Kindergeld, Nachzahlung, keine Verzinsung: Kindergeldnachzahlungen sind nicht zu verzinsen. - Urt.; BFH 20.4.2006, III R 64/04; SIS 06 31 49
I. Die Klägerin und
Revisionsklägerin (Klägerin) bezog für ihre 1977
geborene Tochter Kindergeld von der Beklagten und
Revisionsbeklagten (Familienkasse). Die Tochter besuchte bis zu
ihrem Abitur im Juni 1996 das Gymnasium und war vom 22.6.1996 bis
zum 21.7.1997 als Au-pair-Mädchen in den USA. Dort belegte sie
an öffentlichen Schulen einen Kurs mit 22 Wochenstunden, um
ihre Englischkenntnisse zu vervollständigen.
Die Familienkasse hob die
Kindergeldfestsetzung durch Bescheid vom 6.6.1996 ab Juli 1996 auf,
weil das Au-pair-Verhältnis nicht als Berufsausbildung
anzuerkennen sei. Über den von der Klägerin am 21.6.1996
eingelegten Einspruch wurde zunächst nicht
entschieden.
Im Juli 1997 wurde die Kindergeldzahlung
wieder aufgenommen. Mit Schreiben vom 8.9.1999 bat die
Klägerin um Überprüfung der Anspruchsberechtigung
für Juli 1996 bis Juni 1997. Die Familienkasse schlug ein
Ruhen des Verfahrens vor, da noch gerichtliche Verfahren
anhängig seien. Damit war die Klägerin
einverstanden.
Durch Einspruchsentscheidung vom 4.10.2001
wurde der Klägerin unter Änderung des Bescheids vom
6.6.1996 Kindergeld für Juli 1996 bis Juni 1997 bewilligt und
am 15.11.2001 nachgezahlt. Mit Schreiben vom 5.12.2001 forderte die
Klägerin Verzugszinsen von 4 v.H. bzw. ab dem 1.6.2000 von 5
v.H. sowie einen Basiszuschlag von 4,26 v.H. Dies lehnte die
Familienkasse ab.
Einspruch und Klage blieben ohne Erfolg.
Das Urteil des Finanzgerichts (FG) ist in EFG 2004, 1480 = SIS 04 33 77 abgedruckt.
Mit der Revision rügt die
Klägerin die Anwendung materiellen Rechts. Sie meint, die
Verzinsung des Erstattungsanspruchs sei nach den Grundsätzen
über den öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch oder
über eine entsprechende Anwendung des § 44 des Ersten
Buches Sozialgesetzbuch (SGB I) geboten. Da nach dem
Bundeskindergeldgesetz (BKGG) bezogenes Kindergeld gemäß
§ 44 SGB I verzinst werde, könnten Zinsen nach dem
Gleichheitsgrundsatz von allen Kindergeldempfängern
beansprucht werden. Soweit das Kindergeld als Steuervergütung
nicht nach der Abgabenordnung (AO 1977) verzinst werde, sei dies
verfassungsrechtlich bedenklich.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des
FG und die Einspruchsentscheidung aufzuheben und die Familienkasse
zu verurteilen, 178,47 EUR zuzüglich Zinsen in Höhe von 5
Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 26.7.2002 zu
zahlen.
Die Familienkasse beantragt, die Revision
zurückzuweisen.
II. Die Revision ist unbegründet, denn
die Kindergeldnachzahlung ist nicht zu verzinsen.
1. Ein Zinsanspruch ergibt sich, wie das FG
zutreffend entschieden hat, nicht aus § 233a AO 1977.
a) Die sog. Vollverzinsung von
Steuernachforderungen und Steuererstattungen gilt nach dem
eindeutigen Wortlaut der Vorschrift nur für
Unterschiedsbeträge i.S. des § 233a Abs. 3 AO 1977, die
sich bei der Festsetzung der Einkommen-, Körperschaft-,
Vermögen-, Umsatz- oder Gewerbesteuer ergeben. Diese
Aufzählung ist abschließend. Deshalb werden z.B. der
Solidaritätszuschlag, Zölle und Verbrauchsteuern,
Abzugssteuern (z.B. Lohn- und Kapitalertragsteuer) nicht
gemäß § 233a AO 1977 verzinst (Heuermann in
Hübschmann/Hepp/Spitaler - HHSp -, § 233a AO 1977 Rz. 21
ff.).
