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I. Streitig ist, ob der Kläger und
Revisionsbeklagte (Kläger) als Geschäftsführer einer
GmbH für Umsatzsteuer der GmbH mit Haftungsbescheid zu Recht
in Anspruch genommen wurde.
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Der Kläger war seit dem 10.7.2003
Geschäftsführer der Y-GmbH (GmbH), die mit
Gesellschaftsvertrag vom 1.6.2003 gegründet wurde und deren
Sitz im Inland lag. Gegenstand der GmbH war die Vermietung von
Baugerüsten sowie der Alleinvertrieb von Y Baugerüsten in
Griechenland.
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Die GmbH machte in verschiedenen
Umsatzsteuer-Voranmeldungen Vorsteuerbeträge geltend, die ihr
durch den Beklagten und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -
) erstattet wurden.
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Aufgrund einer
Umsatzsteuer-Sonderprüfung im Jahr 2004 stellte sich heraus,
dass die GmbH ihr operatives Geschäft bereits im
Gründungsjahr 2003 nach Griechenland verlegt hatte. Nach
Ansicht des FA war die GmbH kein inländisches Unternehmen
mehr, so dass ihr die Vorsteuern zu Unrecht erstattet worden
seien.
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Nach Angaben des FA hob es die
Umsatzsteuer-Voranmeldungen mit Bescheid vom 12.9.2005 auf und
erteilte Abrechnungsbescheide über die zuviel erstattete
Umsatzsteuer, die dem Bevollmächtigten der GmbH Dr. K
zugesandt wurden. Der Kläger bestritt den Zugang dieser
Bescheide.
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Das FA nahm den Kläger mit
Haftungsbescheid vom 11.10.2006 gemäß § 191 i.V.m.
§§ 69, 34 der Abgabenordnung (AO) für
Umsatzsteuerschulden der GmbH u.a. für die
Voranmeldungszeiträume Februar, April, Juni bis September und
Dezember 2004 zuzüglich Säumniszuschlägen in
Höhe von insgesamt ... EUR in Anspruch, da er als
Geschäftsführer der GmbH deren Steuern nicht
abgeführt habe.
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Mit Einspruchsentscheidung vom 28.3.2007
wies das FA den Einspruch insoweit als unbegründet
zurück.
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Das Finanzgericht (FG) gab der hiergegen
erhobenen Klage statt. Es führte zur Begründung aus, da
die GmbH im Jahr 2004 im Inland nicht (mehr) tätig gewesen
sei, habe sie im Jahr 2004 keinen Vorsteuererstattungsanspruch
gehabt. Die vom FA „bereits gezahlten Beträge seien
daher als Rückforderungsanspruch gegen die GmbH nach § 37
Abs. 2 AO zu qualifizieren.“ Nachdem aber die Erstattungen
aufgrund von Voranmeldungen und damit aufgrund von Steuerbescheiden
erfolgt seien, müssten zunächst diese Bescheide
geändert oder die Jahressteuer auf 0 EUR festgesetzt werden.
Davon könne im Streitfall nicht ausgegangen werden. Es sei
nicht erwiesen, dass der Aufhebungsbescheid vom 12.9.2005 wirksam
bekannt gegeben worden sei. Die Beweislast für den Zugang
trage das FA. Folglich sei nicht „von einer wirksamen
Aufhebung der festgesetzten Vorsteuerbeträge“
auszugehen. Ein Rückforderungsanspruch aus § 37 Abs. 2 AO
und damit ein Haftungsanspruch bestehe daher nicht.
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Das Urteil ist veröffentlicht in EFG
2011, 938 = SIS 10 35 14.
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Mit der Revision rügt das FA die
Verletzung materiellen Rechts. Es führt im Wesentlichen aus,
nach § 191 Abs. 1 Satz 1 AO könne derjenige, der für
eine Steuer hafte, durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen
werden. Ein Festsetzungserfordernis hinsichtlich der Steuerschuld
(Primärschuld) bestehe nach der Rechtsprechung des
Bundesfinanzhofs (BFH) nicht. Entscheidend sei die
materiell-rechtliche Existenz des Steueranspruchs. Es sei
ausreichend, dass der Primäranspruch entstanden sei und bei
Erlass des Haftungsbescheids bzw. im Zeitpunkt der letzten
Verwaltungsentscheidung noch bestehe. Dies gelte auch bei einem
Rückforderungsanspruch nach § 37 Abs. 2 AO.
