Auf die Revision des Klägers werden das
Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 22.4.2015 12 K
12140/13 und die Einspruchsentscheidungen der Beklagten vom
7.6.2013 sowie ihre Ablehnungsbescheide vom 1.2.2013
aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, Kindergeld
für die Tochter des Klägers für den Zeitraum
März 2010 bis April 2012 und den Sohn des Klägers
für Januar 2011 bis April 2012 festzusetzen.
Die Kosten des gesamten Verfahrens hat die Beklagte zu tragen.
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I. Der Kläger und Revisionskläger
(Kläger) ist bulgarischer Staatsbürger und wohnt seit dem
18.3.2010 mit seiner im Januar 2004 geborenen Tochter (T) in D,
für die er im November 2010 bei der Beklagten und
Revisionsbeklagten (Familienkasse) die Gewährung von
Kindergeld beantragte. Im Antragsformular teilte er mit, er sei
weder unselbständig noch selbständig erwerbstätig
und auch nicht in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland)
sozialversichert. Die Familienkasse erbat daraufhin vom Kläger
ohne Erfolg die Vorlage weiterer Unterlagen sowie die Auskunft,
wovon er seit seiner Einreise seinen Lebensunterhalt
bestreite.
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Im Januar 2011 wurde der Sohn (S) des
Klägers geboren, für den er im Februar 2011 ebenfalls
Kindergeld beantragte. Auf eine erneute Nachfrage der Familienkasse
teilte die Ehefrau des Klägers im März 2011 mit, dass
ihre Schwiegermutter für den Unterhalt der Familie sorge. Die
Schwiegermutter betreibe ein Gewerbe als Raumpflegerin. Der
Kläger, sie - seine Ehefrau -, die beiden Kinder sowie die
Mutter des Klägers wohnten zu fünft in einer
Einzimmerwohnung mit ca. 37 qm Wohnfläche, deren Hauptmieterin
die Mutter des Klägers sei.
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Am 22.5.2012 erhielt der Kläger eine
Freizügigkeitsbescheinigung gemäß § 5 des
Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von
Unionsbürgern a.F. (FreizügG/EU). Die Familienkasse
setzte daraufhin für beide Kinder Kindergeld ab Mai 2012 fest
und lehnte zugleich den Antrag für die Tochter für den
Zeitraum März 2010 bis April 2012 und für den Sohn von
Januar 2011 bis April 2012 unter Hinweis auf die seinerzeit noch
fehlende Freizügigkeitsbescheinigung ab.
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Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg.
Das Finanzgericht (FG) entschied, ein etwaiges Recht auf
Freizügigkeit bestehe unabhängig von der Erteilung einer
entsprechenden Bescheinigung gemäß § 5 Abs. 1
FreizügG/EU (EFG 2015, 1457 = SIS 15 17 52). Die Bescheinigung
wirke lediglich deklaratorisch, da sich das
Freizügigkeitsrecht unmittelbar aus Gemeinschaftsrecht ergebe.
§ 13 FreizügG/EU i.V.m. den besonderen Bedingungen in der
Übergangsphase bis zum 31.12.2013 für Staatsbürger
der beitretenden Staaten Bulgarien und Rumänien
beschränke das Freizügigkeitsrecht nur für
Arbeitnehmer (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU). Ein
Freizügigkeitsrecht könne deshalb auch in der
Übergangsphase auf einen der in § 2 Abs. 2 Nrn. 2 bis 7
FreizügG/EU genannten Tatbestände gestützt werden.
Dazu habe der Kläger aber nichts vorgetragen und damit seine
Mitwirkungspflicht verletzt. Als nicht erwerbstätiger
Unionsbürger wäre er gemäß § 4
FreizügG/EU nur unter der weiteren Voraussetzung ausreichenden
Krankenversicherungsschutzes und ausreichender Existenzmittel
freizügigkeitsberechtigt gewesen. Das Freizügigkeitsrecht
eines Unionsbürgers könne im Rahmen der Prüfung der
Voraussetzungen für den Kindergeldanspruch auch nicht ohne
weiteres unterstellt werden.
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Zur Begründung seiner Revision
trägt der Kläger vor, das FG-Urteil widerspreche dem
Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 30.1.2013 B 4 AS 54/12 R
(BSGE 113, 60), wonach sich bulgarische Unionsbürger in der
Übergangszeit bis zum 31.12.2013 auf eine europarechtliche
Freizügigkeitsvermutung stützen könnten, die
fortbestehe, bis der Aufnahmestaat durch nationalen Rechtsakt
festgestellt habe, dass Bedingungen i.S. von § 21 des
Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union
(AEUV) nicht erfüllt seien.
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Der Kläger beantragt
sinngemäß, das FG-Urteil sowie die Ablehnungsbescheide
vom 1.2.2013 und die Einspruchsentscheidungen vom 7.6.2013
aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, Kindergeld
für seine Tochter T für den Zeitraum März 2010 bis
April 2012 und für seinen Sohn S für Januar 2011 bis
April 2012 festzusetzen.
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Die Familienkasse beantragt, die Revision
zurückzuweisen.
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Sie trägt vor, bei
Staatsangehörigen der Staaten der Europäischen Union (EU)
sei grundsätzlich von der Freizügigkeitsberechtigung
auszugehen. Bei Zweifeln am Vorliegen der Voraussetzungen der
Freizügigkeitsberechtigung seien diese jedoch unabhängig
davon zu prüfen, ob die Ausländerbehörde die
Freizügigkeit nach § 6 FreizügG/EU aberkannt
habe.