§ 233a AO 1977 ist nach einhelliger
Ansicht auch auf die Erstattung oder Nachforderung von
Steuervergütungen nicht anzuwenden (FG Köln, Urteil vom
3.7.2002 15 K 4409/01, EFG 2004, 84 = SIS 04 02 51, rkr.; Heuermann
in HHSp, § 233a AO 1977 Rz. 21; Loose in Tipke/Kruse,
Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 233a AO 1977 Tz. 10;
Klein/Rüsken, AO, 8. Aufl., § 233a Rz. 6; Pahlke/Koenig,
Abgabenordnung, § 233a Rz. 13). Kindergeld gehört
materiell zur Einkommensteuer und wird gemäß § 31
Satz 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) als Steuervergütung
gezahlt, es beruht jedoch nicht auf einer - von § 233a Abs. 1
AO 1977 vorausgesetzten - Festsetzung der Einkommensteuer (vgl.
Loose in Tipke/Kruse, a.a.O., § 233a AO 1977 Tz. 10).
b) § 233a AO 1977 ist auch nicht
entsprechend anwendbar.
§ 233a AO 1977 enthält keinen
allgemeinen Rechtsgedanken, dass Ansprüche aus dem
abgabenrechtlichen Verhältnis zwischen Bürger und
Verwaltung stets zu verzinsen sind, um mögliche Zinsvorteile
oder Nachteile auszugleichen. Wie der Bundesfinanzhof (BFH) in dem
Urteil vom 17.2.1987 VII R 21/84 (BFHE 149, 15, BStBl II 1987, 368
= SIS 87 10 59) unter Hinweis auf den Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 19.9.1997 1 BvR 571/76
(Steuerrechtsprechung in Karteiform, Investitionszulagengesetz
1969, § 1, Rechtsspruch 10) und auf das Urteil des BFH vom
31.10.1974 IV R 160/69 (BFHE 114, 397, BStBl II 1975, 370 = SIS 75 02 20) ausgeführt hat, besteht kein allgemeiner
Rechtsgrundsatz auf Verzinsung rückständiger Leistungen
des Staates.
2. Der Klägerin stehen Zinsen auch nicht
nach anderen Vorschriften zu.
a) Ein Anspruch auf Prozesszinsen für
Steuervergütungen setzt gemäß § 236 AO 1977
voraus, dass die Steuervergütung durch oder aufgrund einer
rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung gewährt wird.
Dies ist nur dann der Fall, wenn der Anspruch als solcher
rechtshängig gewesen ist, nicht aber, wenn die Gewährung
der Steuervergütung auf einer gerichtlichen Entscheidung
für einen anderen Zeitraum (z.B. Parallelverfahren desselben
Klägers, vgl. FG Köln, Urteil in EFG 2004, 84 = SIS 04 02 51) oder der Klage eines Dritten beruht. Wird ein
Einspruchsverfahren wegen eines Musterverfahrens zum Ruhen gebracht
oder ausgesetzt, so können nach einer Änderung infolge
des günstigen Ausganges des Musterverfahrens keine
Prozesszinsen beansprucht werden (BFH-Urteile in BFHE 114, 397,
BStBl II 1975, 370 = SIS 75 02 20 zu § 259 Abs. 2 der
Reichsabgabenordnung - AO -, § 111 der Finanzgerichtsordnung -
FGO - a.F.; vom 16.12.1987 I R 350/83, BFHE 152, 401, BStBl II
1988, 600 = SIS 88 10 01; Loose in Tipke/Kruse, a.a.O., § 236
AO 1977 Tz. 14;Schwarz, AO, § 236 Rdnr. 4).
b) Erstattungen oder Nachzahlungen von
Kindergeld nach dem BKGG sind nach § 44 SGB I mit 4 v.H. zu
verzinsen. Diese Vorschrift gilt jedoch nur für die Verzinsung
von sozialrechtlichen Ansprüchen, nicht aber für das von
der Klägerin aufgrund der §§ 62 ff. EStG bezogene
Kindergeld; dabei ist unerheblich, ob oder inwieweit Kindergeld
materiell teilweise zur Förderung der Familie (vgl. § 31
Satz 2 EStG) gewährt wird.
c) Öffentlich-rechtliche
Erstattungsansprüche gemäß § 37 Abs. 2 AO 1977
sind nur dann zu verzinsen, wenn dies gesetzlich vorgeschrieben
ist. Im Streitfall fehlt eine entsprechende Vorschrift.
d) Der Zinsanspruch kann auch nicht auf
§§ 286 Abs. 1, 288 Abs. 1 des Bürgerlichen
Gesetzbuchs (BGB) gestützt werden. Diese Vorschriften
über die Folgen des Verzuges gelten nur für
zivilrechtliche Ansprüche, nicht aber für einen
Steuervergütungsanspruch.
