1
|
I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte
(Klägerin) ist die Mutter eines im Jahr 1995 geborenen Sohnes
(S). Sie ist deutsche Staatsangehörige und übt in
Deutschland eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung
aus. Das zuständige Finanzamt behandelte sie im Streitzeitraum
gemäß § 1 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG)
als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig.
|
|
|
2
|
Der Ehemann der Klägerin und
Kindsvater ist Belgier. Er arbeitete seit November 2006 bei einer
belgischen Zeitarbeitsfirma, zuvor war er arbeitslos gewesen. Die
Familie lebte zunächst in Deutschland, zog dann aber im Juni
2006 nach Belgien und hat seitdem dort ihren Wohnsitz.
|
|
|
3
|
Für ihren Sohn bezog die Klägerin
fortlaufend in Deutschland Kindergeld. Ihr Ehemann hatte in Belgien
kein Kindergeld beantragt und deswegen auch kein Kindergeld
erhalten. Als die Beklagte und Revisionsklägerin
(Familienkasse) vom Umzug der Familie nach Belgien erfuhr, hob sie
die Kindergeldfestsetzung mit Wirkung ab Juli 2006 auf und forderte
das für den Zeitraum von Juli 2006 bis März 2007 gezahlte
Kindergeld zurück.
|
|
|
4
|
Der Einspruch der Klägerin war
teilweise erfolgreich. Die Familienkasse war der Auffassung, dass
der Klägerin für den Streitzeitraum von Juli 2006 bis
März 2007 ein Kindergeldanspruch nach dem EStG zustehe.
Zugleich bestehe aber auch ein Kindergeldanspruch in Belgien.
Dieser betrage von Juli bis September 2006 monatlich 77,05 EUR und
von Oktober 2006 bis März 2007 monatlich 78,59 EUR. Die
Konkurrenz zwischen den Kindergeldansprüchen verschiedener
Mitgliedstaaten werde durch die Art. 76 bis 79 der Verordnung (EWG)
Nr. 1408/71 des Rates vom 14.6.1971 zur Anwendung der Systeme der
sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie
deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu-
und abwandern (VO Nr. 1408/71), in ihrer durch die Verordnung (EG)
Nr. 118/97 des Rates vom 2.12.1996 - VO Nr. 118/97 - (Amtsblatt der
Europäischen Gemeinschaften - ABlEG - 1997 Nr. L 28, S. 1)
geänderten und aktualisierten Fassung, und den Art. 10 der
Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21.3.1972 über die
Durchführung der VO Nr. 1408/71 (VO Nr. 574/72), in ihrer
durch die VO Nr. 118/97 geänderten und aktualisierten Fassung,
aufgelöst. Nach diesen Vorschriften werde der deutsche
Kindergeldanspruch in Höhe der ausländischen
Familienleistung ausgesetzt und es könne nur der
Differenzbetrag ausgezahlt werden. Dass die in Belgien vorgesehenen
Familienleistungen nicht beantragt worden seien, sei nach Art. 76
Abs. 2 der VO Nr. 1408/71 unschädlich. Diese Regelung solle
gerade verhindern, dass das Zuständigkeitssystem der VO Nr.
1408/71 durch den Verzicht auf die Antragstellung umgangen
werde.
|
|
|
5
|
Das von der Klägerin angerufene
Finanzgericht (FG) erachtete den Aufhebungs- und
Rückforderungsbescheid als rechtswidrig. Zwar seien nach den
maßgeblichen Regelungen die tatbestandlichen Voraussetzungen
für eine nur anteilige Gewährung des deutschen
Kindergeldes erfüllt. Doch habe die Familienkasse das ihr von
Art. 76 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71 eingeräumte Ermessen nicht
ausgeübt. Diese Vorschrift sei im Streitfall die
einschlägige Antikumulierungsvorschrift, da es um
Ansprüche wegen mehrfacher Erwerbstätigkeit gehe. Die
Rechtsfolge der Anrechnung der - nicht beantragten - belgischen
Familienleistung auf das deutsche Kindergeld sei in Art. 76 Abs. 2
der VO Nr. 1408/71 im Unterschied zu Art. 76 Abs. 1 der VO Nr.
