Kindergeld, Kürzung wegen ausländischer Leistungen, EuGH-Vorlage: 1. Ist die Regelung in Art. 76 Abs. 2 VO Nr. 1408/71 entsprechend auf Art. 10 Buchst. a VO Nr. 574/72 anzuwenden in Fällen, in denen der anspruchsberechtigte Elternteil die ihm im Beschäftigungsland zustehenden Familienleistungen nicht beantragt? - 2. Für den Fall, dass Art. 76 Abs. 2 VO Nr. 1408/71 entsprechend anwendbar ist: Aufgrund welcher Ermessenserwägungen kann der für Familienleistungen zuständige Träger des Wohnlandes Art. 10 Buchst. a VO Nr. 574/72 anwenden, als ob Leistungen im Beschäftigungsland gewährt würden? Kann das Ermessen, den Erhalt von Familienleistungen im Beschäftigungsland zu unterstellen, eingeschränkt sein, wenn der Anspruchsberechtigte im Beschäftigungsland die ihm zustehenden Familienleistungen bewusst nicht beantragt, um der Kindergeldberechtigten im Wohnland zu schaden? - Urt.; BFH 30.10.2008, III R 92/07; SIS 09 00 46
I. Die Klägerin und
Revisionsklägerin (Klägerin) wohnt mit zwei ihrer 1992
und 1995 geborenen Kinder in Deutschland. Sie begann 2005 eine
selbständige Tätigkeit im Rahmen von Hausverwaltungen,
Hausmeister- und Reinigungsdiensten. Ab Mai 2006 war sie
geringfügig bei einer Firma beschäftigt. Die
Klägerin entrichtete im streitigen Zeitraum freiwillig
Beiträge zur Deutschen Rentenversicherung (DRV) sowie
Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung bei der Deutschen
Angestelltenkrankenkasse (DAK). Der Vater der Kinder, von dem die
Klägerin seit 1997 geschieden ist, arbeitet in der Schweiz.
Die ihm nach Schweizer Recht zustehenden Familienleistungen von
109,75 EUR je Kind beantragte er nicht.
Durch Bescheid vom 21.3.2006 setzte die
Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) für die beiden
Kinder ab Januar 2006 Kindergeld nur in Höhe eines
Teilbetrages von 44,25 EUR je Kind fest, soweit das deutsche
Kindergeld von 154 EUR die in der Schweiz dem Vater zustehende
Familienleistung von 109,75 EUR je Kind überstieg.
Die Familienkasse und das Finanzgericht
(FG) sind der Auffassung, maßgebend für die Höhe
des Kindergeldanspruchs der Klägerin seien die
Konkurrenzregeln der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom
14.6.1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf
Arbeitnehmer, Selbständige sowie deren
Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und
abwandern (VO Nr. 1408/71) sowie der dazu ergangenen Verordnung
(EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21.3.1972 über die
Durchführung der VO Nr. 1408/71 (VO Nr. 574/72), jeweils in
der geänderten und aktualisierten Fassung. Da die
Klägerin keine Berufstätigkeit i.S. des Art. 10 Abs. 1
Buchst. b i VO Nr. 574/72 ausgeübt habe, sei nach Art. 10 Abs.
1 Buchst. a VO Nr. 574/72 der Anspruch auf Familienleistungen in
der Schweiz gegenüber dem deutschen Kindergeldanspruch
vorrangig. Darauf, ob die Familienleistungen in der Schweiz
tatsächlich in Anspruch genommen würden, komme es nach
dem entsprechend anwendbaren Art. 76 Abs. 2 VO Nr. 1408/71 nicht
an. Das eingeräumte Ermessen könne nur so interpretiert
werden, dass lediglich in begründeten Ausnahmefällen
anzunehmen sei, dass im Beschäftigungsland keine
Familienleistungen gewährt würden mit der Folge, dass das
Wohnland die Familienleistung in vollem Umfang zu erbringen habe
(vgl. SIS 08 13 03).
Die Klägerin wendet dagegen ein, ihr
stehe schon aufgrund ihrer Erwerbstätigkeit in Deutschland das
volle Kindergeld zu. Die Familienkasse und das FG hätten den
Begriff der Erwerbstätigkeit zu eng ausgelegt.
