.1990 I R 163/87, BFHE 160, 500, BStBl
II 1990, 783 = SIS 90 25 04; in BFHE 177, 79, BStBl II 1995, 692 =
SIS 95 12 77; s.a. Wagner in Blümich, EStG/KStG/GewStG, §
32b EStG Rz 81).
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dd) Diese aus § 34 EStG 2002 ableitbare
Struktur hat der Gesetzgeber durch die Verwendung der
entsprechenden Begrifflichkeit auf § 32b Abs. 2 Nr. 2 EStG
2002 übertragen. Dazu hat er aus der zur Ermittlung des sog.
Steuersatzeinkommens beim Progressionsvorbehalt (Senatsurteil vom
6.10.1993 I R 32/93, BFHE 172, 385, BStBl II 1994, 113 = SIS 94 13 49) maßgebenden Größe
„Einkünfte“ die
„außerordentlichen Einkünfte“
separiert, um sie zur Abmilderung der Auswirkungen des progressiven
Tarifs nur zu einem Bruchteil (wie ebenfalls in § 34 EStG
2002) zu erfassen. Diese Rechtsfolge bezieht sich aber dann auch
parallel zu § 34 EStG 2002 nicht auf negative Einkünfte
(so auch Frenz in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 32b
Rz E 24; Lambrecht in Kirchhof, a.a.O., § 32b Rz 22; Wagner in
Blümich, a.a.O., § 32b EStG Rz 81; Dankmeyer in
Frotscher, EStG, § 32b Rz 93; a.A. Probst in
Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 32b EStG Rz 132; Handzik
in Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, § 32b Rz 122;
Naujok in Lademann, EStG, § 32b Rz 62).
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ee) Es besteht kein Rechtsgrundsatz des
Inhalts, dass die Betriebsveräußerung als
außerordentlicher Geschäftsvorfall unabhängig vom
erzielten Ergebnis (Gewinn/Verlust) in unterschiedlichen
Regelungsbereichen (hier einerseits die Abmilderung der Wirkung des
progressiven Steuertarifs gemäß § 34 EStG 2002,
andererseits die Steuersatzberechnung gemäß § 32b
EStG 2002) einer einheitlichen Beurteilung unterliegen muss. Die
ermäßigte Besteuerung des Veräußerungsgewinns
im Inland erzwingt daher nicht die von der Revision bevorzugte
Auslegung des § 32b Abs. 2 Nr. 2 EStG 2002. Vielmehr ist der
ausländische (steuerfreie) Veräußerungsverlust
entsprechend dem Regelungswortlaut vollen Umfangs im Rahmen des
sog. negativen Progressionsvorbehalts zu berücksichtigen.
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