Die Revision der Klägerin gegen das
Urteil des Finanzgerichts Münster vom 21.05.2021 - 4 K 3164/20
AO = SIS 21 12 53 wird als
unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat die
Klägerin zu tragen.
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I. Die Klägerin und
Revisionsklägerin (Klägerin) hatte für ihren im Jahr
1995 geborenen Sohn (S) Kindergeld bezogen, weil dieser sich in
Ausbildung befand. Aufgrund ihrer Mitteilung über das Ende der
Ausbildung im Januar 2017 hob die Beklagte und Revisionsbeklagte
(Familienkasse) die Kindergeldfestsetzung ab Februar 2017
auf.
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Mit Antrag vom 29.07.2019, bei der
zuständigen Familienkasse eingegangen am 30.07.2019,
beanspruchte die Klägerin rückwirkend Kindergeld, weil S
seit 2014 ein ausbildungsbegleitendes Verbundstudium absolviert
habe. Die Familienkasse setzte das Kindergeld mit Bescheid vom
26.08.2019 antragsgemäß fest und wies im Bescheid darauf
hin, dass wegen § 70 Abs. 1 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes
(EStG) eine Auszahlung des festgesetzten Kindergelds erst ab Januar
2019, d.h. für die letzten sechs Monate vor Antragstellung,
erfolgen könne.
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Der gegen die Anwendung des § 70 Abs.
1 Satz 2 EStG eingelegte Einspruch blieb ohne Erfolg. Im Laufe des
dagegen gerichteten Klageverfahrens erließ die Familienkasse
unter dem 30.04.2020 den streitgegenständlichen
Abrechnungsbescheid (§ 218 Abs. 2 der Abgabenordnung). Darin
entschied sie, dass eine Kindergeldauszahlung für die Monate
Februar 2017 bis Dezember 2018 wegen § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG
nicht erfolgen könne. Den gegen den Abrechnungsbescheid
gerichteten Einspruch wies sie zurück.
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Die u.a. mit der Verfassungswidrigkeit des
§ 70 Abs. 1 Satz 2 EStG begründete Klage wurde vom
Finanzgericht als unbegründet abgewiesen.
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Die Klägerin begründet ihre
Revision mit der Verfassungswidrigkeit des § 70 Abs. 1 Satz 2
EStG.
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Die Revisionsbegründung ging beim
Bundesfinanzhof einen Tag zu spät ein. Ihren Antrag auf
Wiedereinsetzung hat die Klägerin damit begründet, dass
die Frist aufgrund eines Büroversehens fehlerhaft erfasst
worden sei.
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Die Klägerin beantragt
sinngemäß,
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die Vorentscheidung aufzuheben und den
Abrechnungsbescheid vom 30.04.2020 in Gestalt der
Einspruchsentscheidung vom 29.10.2020 dahin zu ändern, dass
das Kindergeld für das Kind S auch für den Zeitraum
Februar 2017 bis Dezember 2018 ausgezahlt wird.
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Die Familienkasse beantragt,
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die Revision zurückzuweisen.
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II. Die Entscheidung ergeht gemäß
§ 126a der Finanzgerichtsordnung (FGO). Der Senat hält
einstimmig die Revision für unbegründet und eine
mündliche Verhandlung nicht für erforderlich. Die
Beteiligten sind davon unterrichtet worden und hatten Gelegenheit
zur Stellungnahme.
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Die Revision ist zulässig (1.), aber
unbegründet. Die Familienkasse hat § 70 Abs. 1 Satz 2
EStG richtig angewandt (2.); die Vorschrift ist auch
verfassungsgemäß (3.).
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1. Die Klägerin hat die Frist für
die Begründung der Revision (§ 120 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz
1 FGO), die ungeachtet der Verlängerungsmöglichkeit eine
gesetzliche Frist ist, um einen Tag versäumt. Ihr ist jedoch
die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu
gewähren (§ 56 FGO), da die Fristversäumnis durch
die langjährige Kanzleimitarbeiterin verschuldet wurde;
für ein Verschulden der Berufsträger ist nichts
ersichtlich.