Geringfügig Beschäftigte seien versicherungspflichtigen
Arbeitnehmern gleichzustellen. Zwar würden bei einem
„versicherungsfreien“ Minijob keine Sozialabgaben vom
Bruttolohn einbehalten. Aber ihr Arbeitgeber habe zusätzlich
zum Bruttolohn 13 % Krankenversicherungsbeitrag, 15 %
Rentenversicherungsbeitrag und 2 % Pauschsteuer sowie Umlagen
für Krankheitsaufwendungen und Mutterschaftsaufwendungen
abführen müssen. Der geringfügig beschäftigte
Arbeitnehmer sei somit ebenfalls versicherungspflichtig.
Unabhängig davon stehe ihr das Kindergeld auch deshalb in
voller Höhe zu, weil der Vater der Kinder in der Schweiz
bewusst keinen Antrag auf Familienleistungen stelle, um ihr zu
schaden. Der Fall, dass der Vater in dem zuständigen
Beschäftigungsland Kindergeld absichtlich nicht beantrage, sei
in Art. 10 Abs. 1 VO Nr. 574/72 nicht geregelt. Insoweit liege eine
offensichtliche Regelungslücke vor, die durch eine analoge
Anwendung des Art. 76 Abs. 2 VO Nr. 1408/71 zu schließen sei.
Das Ermessen sei im Streitfall in der Weise auszuüben, dass
das Kindergeld im Wohnland in voller Höhe auszuzahlen
sei.
II. Der Senat setzt das Revisionsverfahren
gemäß § 121 i.V.m. § 74 der
Finanzgerichtsordnung (FGO) aus und legt dem Gerichtshof der
Europäischen Gemeinschaften (EuGH) gemäß Art. 234
des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft
die im Tenor bezeichneten Fragen zur Vorabentscheidung vor.
1. Die Entscheidung des Streitfalles
hängt von der Beantwortung der vorgelegten Fragen ab.
Nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. a VO Nr. 574/72
steht der Klägerin das Kindergeld im Wohnland Deutschland
ungekürzt zu, weil in dem an sich vorrangigen
Beschäftigungsland mangels Antrags des Vaters keine
Familienleistungen geschuldet werden. Ist jedoch Art. 76 Abs. 2 VO
Nr. 1408/71 entsprechend anwendbar, kann die Familienkasse Art. 10
Abs. 1 Buchst. a VO Nr. 574/72 anwenden, als ob Leistungen im
Beschäftigungsland Schweiz gewährt würden, mit der
Folge, dass sie deutsches Kindergeld nur zu zahlen braucht, soweit
es höher als die Familienleistungen in der Schweiz ist. Da
Art. 76 Abs. 2 VO Nr. 1408/71 eine Ermessensentscheidung ist
(„kann“), kommt es bei dessen entsprechender
Anwendung weiter darauf an, welche Ermessenserwägungen
anzustellen sind und welche Ermessenserwägungen es
rechtfertigen, die Leistung nicht beantragter Familienleistungen im
Beschäftigungsland zu unterstellen.
2. Der EuGH ist für die Beantwortung der
vorgelegten Fragen zuständig. Denn die Vorlage betrifft die
Auslegung der VO Nr. 1408/71 und der VO Nr. 574/72 und damit die
Auslegung von Gemeinschaftsrecht. Unerheblich ist, dass das
Gemeinschaftsrecht im Verhältnis zur Schweiz nur aufgrund des
Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren
Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen
Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit vom
21.6.1999 (BGBl II 2001, 811) gilt (Anhang II, BGBl II 2001, 822),
das am 2.9.2001 als Gesetz beschlossen worden (BGBl II 2001, 810)
und am 1.6.2002 (BGBl II 2002, 1692) in Kraft getreten ist. Denn es
besteht ein klares Interesse der Gemeinschaft daran, dass die
Vorschriften unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen
sie angewendet werden sollen, einheitlich ausgelegt werden, um in
der Zukunft voneinander abweichende Auslegungen zu verhindern (vgl.