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Sei eine negative Umsatzsteuer angemeldet
worden, so ergebe sich die Rückleistungspflicht des
Steuerschuldners zwar erst, wenn diese Festsetzung später
durch förmlichen Bescheid aufgehoben worden sei. Einer solchen
Festsetzung gegenüber dem Steuerschuldner bedürfe es
jedoch nach der Rechtsprechung des BFH für die Inanspruchnahme
eines anderen als Haftungsschuldner nicht. Der für die Haftung
maßgebliche Rückforderungsanspruch nach § 37 Abs. 2
AO bestehe in Höhe der materiell-rechtlich unberechtigt
festgesetzten negativen Umsatzsteuer.
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Das FA beantragt, das Urteil des FG
aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Der Kläger hat sich im
Revisionsverfahren nicht geäußert.
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II. Die Revision des FA ist unbegründet
und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der
Finanzgerichtsordnung - FGO - ).
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Es kann dahingestellt bleiben, ob das FA die
negative Umsatzsteuer zu Unrecht an die GmbH gezahlt hat. Denn
solange die den Zahlungen zugrunde liegenden
Umsatzsteuer-Vorauszahlungsbescheide - wie im Streitfall - Geltung
haben, ist weder ein Erstattungsanspruch (§ 37 Abs. 2 AO) noch
ein etwaiger Haftungsanspruch (§ 191 Abs. 1 Satz 1 AO)
durchsetzbar.
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1. Wer kraft Gesetzes für eine Steuer
haftet (Haftungsschuldner) - wie der Geschäftsführer
einer GmbH unter den Voraussetzungen der §§ 34, 69 AO -,
kann nach § 191 Abs. 1 Satz 1 AO durch Haftungsbescheid in
Anspruch genommen werden. Dies gilt auch für die Haftung
für einen Erstattungsanspruch i.S. des § 37 Abs. 2 AO
(vgl. BFH-Urteil vom 16.10.1986 VII R 157/84, BFH/NV 1987, 618 =
SIS 87 04 30, unter II.1.).
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Ist eine Steuer oder eine Steuervergütung
ohne rechtlichen Grund gezahlt oder zurückgezahlt worden, so
hat derjenige, auf dessen Rechnung die Zahlung bewirkt worden ist,
nach § 37 Abs. 2 AO gegen den Leistungsempfänger einen
Anspruch auf Erstattung des gezahlten oder zurückgezahlten
Betrages. Für die Finanzverwaltung ergibt sich aus dieser
Vorschrift ein öffentlich-rechtlicher
Rückforderungsanspruch, wenn der Rechtsgrund für eine
Steuererstattung von Anfang an fehlt oder später weggefallen
ist (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Urteile vom
6.12.1988 VII R 206/83, BFHE 155, 40, BStBl II 1989, 223 = SIS 89 04 55; vom 14.2.1989 VII R 55/86, BFH/NV 1989, 751, m.w.N.).
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2. Das FG hat zutreffend ausgeführt, dass
die Voraussetzungen für einen Erstattungsanspruch des FA nach
§ 37 Abs. 2 AO nicht erfüllt sind. Denn die
Vorsteuerbeträge sind nicht ohne rechtlichen Grund an die GmbH
gezahlt worden.
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a) Ob eine Steuer oder eine
Steuervergütung i.S. des § 37 Abs. 2 Satz 1 AO ohne
rechtlichen Grund gezahlt worden ist, richtet sich
regelmäßig nach den zugrunde liegenden Steuerbescheiden.
Grundlage für die Verwirklichung von Ansprüchen aus dem
Steuerschuldverhältnis (§ 37 AO) sind die
Steuerbescheide; die Steueranmeldungen (§ 168 AO) stehen den
Steuerbescheiden gleich (§ 218 Abs. 1 Sätze 1 und 2 AO;
vgl. z.B. BFH-Urteile vom 18.12.1986 I R 52/83, BFHE 149, 440,
BStBl II 1988, 521 = SIS 87 14 57; vom 28.11.1990 V R 117/86, BFHE
163, 112, BStBl II 1991, 281 = SIS 91 11 16).