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II. Die Revision ist begründet; sie
führt zur Aufhebung des FG-Urteils und zur Stattgabe der Klage
(§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -
). Das FG hat zu Unrecht entschieden, dass der Kläger vor
Erteilung der Freizügigkeitsbescheinigung als nicht
freizügigkeitsberechtigt zu behandeln war und daher wegen
§ 62 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) kein Kindergeld
beanspruchen kann.
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1. Der Kläger erfüllt - abgesehen
von der Freizügigkeitsberechtigung - unstreitig die
Voraussetzungen für die Festsetzung von Kindergeld für
seine beiden Kinder: Er hat mit seinen beiden Kindern einen
gemeinsamen Wohnsitz im Inland (§ 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und
§ 63 Abs. 1 EStG) und er ist aufgrund der Zustimmung seiner
Ehefrau der berechtigte Elternteil (§ 64 Abs. 2 EStG).
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2. Der Kläger ist - entgegen der
Auffassung des FG - auch freizügigkeitsberechtigter
Ausländer und unterliegt deshalb nicht den
Einschränkungen des § 62 Abs. 2 EStG.
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a) Das FG ist zutreffend davon ausgegangen,
dass der Kläger als bulgarischer Staatsbürger im
Streitzeitraum innerhalb der EU freizügigkeitsberechtigt war.
Es hat weiter zutreffend erkannt, dass die Bundesregierung in
Übereinstimmung mit Art. 1 Abs. 3 des Vertrages zwischen den
Mitgliedstaaten der Europäischen Union und der Republik
Bulgarien und Rumänien (Amtsblatt der Europäischen Union
vom 21.6.2005, Nr. L 157, S. 11) und abweichend von den Art. 1 bis
6 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15.10.1968
über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der
Gemeinschaft für den Zeitraum bis zum 31.12.2013 eine
Beschäftigung von bulgarischen und rumänischen
Staatsangehörigen nach § 284 des Dritten Buchs
Sozialgesetzbuch (SGB III) von einer Genehmigung der Bundesagentur
für Arbeit abhängig gemacht hat. Dem trägt § 13
FreizügG/EU Rechnung, wonach das FreizügG/EU für
diesen Zeitraum Anwendung finden soll, wenn die Beschäftigung
durch die Bundesagentur für Arbeit gemäß § 284
Abs. 1 SGB III genehmigt wurde.
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b) Diese Einschränkung bewirkt aber
nicht, dass ein Unionsbürger bei fehlender arbeitsrechtlicher
Genehmigung als nicht freizügigkeitsberechtigter
Ausländer zu behandeln ist. Denn jeder Unionsbürger hat
das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich
der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften
vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen
und aufzuhalten.
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Für Angehörige eines
Mitgliedsstaates gilt gemäß Art. 21 Abs. 1 AEUV ein von
der Arbeitnehmer-Freizügigkeit unabhängiges
Freizügigkeitsrecht, das allein aus der
Unionsbürgerschaft folgt und aus dem sich ein Aufenthaltsrecht
ergibt. Dieses unmittelbar anwendbare subjektiv-öffentliche
Recht steht den Unionsbürgern, und zwar auch den
Angehörigen der Beitrittsstaaten, die hinsichtlich des
Zuganges zum Arbeitsmarkt Beschränkungen unterlagen,
unabhängig vom Zweck seiner Inanspruchnahme zu
(Senatsbeschluss vom 27.4.2015 III B 127/14, BFHE 249, 519, BStBl
II 2015, 901 = SIS 15 16 01). Das Aufenthaltsrecht entfällt
auch bei Angehörigen der zum 1.1.2007 beigetretenen
Mitgliedstaaten Bulgarien und Rumänien allein durch einen
Verwaltungsakt nach § 5 Abs. 5, § 6 und § 7
FreizügG/EU (BSG-Urteil in BSGE 113, 60, Rz 20, betreffend
Sozialhilfe für Schwangere; Siegers, HFR 2015, 953; Hartmann,
Der Ertrag-Steuer-Berater 2015, 358).
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Die gemeinschaftsrechtliche Freizügigkeit
besteht zudem auch nach deutschem Recht nicht nur für
Arbeitnehmer, die einer Genehmigung bedürfen (§ 2 Abs. 2
Nr. 1, § 13 FreizügG/EU i.V.m. § 284 SGB III),
sondern nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 ff. FreizügG/EU auch
für niedergelassene selbständige Erwerbstätige,
Empfänger von Dienstleistungen, Familienangehörige usw.
Die förmliche Feststellung der fehlenden Freizügigkeit
obliegt dabei allein den Ausländerbehörden und den
Verwaltungsgerichten, nicht jedoch den Familienkassen. Erst nach
einer Feststellung des Nichtbestehens oder des Verlustes des Rechts
nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU fände gemäß
§ 11 Abs. 2 FreizügG/EU das Aufenthaltsgesetz Anwendung,
so dass der Unionsbürger einen Aufenthaltstitel nach dem
Aufenthaltsgesetz benötigt, will er sich weiterhin legal in
Deutschland aufhalten und Kindergeld beanspruchen (§ 62 Abs. 2
EStG). An einer derartigen Entscheidung der
Ausländerbehörde fehlte es hier.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf §
143 Abs. 1, § 135 Abs. 1 FGO.
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