EuGH-Urteil vom 16.6.1998 C-53/96, Slg. 1998, I-3603, Rz 32,
m.w.N.; Streinz/Ehricke, EUV/EGV, Art. 234 Rz 15).
3. Sowohl die Klägerin als auch der Vater
der Kinder haben Anspruch auf Familienleistungen.
a) Der Klägerin steht für ihre
minderjährigen Kinder in Deutschland Kindergeld zu, da sie
hier ihren Wohnsitz hat und die Kinder in ihrem Haushalt leben
(§ 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 i.V.m. § 32 Abs. 1
Nr. 1, Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes - EStG - ).
b) Der Vater, der in der Schweiz
beschäftigt ist und wahrscheinlich dort auch seinen Wohnsitz
hat, hat Anspruch auf Familienleistungen nach Schweizer Recht. Die
kantonalen Kinder- und Ausbildungszulagen in der Schweiz
gehören - ebenso wie das deutsche Kindergeld - zu den
Familienleistungen i.S. des Art. 1 Buchst. u VO Nr. 1408/71
(Senatsurteil vom 24.3.2006 III R 41/05, BFHE 212, 551, BStBl II
2008, 369 = SIS 06 26 73, m.w.N.).
4. Bestehen sowohl im Wohnland als auch im
Beschäftigungsland Ansprüche auf Familienleistungen, ist
nach den Bestimmungen der VO Nr. 1408/71 und der VO Nr. 574/72 zu
entscheiden, welche Leistungen vorrangig sind.
Hängt der Anspruch auf Kindergeld im
Wohnland der Kinder - wie in Deutschland - nicht von einer
Versicherung, Beschäftigung oder selbständigen
Tätigkeit ab, ruht er nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. a VO Nr.
574/72 bis zur Höhe der Leistungen, die allein aufgrund
innerstaatlicher Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats
oder z.B. nach Art. 73 VO Nr. 1408/71 aufgrund der
Arbeitnehmertätigkeit eines Elternteils in einem anderen
Mitgliedstaat geschuldet werden. Übt der anspruchsberechtigte
Elternteil im Wohnland aber eine Berufstätigkeit aus, ruht der
Anspruch auf Familienleistungen im Beschäftigungsland bis zur
Höhe der im Wohnland geschuldeten Leistungen (Art. 10 Abs. 1
Buchst. b i VO Nr. 574/72).
5. Die Konkurrenz der Ansprüche auf
Familienleistungen ist im Streitfall nach Art. 10 Buchst. a VO Nr.
574/72 zu lösen, da die Klägerin in Deutschland keine
Berufstätigkeit i.S. des Art. 10 Abs. 1 Buchst. b i VO Nr.
574/72 ausübte.
a) Nach dem Beschluss Nr. 207 der
Verwaltungskommission der Europäischen Gemeinschaften für
die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer vom 7.4.2006 zur
Auslegung des Art. 76 und des Art. 79 Abs. 3 VO Nr. 1408/71 sowie
des Art. 10 Abs. 1 VO Nr. 574/72 bezüglich des
Zusammentreffens von Familienleistungen oder -beihilfen ist die
Formulierung in Art. 10 Abs. 1 Buchst. b i VO Nr. 574/72
„Wird ... eine Berufstätigkeit
ausgeübt“ als tatsächliche Ausübung einer
Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger zu
verstehen.
Arbeitnehmer oder Selbständiger ist nach
den Begriffsbestimmungen in Art. 1 VO Nr. 1408/71 u.a. eine Person,
die gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken, die von den
Zweigen eines Systems der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer
oder Selbständige erfasst werden, im Rahmen eines für
Arbeitnehmer oder Selbständige geschaffenen Systems der
sozialen Sicherheit eines Mitgliedstaats freiwillig versichert ist
(Art. 1 Buchst. a iv VO Nr. 1408/71). Auch nach Auffassung der
Familienkasse erfüllte die Klägerin ab Januar 2006 diese
Voraussetzungen, da sie während ihrer zunächst
selbständigen und später nicht selbständigen
Beschäftigung freiwillig Mitglied der gesetzlichen
Rentenversicherung sowie der gesetzlichen Kranken- und
Pflegeversicherung war.