3. Die Versagung der Verzinsung
verstößt nicht gegen den verfassungsrechtlichen
Gleichheitssatz.
Der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1
des Grundgesetzes - GG - ) gebietet dem Gesetzgeber, wesentlich
Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln
(ständige Rechtsprechung des BVerfG, z.B. Beschlüsse vom
15.7.1998 1 BvR 1554/89, BVerfGE 98, 365, 385; vom 11.1.2005 2 BvR
167/02, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 = SIS 05 30 28). Er gilt
für ungleiche Belastungen wie auch für ungleiche
Begünstigungen (BVerfG-Beschluss vom 11.10.1988 1 BvR 777,
882, 1239/85, BVerfGE 79, 1, 17). Verboten ist daher auch ein
gleichheitswidriger Begünstigungsausschluss (BVerfG-Beschluss
vom 31.1.1996 2 BvL 39, 40/93, BVerfGE 93, 386, 396; BVerfG-Urteil
vom 6.3.2002 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73, 110 ff., 133 = SIS 02 04 93), bei dem eine Begünstigung einem Personenkreis
gewährt, einem anderen aber vorenthalten wird
(BVerfG-Beschluss vom 8.6.2004 2 BvL 5/00, BVerfGE 110, 412, 431 =
SIS 04 36 31). Andererseits steht dem Gesetzgeber eine
Gestaltungsfreiheit zu, die je nach Rechtsgebiet unterschiedlich
ausgeprägt ist und vom bloßen Willkürverbot bis zu
einer strengen Bindung an
Verhältnismäßigkeitserfordernisse reicht. Dabei ist
auch die grundsätzliche Befugnis des Gesetzgebers zur
Vereinfachung und Typisierung zu beachten: Er darf
generalisierende, typisierende und pauschalierende Regelungen
treffen, ohne wegen der damit unvermeidlich verbundenen Härten
gegen den allgemeinen Gleichheitssatz zu verstoßen
(BVerfG-Beschluss vom 16.3.2005 2 BvL 7/00, BFH/NV 2005 Beilage 4,
356, NJW 2005, 2448 = SIS 05 30 25, m.w.N.). Nähere
Maßstäbe und Kriterien dafür, unter welchen
Voraussetzungen im Einzelfall der allgemeine Gleichheitssatz
verletzt ist, lassen sich danach nicht abstrakt und allgemein,
sondern nur bezogen auf die jeweils betroffenen unterschiedlichen
Sach- und Regelungsbereiche präzisieren (BVerfG-Beschluss in
BFH/NV 2005, Beilage 4, 356 = SIS 05 30 25).
Die Klägerin wird hinsichtlich der
Verzinsung ihres Kindergeldanspruchs anders behandelt als dies bei
einem Streit über den Kinderfreibetrag oder Kindergeld nach
dem BKGG geschehen wäre: Eine Änderung ihres
Einkommensteuerbescheides durch Gewährung des
einkommensteuerlichen Kinderfreibetrags (§ 32 Abs. 6 EStG)
hätte gemäß § 233a AO 1977 Zinsen entstehen
lassen. Wenn der Kindergeldanspruch nicht auf §§ 62 ff.
EStG, sondern - mangels unbeschränkter Steuerpflicht der
Klägerin im Inland - auf § 1 BKGG beruht hätte, so
wäre er nach § 44 SGB I mit 4 v.H. zu verzinsen
gewesen.
Darin ist jedoch keine verfassungswidrige
Ungleichbehandlung zu sehen. Bei der Regelung der Verzinsung von
Ansprüchen handelt es sich nicht um einen grundrechtlich
sensiblen Bereich, so dass dem Gesetzgeber ein großer
Gestaltungsspielraum zuzugestehen ist. Steuern wurden seit 1934
allgemein nicht verzinst und auch gegenwärtig erfasst §
233a AO 1977 - wie dargelegt - nur Teilbereiche des
Steuerschuldverhältnisses. Dies ist bislang
verfassungsrechtlich nicht problematisiert worden.
Die Einführung der sog. Vollverzinsung
durch das Steuerreformgesetz 1990 war für die
Steuerpflichtigen ein „zweischneidiges Schwert“.