1408/71 in das Ermessen der Behörde gestellt. Es handele sich
entgegen der von der Familienkasse vertretenen Auffassung nicht um
eine gebundene Entscheidung. Behördliche
Ermessensentscheidungen seien nach § 102 Satz 1 der
Finanzgerichtsordnung (FGO) nur eingeschränkt
überprüfbar. Im Streitfall liege ein sog.
Ermessensausfall vor. Die Behörde habe, da sie sich
rechtsfehlerhaft zur Anrechnung der belgischen Familienleistung
verpflichtet gefühlt habe, das ihr zustehende Ermessen nicht
ausgeübt und deswegen rechtswidrig gehandelt.
|
|
|
6
|
Mit ihrer gegen das Urteil des FG
gerichteten Revision macht die Familienkasse weiterhin geltend,
dass Art. 76 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71 nicht als
Ermessensvorschrift im Sinne des deutschen Steuer- und Sozialrechts
zu verstehen sei. In Art. 76 Abs. 1 der VO Nr. 1408/71 sei die
Grundregel zur Auflösung der Konkurrenz von Ansprüchen
auf Familienleistungen festgelegt. In Bezug auf den Streitfall sage
diese Grundregel aus, dass der deutsche Anspruch bis zur Höhe
des im Wohnland Belgien zustehenden Betrags der Familienleistung
für den Fall ruhe, dass in Belgien Leistungen aufgrund einer
Erwerbstätigkeit vorgesehen seien. Dies bedeute, dass
zwar ein Anspruch auf Familienleistungen grundsätzlich
bestehen, dieser aber tatsächlich nicht realisiert sein
müsse. Die Rechtsfolge des Ruhens sei für den Fall eines
nur grundsätzlich bestehenden Anspruchs eindeutig festgelegt.
Nach diesem Verständnis gebe es für die Auslegung des
Verbs „kann“ in Art. 76 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71 als
Ermessensregelung keinen weiter gehenden Sinn. Denn in diesem Fall
würde in Art. 76 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71 erneut eine
Regelung aufgestellt, die bereits von Art. 76 Abs. 1 der VO Nr.
1408/71 erfasst werde, und zwar für den Fall, dass zwar ein
theoretischer Anspruch auf Familienleistungen bestehe, aber kein
Antrag gestellt worden sei. Das Verb „kann“ sei daher
nur so zu verstehen, dass der Mitgliedstaat, dessen Leistung ruhe,
auch in dem Fall, in dem im Wohnland kein Antrag gestellt werde,
nur den auf ihn entfallenden Teil der Familienleistung zu
gewähren brauche. Die Regelung lasse sich auch davon leiten,
dass es aus Gründen der Verteilungsgerechtigkeit nicht sein
könne, dass der Kindergeldberechtigte durch entsprechende
Antragstellung oder Unterlassen derselben festlegen könne,
welcher Mitgliedstaat mit Zahlungen belastet werden solle.
|
|
|
7
|
Die Klägerin hält die
Entscheidung des FG für zutreffend. Sie entnimmt dem Wortlaut
des Art. 76 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71, dass die Anrechnung der
ausländischen Familienleistung in das Ermessen der
Behörde gestellt sei. Der von der Familienkasse
angeführte Umstand, dass es aus Gründen der
Verteilungsgerechtigkeit und des Zuständigkeitssystems nicht
sein könne, dass der Kindergeldberechtigte durch
Antragstellung oder Unterlassen derselben festlegen könne,
welcher Mitgliedstaat belastet werde, sei im Rahmen der
Ermessensentscheidung zu berücksichtigen.
|
|
|
8
|
II. Der Senat setzt das Revisionsverfahren
gemäß § 121 i.V.m. § 74 FGO aus und legt dem
Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) gemäß
Art. 267 Satz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der
Europäischen Union die im Leitsatz bezeichneten Fragen zur
Vorabentscheidung vor.