Die Bestimmungen der Begriffe
„Arbeitnehmer“ und
„Selbständiger“ in Art. 1 VO Nr. 1408/71
werden jedoch durch Anhang I Teil I Buchst. E VO Nr. 1408/71
für die Konkurrenzregeln in Titel III Kapitel 7 VO Nr. 1408/71
eingeschränkt. Da Art. 10 VO Nr. 574/72 die Konkurrenzregeln
in Titel III Kapitel 7 ergänzt (vgl. Schuler in: Fuchs (Hg.),
Europäisches Sozialrecht, 4. Aufl., Art. 12 Rz 14), gilt die
Einschränkung auch für die Begriffe in Art. 10 VO Nr.
574/72.
b) Ist ein deutscher Träger der
zuständige Träger für die Gewährung der
Familienleistungen gemäß Titel III Kapitel 7 VO Nr.
1408/71, so ist nach Anhang I Teil I Buchst. E a VO Nr. 1408/71 als
Arbeitnehmer i.S. des Art. 1 Buchst. a ii VO Nr. 1408/71 anzusehen,
wer für den Fall der Arbeitslosigkeit pflichtversichert ist
oder im Anschluss an diese Versicherung Krankengeld oder
entsprechende Leistungen erhält. Als Selbständiger gilt
nach Anhang I Teil I Buchst. E b VO Nr. 1408/71, wer eine
Tätigkeit als Selbständiger ausübt und in einer
Versicherung der selbständig Erwerbstätigen für den
Fall des Alters versicherungs- oder beitragspflichtig ist oder in
der gesetzlichen Rentenversicherung versicherungspflichtig ist.
c) Diese Voraussetzungen erfüllt die
Klägerin nicht. Sie war während ihrer selbständigen
Tätigkeit nicht in einer Versicherung der selbständig
Erwerbstätigen für den Fall des Alters versicherungs-
oder beitragspflichtig; sie war auch nicht in der gesetzlichen
Rentenversicherung versicherungspflichtig. Denn aufgrund ihrer
geringfügigen selbständigen Tätigkeit war sie nach
§ 5 Abs. 2 des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch - Gesetzliche
Rentenversicherung - (SGB VI) i.V.m. § 8 Abs. 3 SGB IV -
Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - (SGB IV)
versicherungsfrei. Sie war in der gesetzlichen Rentenversicherung
lediglich freiwillig versichert.
Während ihrer geringfügigen
Beschäftigung war sie auch nicht für den Fall der
Arbeitslosigkeit pflichtversichert. Das sind nur solche Personen,
die in einem Versicherungspflichtverhältnis zur Bundesagentur
für Arbeit i.S. von § 24 SGB III - Arbeitsförderung
- (SGB III) stehen. Dazu gehören aber nicht Personen, die -
wie die Klägerin als geringfügig Beschäftigte - nach
§ 27 Abs. 2 SGB III i.V.m. § 8 Abs. 1 SGB IV
versicherungsfrei sind.
Nach der Rechtsprechung des EuGH kann sich die
Klägerin nicht darauf berufen, dass sie aufgrund ihrer
freiwilligen Rentenversicherung die Merkmale des Art. 1 Buchst. a
iv VO Nr. 1408/71 als Arbeitnehmerin oder Selbständige
erfüllt, da andernfalls der Anhang im Ergebnis praktisch
unwirksam wäre (vgl. EuGH-Urteile vom 30.1.1997 C-4/95,
Stöber, Pereira, Slg. 1997, I-511, und vom 12.6.1997 C-266/95,
Garcia, Slg. 1997, I-3279).
6. Nach dem Wortlaut des Art. 10 Buchst. a VO
Nr. 574/72 steht der Klägerin in Deutschland das volle
Kindergeld zu. Denn der Anspruch auf Kindergeld im Wohnland ruht
nur, soweit im Beschäftigungsland Familienleistungen
geschuldet werden. Geschuldet werden Familienleistungen aber nur,
wenn alle Voraussetzungen für deren Auszahlung erfüllt
sind. Dazu gehört, dass der Anspruchsberechtigte bei
antragsabhängigen Leistungen einen Antrag stellt. Da der Vater
die ihm in der Schweiz zustehenden, einen Antrag erfordernden
Familienleistungen aber nicht beantragt hat, schuldete ihm die
Schweiz keine Familienleistungen.