Indem sowohl Nachzahlungen wie auch Erstattungen verzinst werden,
wirkt § 233a AO 1977 zwar zugunsten wie zulasten der
Steuerbürger. Saldiert ergeben sich jedoch Mehreinnahmen der
Verwaltung, die der Gesetzgeber auch beabsichtigt hatte, und
dementsprechend eine Mehrbelastung der Bürger (Monatsbericht
des Bundesministeriums der Finanzen, April 2004, S. 19).
Die Entscheidung des Gesetzgebers, von einer
Verzinsung des einkommensteuerlichen Kindergeldes abzusehen, ist
sachlich gerechtfertigt:
a) Die praktische Bedeutung einer Verzinsung
des Kindergeldes nach §§ 62 ff. EStG wäre relativ
gering. Da Kindergeld laufend monatlich gezahlt wird, dürfte
eine Verzinsung nach einer angemessenen Karenzzeit (vgl. auch
§ 233a Abs. 2 AO 1977 - 15 Monate - und § 44 Abs. 2 SGB I
- 6 Monate - ) nur relativ wenige Fälle betreffen. Die
streitigen Beträge sind zudem regelmäßig relativ
niedrig, während sich bei der Festsetzung von Einkommen-,
Körperschaft- und Umsatzsteuer nach längeren
Zeiträumen häufiger hohe betragliche Änderungen
ergeben; dementsprechend werden z.B. auch der
Solidaritätszuschlag und Nebenleistungen nicht von § 233a
AO 1977 erfasst.
b) Der Verzicht auf die Verzinsung bewirkt
eine Vereinfachung. Die Verwaltung wird nicht nur von der
Zinsberechnung entlastet, sondern z.B. auch vom Schriftverkehr zur
Erläuterung von Rechtsgrundlagen und Höhe der Zinsen
sowie - in Rückforderungsfällen - von der Bearbeitung von
Erlassanträgen usw. Der Vereinfachungseffekt wiegt nicht nur
schwer im Hinblick auf die relativ geringe praktische Bedeutung
einer Verzinsung, sondern auch wegen der Änderung des
Verwaltungsverfahrens ab 1996 und der damit verbundenen
Belastungen.
c) Vom Gesetzgeber kann nicht erwartet werden,
dass er gegen öffentliche Kassen gerichtete Ansprüche
verzinst, deren Ansprüche jedoch unverzinslich belässt;
dementsprechend erfassen § 233a AO 1977 und § 44 SGB I
sowohl Forderungen als auch Verbindlichkeiten des Staates.
Die im Streitfall vorliegende verzögerte
Gewährung von Kindergeld ist praktisch wesentlich seltener als
dessen Rückforderung. Kindergeld muss von den Familienkassen
häufig zurückgefordert werden, weil die Voraussetzungen
dafür weggefallen sind - z.B. wegen Beendigung der Ausbildung,
Überschreitung der Einkunftsgrenze (vgl. § 32 Abs. 4
EStG) oder Wechsel des Berechtigten - ; dies wird zudem oftmals
verspätet erklärt. Die Rückforderung von Kindergeld,
welches regelmäßig für den laufenden Unterhalt
verbraucht wurde, belastet die Betroffenen meist erheblich. Durch
das Absehen von der Verzinsung werden die zur Rückzahlung
verpflichteten Kindergeldbezieher entlastet. Die Verzinsung von
Kindergeldnachzahlungen hat demgegenüber regelmäßig
keine existentielle Bedeutung.
d) Bei der Prüfung einer Verletzung des
Art. 3 GG ist nach der Rechtsprechung des BVerfG auch von
wesentlicher Bedeutung, ob die ungünstige Rechtsfolge
vermieden werden konnte (BVerfG-Beschluss vom 26.10.2004 2 BvR
246/98, BFH/NV 2005, Beilage 3, 259 = SIS 05 04 91). Danach ist im
Streitfall zu berücksichtigen, dass die Klägerin die
Entstehung eines Zinsanspruchs durch alternative
Sachverhaltsgestaltung hätte erreichen können: Statt ihr
Einverständnis mit dem Ruhen des Einspruchsverfahrens zu
erklären (vgl. § 363 Abs. 2 AO 1977), hätte sie
stattdessen auch eine Einspruchsentscheidung erzwingen (vgl. §
46 FGO) und die Mühe und das Risiko einer Klageerhebung auf
sich nehmen können; dadurch wäre ein Anspruch auf
Prozesszinsen gemäß § 236 AO 1977 entstanden.