|
|
|
9
|
1. Die Entscheidung des Streitfalles
hängt von der Beantwortung der vorgelegten Fragen ab.
|
|
|
10
|
a) Sind für ein und denselben Zeitraum
für ein und denselben Familienangehörigen in den
Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet die
Familienangehörigen wohnen, Familienleistungen aufgrund der
Ausübung einer Erwerbstätigkeit vorgesehen, so ruht nach
Art. 76 Abs. 1 der VO Nr. 1408/71 der Anspruch auf die nach den
Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats gegebenenfalls
gemäß Art. 73 bzw. 74 der VO Nr. 1408/71 geschuldeten
Familienleistungen bis zu dem in den Rechtsvorschriften des ersten
Mitgliedstaats vorgesehenen Betrag. Wird in dem Mitgliedstaat, in
dessen Gebiet die Familienangehörigen wohnen, kein Antrag auf
Leistungsgewährung gestellt, so kann der zuständige
Träger des anderen Mitgliedstaats Art. 76 Abs. 1 der VO Nr.
1408/71 anwenden, als ob Leistungen in dem ersten Mitgliedstaat
gewährt würden (Art. 76 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71).
|
|
|
11
|
b) Zwischen den Beteiligten besteht zu Recht
kein Streit darüber, dass vorliegend die in Art. 76 der VO Nr.
1408/71 niedergelegten Prioritätsregeln für den Fall der
Kumulierung von Ansprüchen auf Familienleistungen zur
Anwendung kommen. Die VO Nr. 1408/71 wurde zwar ersetzt durch die
Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und
des Rates vom 29.4.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen
Sicherheit - VO Nr. 883/2004 - (Amtsblatt der Europäischen
Union - ABlEU - 2004 Nr. L 166, S. 1). Letztere gilt jedoch nach
ihrem Art. 91 Satz 2 erst ab dem Tag des Inkrafttretens der zu
ihrer Durchführung erlassenen Verordnung. Diese - die
Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und
des Rates vom 16.9.2009 zur Festlegung der Modalitäten
für die Durchführung der VO Nr. 883/2004 - VO Nr.
987/2009 - (ABlEU 2009 Nr. L 284, S. 1) - trat nach ihrem Art. 97
Satz 2 erst am 1.5.2010 in Kraft. Die VO Nr. 574/72 wurde nach Art.
96 Abs. 1 der VO Nr. 987/2009 erst mit Wirkung vom 1.5.2010
aufgehoben. Für den Streitfall gelten demnach noch die VO Nr.
1408/71 und die hierzu ergangene VO Nr. 574/72.
|
|
|
12
|
aa) Die in der gesetzlichen Sozialversicherung
pflichtversicherte Klägerin war in der fraglichen Zeit in
Deutschland als Arbeitnehmerin abhängig beschäftigt.
Gemäß Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der VO Nr. 1408/71
unterlag sie damit, ungeachtet ihres Wohnsitzes in Belgien, den
deutschen Rechtsvorschriften. Deutschland als
Beschäftigungsmitgliedstaat war damit für die
Gewährung des Kindergeldes zuständig. Nach deutschem
Recht hat auch ein Anspruch auf Kindergeld im Streitzeitraum
bestanden.
|
|
|
13
|
bb) Nach den den Bundesfinanzhof (BFH)
bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) waren in
Belgien als dem Wohnmitgliedstaat der Familienangehörigen
aufgrund der Erwerbstätigkeit und der vorherigen
Arbeitslosigkeit des Kindsvaters (zum Begriff der
Erwerbstätigkeit i.S. des Art. 76 der VO Nr. 1408/71 vgl.