7. Zweifelhaft ist aber, ob in Fällen, in
denen die im Beschäftigungsland vorgesehenen
Familienleistungen nicht beantragt werden, Art. 76 Abs. 2 VO Nr.
1408/71 entsprechend anzuwenden ist.
a) Der EuGH war zu Art. 76 VO Nr. 1408/71 a.F.
der Auffassung, im Wohnland aufgrund der Ausübung einer
Erwerbstätigkeit vorgesehene, aber mangels Antrag nicht
gezahlte Familienleistungen führten nicht zu einer Aussetzung
der in einem anderen Mitgliedstaat geschuldeten Familienleistungen,
weil die Regelung nur die Kumulierung von Leistungen verhindern
solle (EuGH-Urteile vom 13.11.1984 C-191/83, Salzano, Slg. 1984,
3741; vom 23.4.1986 C-153/84, Ferraioli, Slg. 1986, 1401, und vom
4.7.1990 C-117/89, Kracht, Slg. 1990, I-2781).
Als Reaktion auf diese Rechtsprechung wurde
Art. 76 VO Nr. 1408/71 a.F. geändert. Werden im Wohnland keine
Familienleistungen beantragt, „kann“ nach dem -
seit 1.5.1990 geltenden - Art. 76 Abs. 2 VO Nr. 1408/71 der
zuständige Träger des anderen Landes „Absatz 1
anwenden“, als ob Leistungen im Wohnland gewährt
würden. Er braucht daher, wenn der Anspruch auf
Familienleistungen im Wohnland geringer ist, nur den
Differenzbetrag auszuzahlen.
Nach dem Urteil des EuGH in Slg. 1990, I-2781
ist durch die Einfügung des Abs. 2 in Art. 76 VO Nr. 1408/71
die bisherige Rechtslage nicht klargestellt, sondern erstmals
geregelt worden. Da Art. 10 VO Nr. 574/72 nicht in gleicher Weise
ergänzt wurde, beschränkt sich die Regelung auf die
Fälle, in denen das Kindergeld im Wohnland von einer
Erwerbstätigkeit abhängt.
b) Umstritten ist aber, ob Art. 76 Abs. 2 VO
Nr. 1408/71 auf die Fälle des Art. 10 VO Nr. 574/72
entsprechend anzuwenden ist.
Für eine entsprechende Anwendung des Art.
76 Abs. 2 VO Nr. 1408/71 soll sprechen, dass die Regelung dazu
diene, die Lasten zwischen den Mitgliedsstaaten gerecht zu
verteilen. Eine unterlassene Antragstellung solle nicht zu Lasten
des nachrangig verpflichteten Landes gehen (Trinkl, Die
gemeinschaftsrechtliche Koordinierung deutscher Familienleistungen,
2001, S. 244; Igl in: Fuchs, a.a.O., Art. 76 Rz 7). Auch solle die
Regelung den Missbrauch eines sonst gewährten Wahlrechts
verhindern (Trinkl, a.a.O., S. 244). Es sei kein Grund erkennbar,
warum bei der Konkurrenz mit einem erwerbsabhängigen Anspruch
ein unterbliebener Antrag fingiert werde, bei einem
erwerbsunabhängigen Anspruch dagegen nicht (Trinkl, a.a.O., S.
248).
Gegen eine entsprechende Anwendung wird
vorgebracht, dem Verordnungsgeber sei bekannt gewesen, dass ein
unterbliebener Antrag auch bei der Konkurrenz
erwerbsunabhängiger Kindergeldansprüche Probleme
aufwerfe. Wenn er gleichwohl keine vergleichbare Regelung getroffen
habe, sei daraus zu folgern, dass kein Regelungswille und somit
keine Regelungslücke bestanden habe, die eine entsprechende
Anwendung rechtfertige (Fischer, Die Sozialgerichtsbarkeit - SGb -
1991, 432, 438; Becker, SGb 1998, 553, 557; Trinkl, a.a.O., S.