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b) Im Streitfall ist danach der rechtliche
Grund für die Auszahlung der Umsatzsteuer
(Vorsteuerüberschüsse) an die GmbH deren
Umsatzsteuer-Voranmeldungen für Februar, April, Juni bis
September und Dezember 2004. Diese Steueranmeldungen (§ 150
Abs. 1 Satz 3 AO) stehen grundsätzlich jeweils einer
Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gleich
(§ 168 Satz 1 AO). Da die Steueranmeldungen in den einzelnen
streitbefangenen Voranmeldungszeiträumen jeweils zu
Steuervergütungen führten, trat diese Folge jeweils mit
der Zustimmung des FA (vgl. § 168 Satz 2 AO) ein, die
spätestens konkludent in der Auszahlung der
Erstattungsbeträge zu sehen ist.
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Nach den tatsächlichen Feststellungen des
FG, die für den Senat nach § 118 Abs. 2 FGO bindend sind,
hat das FA diese Steuerbescheide nicht wirksam aufgehoben. In
revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise hat sich das FG
davon überzeugt, dass der Zugang der Aufhebungsbescheide vom
12.9.2005 und der entsprechenden Abrechnungen nicht nachgewiesen
ist. Die angebliche Bekanntgabe der Bescheide erfolgte mit
einfachem Brief. Ein Empfangsnachweis liegt nicht vor. Der
Kläger hat den Zugang bestritten. Anhaltspunkte aus dem
anderweitigen Schriftverkehr für den Erhalt des Schreibens
sind nicht ersichtlich.
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c) Aber auch soweit der VII. Senat des BFH im
Rahmen der Beurteilung, ob i.S. des § 37 Abs. 2 AO
„ohne rechtlichen Grund“ gezahlt wurde, auf das
materielle Steuerrecht abstellt (vgl. auch Drüen in
Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 37 AO Rz
27 ff.; Ratschow in Klein, AO, 11. Aufl., § 37 Rz 3 ff.)
rechtfertigt dies im Ergebnis keine abweichende rechtliche
Würdigung.
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Danach ist der Steuererstattungsanspruch zwar
bereits mit der Zahlung eines nach materiellem Recht nicht
geschuldeten Betrages entstanden. Für die Durchsetzung
(Verwirklichung) des materiell bereits entstandenen
Erstattungsanspruchs bedarf es jedoch auch nach dieser Auffassung
der vorherigen Änderung einer bestehenden, dem materiellen
Steuerrecht widersprechenden Steuerfestsetzung (vgl. BFH-Urteile
vom 26.4.1994 VII R 109/93, BFH/NV 1994, 839 = SIS 94 21 70; vom
15.10.1997 II R 56/94, BFHE 184, 111, BStBl II 1997, 796 = SIS 98 02 30; vom 29.10.2002 VII R 2/02, BFHE 200, 88, BStBl II 2003, 43 =
SIS 03 06 09, unter II.2.b; vgl. ferner BFH-Urteile vom 29.1.1991
VII R 45/90, BFH/NV 1991, 791; vom 6.2.1996 VII R 50/95, BFHE 179,
556, BStBl II 1997, 112 = SIS 96 14 55).
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Denn unabhängig von der Frage der
Entstehung des Erstattungsanspruchs kommt eine Rückforderung
materiell zu viel entrichteter Steuer nur dann in Betracht, wenn
eine entgegenstehende Steueranmeldung, die gemäß §
218 Abs. 1 Satz 2 AO einem Steuerbescheid gleichsteht, aufgehoben
oder geändert worden ist. Dies ergibt sich aus § 218 Abs.
1 AO (vgl. BFH-Urteile vom 6.2.1990 VII R 86/88, BFHE 160, 108,
BStBl II 1990, 523 = SIS 90 12 41; in BFHE 184, 111, BStBl II 1997,
796 = SIS 98 02 30). Der Steueranspruch entsteht zwar nach §
38 AO mit der Verwirklichung des Tatbestands, an den das Gesetz die
Leistungspflicht knüpft, durch den Steuerbescheid wird jedoch
erst die Grundlage für die Verwirklichung des Steueranspruchs
geschaffen (§ 218 Abs. 1 AO). Der - ggf. materiell unrichtige
- Steuerbescheid beeinflusst zwar nicht die materielle Höhe
des Steuererstattungsanspruchs, solange er jedoch besteht, legt er
fest, ob und in welcher Höhe ein Erstattungsanspruch geltend
gemacht werden kann (vgl. BFH-Urteile in BFHE 184, 111, BStBl II
1997, 796 = SIS 98 02 30; in BFHE 200, 88, BStBl II 2003, 43 = SIS 03 06 09, unter II.2.b). Dem Steuererstattungsanspruch des FA
stehen daher die bestehenden - wenn auch ggf. materiell unrichtigen
- Steueranmeldungen entgegen (vgl. BFH-Urteile in BFHE 184, 111,
BStBl II 1997, 796 = SIS 98 02 30; in BFHE 200, 88, BStBl II 2003,
43 = SIS 03 06 09, unter II.2.b).