Beschluss Nr. 207 der Verwaltungskommission der Europäischen
Gemeinschaften für die soziale Sicherheit der
Wanderarbeitnehmer vom 7.4.2006 zur Auslegung des Art. 76 und des
Art. 79 Abs. 3 der VO Nr. 1408/71 sowie des Art. 10 Abs. 1 der VO
Nr. 574/72 bezüglich des Zusammentreffens von
Familienleistungen oder -beihilfen, ABlEU 2006 Nr. L 175, S. 83)
Familienleistungen vorgesehen. Der Vater hatte allerdings keinen
Antrag auf Leistungsgewährung gestellt, so dass die
tatbestandlichen Voraussetzungen für die Anwendung des Art. 76
Abs. 2 der VO Nr. 1408/71 gegeben sind.
|
|
|
14
|
cc) Wenn es sich bei Art. 76 Abs. 2 der VO Nr.
1408/71 um eine gemeinschaftsrechtliche Ermessensnorm handelt, dann
hängt der Erfolg der Anfechtungsklage davon ab, ob dem
zuständigen Träger im vorliegenden Fall ein vom
nationalen Gericht kontrollierbarer Fehler bei der Anwendung dieser
Norm unterlaufen ist.
|
|
|
15
|
2. Zur ersten Vorlagefrage
|
|
|
|
Nach Auffassung des Senats wird dem
zuständigen Träger des Beschäftigungsmitgliedstaats
durch Art. 76 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71 ein Ermessen
eingeräumt, ob er bei unterbliebener Antragstellung im
Wohnmitgliedstaat der Familienangehörigen Art. 76 Abs. 1 der
VO Nr. 1408/71 anwendet und so den bei ihm bestehenden Anspruch
ganz oder teilweise zum Ruhen bringt.
|
|
|
16
|
a) Entgegen der Auffassung der Familienkasse
bestimmt sich die Priorität bei unterbliebener Antragstellung
nach der Regelung des Art. 76 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71. Mit dem
Begriff der „vorgesehenen“ Leistungen in Art. 76
Abs. 1 der VO Nr. 1408/71 wird der Fall der nicht beantragten
Leistungen nicht erfasst. Absatz 2 stellt gegenüber Absatz 1
des Art. 76 der VO Nr. 1408/71 demnach keine überflüssige
Bestimmung dar. Vielmehr handelt es sich um eine Sonderregelung
für den speziellen Fall der fehlenden Antragstellung (gleicher
Auffassung Trinkl, Die gemeinschaftsrechtliche Koordinierung
deutscher Familienleistungen, 2001, S. 245; Fischer, Die
Sozialgerichtsbarkeit - SGb - 1991, 432, 437). Dies folgt nicht
zuletzt aus der Entstehungsgeschichte der Norm. Der
Gemeinschaftsgesetzgeber reagierte mit der Anfügung des
Absatzes 2 in Art. 76 der VO Nr. 1408/71 gezielt auf die
frühere Rechtsprechung des EuGH (EuGH-Urteile vom 13.11.1984
C-191/83, Salzano, Slg. 1984, 3741; vom 23.4.1986 C-153/84,
Ferraioli, Slg. 1986, 1401, und vom 4.7.1990 C-117/89, Kracht, Slg.
1990, I-2781), wonach bei fehlender Antragstellung im Wohnsitzstaat
der Familie der Kindergeldanspruch im
Beschäftigungsmitgliedstaat nicht ausgesetzt werden durfte
(vgl. Igl in Fuchs, Europäisches Sozialrecht, 4. Aufl. 2005,
Art. 76 Rz 2).
|
|
|
17
|
b) Dass Art. 76 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71 eine
Ermessensnorm darstellt, hat der Senat bereits in seinem
Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache Schwemmer
ausgeführt (BFH-Beschluss vom 30.10.2008 III R 92/07, BFHE
223, 358, BStBl II 2009, 923 = SIS 09 00 46), ohne dass der EuGH in
seinem Urteil noch auf die Rechtsfrage eingehen musste (EuGH-Urteil
vom 14.10.2010 C-16/09, Schwemmer, Slg. 2010, I-9717 = SIS 10 33 42). Nach deutschem Rechtsverständnis wird mit der Verwendung
des Wortes „kann“ in einem Gesetzes- oder
Verordnungstext zwar nicht zwingend zum Ausdruck gebracht, dass der
Verwaltung ein Ermessensspielraum eingeräumt wird (zu
„Kann“-Bestimmungen, die kein Ermessen
einräumen, siehe z.B. BFH-Urteil vom 13.11.1985 II R 208/82,
BFHE 145, 487, BStBl II 1986, 241 = SIS 86 06 49; vgl. auch Seer in
Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 367 AO
Rz 26). So setzt der Gesetz- oder Verordnungsgeber das Wort
„kann“ bisweilen auch lediglich als ein Synonym
für „ist befugt“ oder „ist
ermächtigt“ ein und drückt damit etwa aus, dass
die Exekutive zum Eingriff in Freiheitsgrundrechte berechtigt ist.