249).
Nach Auffassung des Senats lässt sich der
fehlende Regelungswille auch aus den in beiden Regelungen
verwendeten, unterschiedlichen Begriffen folgern. Sind im Wohnland
Familienleistungen „vorgesehen“, ruht nach Art.
76 Abs. 1 VO Nr. 1408/71 der Anspruch in dem anderen Land. Nach
Art. 10 Abs. 1 Buchst. a VO Nr. 574/72 ruht dagegen der Anspruch im
Wohnland, wenn im Beschäftigungsland Familienleistungen
„geschuldet“ werden. Reicht es aus, dass
Familienleistungen nur „vorgesehen“ sind, ist es
folgerichtig, den Anspruch in dem anderen Land auch dann ruhen zu
lassen, wenn der Berechtigte keinen Antrag gestellt hat. Ruhen die
Leistungen in dem anderen Land nur dann, wenn die Leistungen
„geschuldet“ werden, wäre die Anordnung
eines Ruhens, auch wenn die Leistungen nicht beantragt worden sind,
widersinnig.
8. Da es sich bei der Befugnis nach Art. 76
Abs. 2 VO Nr. 1408/71 um eine Ermessensentscheidung handelt
(„kann“; vgl. Kummer in Schulte/Zacher,
Wechselwirkungen zwischen dem Europäischen Sozialrecht und dem
Sozialrecht der Bundesrepublik Deutschland, S. 217) würde sich
bei einer entsprechenden Anwendung die weitere Frage stellen,
welche Ermessenserwägungen es rechtfertigen, nicht beantragte
Familienleistungen im Beschäftigungsland zu fingieren. Ist die
Ermessensentscheidung in dem Sinne vorgeprägt, dass bei einem
an sich bestehenden, aber nicht geltend gemachten Anspruch
Familienleistungen im Beschäftigungsland stets zu unterstellen
sind oder kann es darauf ankommen, aus welchen Gründen die
Leistungen nicht beantragt werden?
Ist die gerechte Lastenverteilung zwischen den
Mitgliedstaaten vorrangig, ist der Grund für die
Nicht-Beantragung unerheblich. Soll dagegen die Regelung in Art. 10
Buchst. a VO Nr. 574/72 - wie der EuGH zu der Regelung in Art. 76
VO Nr. 1408/71 a.F. angenommen hat (s.o. unter II. 7. a) - die
Kumulierung von Leistungen verhindern, könnte bei der
Ermessensentscheidung berücksichtigt werden, dass der Vater
die ihm im Beschäftigungsland zustehenden Familienleistungen
bewusst nicht beantragt, um der Klägerin zu schaden, zumal
ohne seinen Antrag die Familienleistungen auch nicht - wie in Art.
75 Abs. 2 VO Nr. 1408/71 vorgesehen - über die Familienkasse
an die Klägerin ausgezahlt werden können. Diese
Möglichkeit besteht nur, wenn der Vater die Familienleistungen
beantragt, aber nicht für den Unterhalt der Kinder
verwendet.
Nach Auffassung des Senats darf die mit Art.
76 Abs. 2 VO Nr. 1408/71 bezweckte gerechte Lastenverteilung
zwischen den Mitgliedstaaten nicht dazu führen, dass das
Beschäftigungsland mangels Antrags des Vaters zwar entlastet
wird, diese Entlastung aber zu Lasten der alleinerziehenden Mutter
geht, der das Kindergeld im Wohnland gekürzt wird, obwohl
weder sie noch der Vater Familienleistungen vom
Beschäftigungsland erhalten haben.
Da die Klägerin die Voraussetzungen
für das deutsche Kindergeld erfüllt und ihr Anspruch nur
aufgrund der gemeinschaftsrechtlichen Konkurrenzregeln gemindert
wird, ist es auch nicht gerechtfertigt, sie darauf zu verweisen,
die Antragstellung durch den Vater auf dem Zivilrechtsweg
durchzusetzen.