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d) Aus dem vom FA angeführten Beschluss
des BFH vom 21.5.2004 V B 212/03 (BFH/NV 2004, 1368 = SIS 04 35 68), wonach die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners nicht
voraussetzt, dass die Steuerschuld gegen den Erstschuldner bereits
festgesetzt wurde (vgl. auch § 191 Abs. 3 Satz 4 AO), ergibt
sich keine abweichende Beurteilung, da dem Beschluss ein anderer
Sachverhalt zugrunde lag. Dort sind wirksame
Änderungsbescheide gegenüber der Rechtsnachfolgerin der
GbR ergangen - und entgegen der Auffassung des FA nicht (ebenfalls)
aufgehoben worden -, woran es in dem hier zu entscheidenden
Streitfall gerade fehlt.
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e) Ohne Erfolg beruft sich das FA ferner auf
das BFH-Urteil vom 12.10.1999 VII R 98/98 (BFHE 190, 25, BStBl II
2000, 486 = SIS 00 02 76).
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Nach diesem Urteil kann der Haftungsschuldner
auch nach Ergehen des Umsatzsteuer-Jahresbescheids gegenüber
dem Steuerschuldner noch durch Haftungsbescheid für
rückständige Umsatzsteuer-Vorauszahlungen in Anspruch
genommen werden, wenn die Haftungsvoraussetzungen (nur)
bezüglich der Umsatzsteuer-Vorauszahlungen vorlagen.
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Der BFH hat unter II.2. der Urteilsgründe
zwar u.a. ausgeführt, die Festsetzung des Steueranspruchs
gegenüber dem Steuerschuldner sei für die Inanspruchnahme
des Haftenden ohne Bedeutung; denn die Inanspruchnahme des
Haftungsschuldners setze nicht voraus, dass die Steuerschuld gegen
den Erstschuldner festgesetzt worden sei; ausreichend sei, dass der
Primäranspruch gegen die GmbH bei Erlass des Haftungsbescheids
bzw. im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung über
diesen noch bestehe.
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Diese Aussagen haben aber nicht die ihnen vom
FA beigelegte Bedeutung für den hier gegebenen Sachverhalt,
dass gegen einen Dritten ein Haftungsbescheid wegen einer
Steuerschuld einer GmbH erlassen wurde, die nach Lage der gegen die
GmbH ergangenen Steuerbescheide gar nicht bestand.
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3. Der erkennende Senat ist nach dem
Geschäftsverteilungsplan (GVPL) des BFH für die
Entscheidung der Sache zuständig.
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a) Die Zuständigkeit des XI. Senats des
BFH ergibt sich aus der allgemeinen Senatszuständigkeit
für Fragen aus dem Rechtsgebiet der Umsatzsteuer für
Steuerpflichtige mit den Anfangsbuchstaben L bis Z (Buchst. A, XI.
Senat Nr. 1 GVPL).
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In Haftungsfällen richtet sich die
Zuständigkeit nach II. Nr. 7 der Ergänzenden Regelungen
des GVPL nach dem Namen des Steuerschuldners, in dessen Person die
Steueransprüche entstanden sind. Trägt die Firma des
Steuerschuldners - wie hier - die Firma der GmbH einen
Familiennamen, ist in entsprechender Anwendung des nach II. Nr. 5
Buchst. a der Ergänzenden Regelungen des GVPL der erste
Buchstabe des ersten Familiennamens maßgebend, im Streitfall
somit der Anfangsbuchstabe M des Familiennamens M...
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b) Die Zuständigkeit des VII. Senats des
BFH nach Buchst. A, VII. Senat Nr. 5 Buchst. b GVPL (Haftung
für Umsatzsteuer, wenn diese nicht auf dem Einzelsteuergesetz
beruht und Grund oder Höhe der Steuer nicht streitig ist) ist
nicht gegeben. Denn der Kläger hat bestritten, dass
materiell-rechtlich ein Rückforderungsanspruch des FA gegen
die GmbH besteht.
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