Für ein solches Rechtsverständnis fehlen im
Anwendungsbereich des Art. 76 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71 als einer
Prioritätsregelung für konkurrierende Ansprüche
jedoch die Anhaltspunkte. Der Wortlaut der Regelung
(„kann“) deutet daher auf eine
gemeinschaftsrechtliche Ermessensvorschrift hin (gleicher
Auffassung Fischer, SGb 1991, 432, 437; Schulte, SGb 1991, 45, 49;
Becker, SGb 1998, 553, 557; Trinkl, a.a.O., S. 246; Kummer in
Schulte/Zacher, Wechselwirkungen zwischen dem Europäischen
Sozialrecht und dem Sozialrecht der Bundesrepublik Deutschland, S.
217; Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach D,
I. Kommentierung, Stand 3/08, Art. 76 der VO Nr. 1408/71 Rz 21; Igl
in Fuchs, a.a.O., Art. 76 Rz 8). Welche Kriterien für eine
Ermessensausübung relevant sein können, ist zwar
ebenfalls ungeklärt (s. zweite Vorlagefrage). Doch spricht die
Tatsache, dass die Auslegung und Anwendung des Art. 76 der VO Nr.
1408/71 mehrere denkbare Kriterien erkennen lässt (siehe
Ausführungen zur zweiten Vorlagefrage), für eine
Ermessenseinräumung zugunsten der Verwaltung. Ergibt umgekehrt
die Auslegung einer Norm keinerlei Hinweise, wie ein etwaiges
Ermessen auszuüben sein könnte, dann deutet dieser Befund
auf eine gebundene Entscheidung hin (vgl. BFH-Urteil in BFHE 145,
487, BStBl II 1986, 241 = SIS 86 06 49).
|
|
|
18
|
3. Zur zweiten Vorlagefrage
|
|
|
|
Falls Art. 76 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71 dem
zuständigen Träger ein Ermessen einräumt, ob er bei
fehlender Antragstellung im Wohnmitgliedstaat der
Familienangehörigen Art. 76 Abs. 1 der VO Nr. 1408/71 zur
Anwendung bringt, dann ist zu klären, welche
Ermessenserwägungen der Träger anzustellen hat.
|
|
|
19
|
a) So ist zum einen denkbar, dass dem
zuständigen Träger bei der Prüfung der in dem
anderen Mitgliedstaat geltenden Anspruchsvoraussetzungen ein
Ermessen im Sinne eines Beurteilungsspielraumes zukommt (in diesem
Sinne z.B. Trinkl, a.a.O., S. 246, m.w.N.; zum
gemeinschaftsrechtlichen Ermessensbegriff und der Rechtsprechung
des EuGH vgl. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, 2.
Aufl. 2005, S. 280 ff.). So kann es beispielsweise für den
zuständigen Träger nicht sicher aufklärbar sein, ob
das Recht des anderen Mitgliedstaats im konkreten Fall
überhaupt eine Familienleistung - und deren etwaige Höhe
- vorsieht. Eine solche Situation könnte etwa eintreten, wenn
der zuständige Träger des anderen Mitgliedstaats die
unter Verwendung des vorgesehenen Vordrucks E 411 gestellte Anfrage
(vgl. Beschluss Nr. 147 der Verwaltungskommission der
Europäischen Gemeinschaften für die soziale Sicherheit
der Wanderarbeitnehmer vom 10.10.1990 zur Durchführung des
Art. 76 der VO Nr. 1408/71, ABlEG 1991 Nr. L 235, S. 21) nicht oder
nicht vollständig beantwortet.