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2. Die Vorschrift des § 70 Abs. 1 Satz 2
EStG ist nach § 52 Abs. 50 EStG auf nach dem 18.07.2019
eingehende Anträge auf Kindergeld anzuwenden. Sie regelt, dass
festgesetztes Kindergeld rückwirkend nur für sechs Monate
vor Beginn des Monats ausgezahlt wird, in dem der Antrag
eingegangen ist.
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Zwischen den Beteiligten ist nicht streitig,
dass die Familienkasse § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG auf den am
30.07.2019 eingegangenen Antrag der Klägerin dem
Gesetzeswortlaut entsprechend angewandt und insbesondere den von
der Vorschrift erfassten Zeitraum richtig berechnet hat, für
den Kindergeld trotz Festsetzung nicht ausgezahlt werden kann.
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3. § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG ist nicht
verfassungswidrig.
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a) § 66 Abs. 3 EStG i.d.F. des Gesetzes
zur Bekämpfung der Steuerumgehung und zur Änderung
weiterer steuerlicher Vorschriften
(Steuerumgehungsbekämpfungsgesetz vom 23.06.2017, BGBl I 2017,
1682, BStBl I 2017, 865) regelte, dass „das Kindergeld ...
rückwirkend nur für die letzten sechs Monate vor Beginn
des Monats gezahlt (wird), in dem der Antrag auf Kindergeld
eingegangen ist“.
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aa) Die mit Wirkung ab 18.07.2019 durch §
70 Abs. 1 Satz 2 EStG ersetzte Vorschrift (Gesetz gegen illegale
Beschäftigung und Sozialleistungsmissbrauch vom 11.07.2019,
BGBl I 2019, 1066, BStBl I 2019, 814; vgl. dazu Wendl in
Herrmann/Heuer/Raupach - HHR -, § 70 EStG Rz 7) betraf -
entgegen der Ansicht der Verwaltung - das Festsetzungs- und nicht
das Erhebungsverfahren (Senatsurteile vom 19.02.2020 - III R 66/18,
BFHE 268, 294, BStBl II 2020, 704 = SIS 20 08 97, und III R 70/18,
BFHE 268, 301, BStBl II 2020, 707 = SIS 20 08 98) und war nicht
verfassungswidrig (Senatsurteil vom 09.09.2020 - III R 37/19,
BFH/NV 2021, 449 = SIS 21 01 97). Denn soweit das Kindergeld der
Förderung der Familie dient (§ 31 Satz 2 EStG), ist die
dem Steuerpflichtigen vom Gesetzgeber auferlegte Obliegenheit,
Kindergeld innerhalb von sechs Monaten nach Entstehung des
Anspruchs zu beantragen, nicht zu beanstanden (vgl. Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts vom 06.11.2003 - 2 BvR 1240/02, HFR 2004,
260, Rz 13 zur wortgleichen Fassung des § 66 Abs. 3 EStG
i.d.F. des Jahressteuergesetzes 1996).
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bb) § 66 Abs. 3 EStG a.F. war auch nicht
wegen der durch Art. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 des
Grundgesetzes gebotenen Steuerfreistellung des Existenzminimums des
Kindes verfassungswidrig, denn ein aufgrund der Anwendung der Frist
des § 66 Abs. 3 EStG a.F. ausgeschlossener und nicht
festsetzungsverjährter Kindergeldanspruch ist bei der
Günstigerrechnung und der Hinzurechnung nach § 31 Satz 4
EStG nur in Höhe von 0 EUR zu berücksichtigen
(Senatsurteil vom 26.05.2021 - III R
50/19, BFHE 273, 462, BStBl II 2022, 58 = SIS 21 18 61). Dem Steuerpflichtigen verbleibt mithin
der Kinderfreibetrag und der Freibetrag für den Betreuungs-,
Erziehungs- und Ausbildungsbedarf, ohne dass die tarifliche
Einkommensteuer um den Anspruch auf nicht ausgezahltes Kindergeld
erhöht würde.
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b) Die Verfassungsmäßigkeit des
§ 70 Abs. 1 Satz 2 EStG ist ebenso zu bejahen wie die
Verfassungsmäßigkeit des durch ihn ersetzten § 66
Abs. 3 EStG a.F..