|
|
|
20
|
b) Zum anderen könnte Ermessen auch in
denkbaren Härtefällen, wie z.B. bei aus unverschuldeter
Rechtsunkenntnis unterbliebener Antragstellung oder bei in
Schädigungsabsicht erfolgter Nichtbeantragung von Leistungen
durch einen geschiedenen Elternteil (vgl. BFH-Beschluss in BFHE
223, 358, BStBl II 2009, 923 = SIS 09 00 46), auszuüben
sein.
|
|
|
21
|
c) Schließlich könnte bei der
Ermessensausübung zu würdigen sein, dass ein vom Willen
der Berechtigten abhängiges Wahlrecht, Leistungen des einen
oder des anderen Mitgliedstaats in Anspruch zu nehmen, nicht
anzuerkennen ist und folglich der Gesichtspunkt der gerechten
Lastenverteilung zwischen den Mitgliedstaaten das Ruhen des
Kindergeldanspruchs im Beschäftigungsmitgliedstaat
regelmäßig gebieten könnte. Wenn der objektive
Gesichtspunkt der gerechten Lastenverteilung zwischen den
Mitgliedstaaten vorrangig die Ermessensausübung zu bestimmen
hätte, dann wäre der individuelle Grund für die
Nichtbeantragung der Leistungen im Wohnmitgliedstaat der Familie
grundsätzlich unbeachtlich (vgl. BFH-Beschluss in BFHE 223,
358, BStBl II 2009, 923 = SIS 09 00 46).
|
|
|
22
|
Der Senat erblickt in den Gesichtspunkten der
gerechten Lastenverteilung und des Verbots eines Wahlrechts des
Beschäftigten, die Leistungen des einen oder des anderen
Mitgliedstaats nach Belieben in Anspruch zu nehmen, die
wesentlichen Umstände, an denen sich die zuständigen
Träger bei der Ausübung ihres Ermessens zu orientieren
haben.
|
|
|
23
|
4. Zur dritten Vorlagefrage
|
|
|
|
Falls Art. 76 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71 dem
zuständigen Träger ein Ermessen einräumt, stellt
sich schließlich die Frage nach der Reichweite der
richterlichen Prüfungskompetenz. Der EuGH hat zur
Ausübung des Ermessens durch Unionsorgane judiziert, dass die
Ermessensbetätigung der Kontrolle des Gemeinschaftsrichters
nicht entzogen ist. Der Richter hat im Rahmen dieser Kontrolle
festzustellen, ob die Verfahrensvorschriften eingehalten worden
sind, ob der Sachverhalt zutreffend festgestellt worden ist und ob
keine offensichtlich fehlerhafte Würdigung dieses Sachverhalts
und kein Ermessensmissbrauch (Ermessensfehler) vorliegen (z.B.
EuGH-Urteile vom 18.7.2007 C-326/05 P, Industrias Quimicas del
Vallés, Slg. 2007, I-6557; vom 22.10.1991 C-16/90,
Nölle, Slg. 1991, I-5163). Es fragt sich, ob diese
Grundsätze auch im europäischen Sozialrecht gelten und
insbesondere auf die gerichtliche Überprüfung einer vom
zuständigen Träger gemäß Art. 76 Abs. 2 der VO
Nr. 1408/71 getroffenen Ermessensentscheidung zu übertragen
sind. Nach Auffassung des Senats verfügt der zuständige
Träger zwar grundsätzlich über ein weites Ermessen
(vgl. EuGH-Urteil vom 19.6.1980 C-41/79, Testa, Slg. 1980, 1979, zu
Art. 69 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71), doch liegt ein vom nationalen
Gericht zu beanstandender Ermessensfehler jedenfalls dann vor, wenn
der Träger sein ihm vom Gemeinschaftsrecht eingeräumtes
Ermessen gar nicht ausübt, weil er sich rechtsfehlerhaft zu
einer gebundenen Entscheidung verpflichtet fühlt.
|