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§ 70 Abs. 1 Satz 2 EStG beschränkt
die rückwirkende Auszahlung von festgesetztem Kindergeld auf
die letzten sechs Monate vor Beginn des Monats, in dem der Antrag
auf Kindergeld eingegangen ist; die Festsetzung des Kindergelds
bleibt durch die Ausschlussfrist unberührt (zu den
Einzelheiten s. HHR/ Wendl, § 70 EStG Rz 7).
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aa) § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG bewirkt
ebenso wie die außer Kraft gesetzte Vorschrift des § 66
Abs. 3 EStG a.F., dass Steuerpflichtige nur Kindergeld erhalten,
das sie innerhalb von sechs Monaten nach Entstehung des Anspruchs
beantragt haben. Insoweit ist unerheblich, dass § 66 Abs. 3
EStG a.F. nach zutreffender Auslegung bereits der Festsetzung zuvor
entstandener Kindergeldansprüche entgegenstand, während
§ 70 Abs. 1 Satz 2 EStG dem Erhebungsverfahren zuzuordnen ist
und lediglich ein spezialgesetzliches Auszahlungshindernis
begründet.
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Soweit das Kindergeld der Förderung der
Familie dient (§ 31 Satz 2 EStG), ist die dem
Steuerpflichtigen vom Gesetzgeber durch § 70 Abs. 1 Satz 2
EStG auferlegte Obliegenheit, Kindergeld innerhalb von sechs
Monaten nach Entstehung des Anspruchs zu beantragen, nach den
Grundsätzen des Senatsurteils in BFH/NV 2021, 449 = SIS 21 01 97 ebenso wenig zu beanstanden wie die sich zuvor aus § 66
Abs. 3 EStG a.F. ergebende Obliegenheit.
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bb) Die von der Klägerin vorgetragenen
verfassungsrechtlichen Zweifel sind für den vorliegenden
Rechtsstreit unerheblich. Denn sie beziehen sich nicht auf die sich
aus dem streitigen Abrechnungsbescheid ergebende Beschränkung
der Auszahlung rückwirkend festgesetzten Kindergelds nach
§ 70 Abs. 1 Satz 2 EStG, sondern auf die Freibeträge
für Kinder nach § 32 Abs. 6 EStG und die
Berücksichtigung nicht ausgezahlten Kindergelds bei der
Günstigerprüfung nach § 31 EStG, worüber im
Rahmen der Einkommensteuerveranlagung der Klägerin zu streiten
wäre (vgl. Senatsurteil in BFH/NV 2021, 449 = SIS 21 01 97, Rz
15).
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cc) Der Senat weist darauf hin, dass sich im
Übrigen auch durch das Zusammenspiel von § 70 Abs. 1 Satz
2 und § 31 EStG bei der Einkommensteuerveranlagung kein
Verstoß gegen das Gebot der Steuerfreistellung des
Existenzminimums des Kindes ergeben kann. Denn insoweit war nach
früherer Rechtslage § 31 Satz 4 EStG verfassungskonform
dahin auszulegen, dass wegen § 66 Abs. 3 EStG a.F. nicht
festgesetztes oder nicht gezahltes Kindergeld bei der
Günstigerprüfung nur in Höhe von 0 EUR
berücksichtigt wird. Das gilt entsprechend auch für
Kindergeld, das wegen § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG nicht ausgezahlt
wird.
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Soweit ein festgesetzter und aufgrund des
§ 70 Abs. 1 Satz 2 EStG nicht ausgezahlter Anspruch auf
Kindergeld nach der erstmals im Veranlagungszeitraum 2019
anzuwendenden Regelung des § 31 Satz 5 EStG bei der
Prüfung der Steuerfreistellung und der Hinzurechnung nach
§ 31 Satz 4 EStG unberücksichtigt bleibt, ist diese klare
und ausdrückliche gesetzliche Regelung für die
Kindergeldberechtigten noch rechtssicherer und damit günstiger
als die nach dem Senatsurteil in BFHE 273, 462, BStBl II 2022, 58 =
SIS 21 18 61 ansonsten erforderliche verfassungskonforme Auslegung
des § 31 Satz 4 EStG.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf §
135 Abs. 2 FGO.
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