1
|
I. Die Klägerin und
Revisionsklägerin (Klägerin) reiste zu Beginn der
neunziger Jahre aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland
ein. Ihr Antrag auf Gewährung von Asyl blieb ohne Erfolg, sie
wurde jedoch wegen eines Abschiebungshindernisses nach § 53
Abs. 6 Satz 1 des Ausländergesetzes (AuslG 1990) geduldet. Die
Duldung wurde mehrfach, zuletzt bis zum 10.9.2002, verlängert.
Seitdem war sie im Besitz einer Aufenthaltsbefugnis
gemäß § 30 Abs. 4 AuslG 1990, die einer
Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes
(AufenthG) entspricht.
|
|
|
2
|
Nachdem die Klägerin von 1999 bis zum
Juli 2002 eine Ausbildung zur Augenoptikerin absolviert hatte,
arbeitete sie bis Ende August 2003 bei dem vormaligen
Ausbildungsbetrieb als vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmerin.
Vom 1.9.2003 bis zum 31.7.2005 besuchte sie eine Meisterschule mit
Vollzeitunterricht zwecks Ausbildung zur Optikermeisterin. Ihren
Lebensunterhalt bestritt sie in dieser Zeit durch Zuwendungen aus
dem sog. Meister-BAföG-Programm
(Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz - AFBG - ).
Anschließend wurde sie wieder von ihrem Ausbildungsbetrieb
beschäftigt.
|
|
|
3
|
Die Beklagte und Revisionsbeklagte
(Familienkasse) lehnte den Antrag auf Kindergeld für den 1994
geborenen Sohn der Klägerin ab. Der Einspruch blieb ohne
Erfolg.
|
|
|
4
|
Während des finanzgerichtlichen
Verfahrens hat sich die Klage teilweise erledigt. Der
ursprüngliche Antrag richtete sich auf Kindergeld für den
Zeitraum Januar 2001 bis Juni 2006; nach Teilabhilfe der
Familienkasse für die Monate September 2002 bis August 2003
und August 2005 bis Juni 2006 haben die Beteiligten insoweit den
Rechtsstreit für erledigt erklärt. Seit Juli 2006
erhält die Klägerin laufend Kindergeld.
|
|
|
5
|
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage
hinsichtlich der verbleibenden Zeiträume Januar 2001 bis
August 2002 (Ausbildungszeit) und September 2003 bis Juli 2005
(Meisterschule) ab. Es entschied, für den Zeitraum Januar 2001
bis August 2002 stehe der Klägerin wegen § 62 Abs. 2 des
Einkommensteuergesetzes i.d.F. des Art. 2 Nr. 2 des Gesetzes zur
Anspruchsberechtigung von Ausländern wegen Kindergeld,
Erziehungsgeld und Unterhaltsvorschuss vom 13.12.2006 (EStG), der
gemäß § 52 Abs. 61a EStG im Streitfall anwendbar
sei, kein Kindergeld zu. Auch für den Zeitraum von September
2003 bis Juli 2005 könne sie trotz ihrer Aufenthaltsbefugnis
kein Kindergeld beanspruchen, weil sie weder erwerbstätig
gewesen sei noch Leistungen nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch
(SGB III) erhalten habe. Das AFBG verfolge zwar die gleichen Ziele
wie das SGB III, sei vom Gesetzgeber aber nicht in dieses
integriert worden. Diese Auslegung führe zwar zu Härten,
zumal es sich bei der Klägerin um eine mustergültig
integrierte Ausländerin handele. Die vom Gesetzgeber
getroffene Entscheidung könne aber nicht durch die Justiz
korrigiert werden.
|
|
|
6
|
Mit ihrer Revision trägt die
Klägerin vor, die Versagung des Kindergeldes für den
Zeitraum Januar 2001 bis August 2002 beruhe auf einer
rechtsfehlerhaften Auslegung des § 62 Abs. 2 EStG und
widerspreche der Weisung des Bundeszentralamtes für Steuern
vom 13.6.2007 St II 2 - S 2470 - 2/2006 (BStBl I 2007, 489 = SIS 07 21 35). Der Anspruch ergebe sich aus § 62 Abs. 2 Nr. 3 und
Abs. 2 Nr. 2 Buchst. c EStG i.V.m. § 25 Abs. 3, § 60 Abs.
7 AufenthG, denn sie habe sich mindestens drei Jahre geduldet in
Deutschland aufgehalten und sei im Bundesgebiet berechtigt
erwerbstätig gewesen. Die durch Bescheid vom 12.8.1997
festgestellte Duldung aus humanitären Gründen
gemäß § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG 1990 entspreche
einer Duldung nach § 60 Abs. 7 AufenthG (Urteil des
Bundesverwaltungsgerichts vom 27.6.2006 1 C 14.05, BVerwGE 126,
192). Bei der Auslegung des am 1.1.2006 in Kraft getretenen §
62 Abs. 2 Nr. 3 EStG sei zu berücksichtigen, dass § 25
Abs. 3 bis 5 des am 1.1.2005 in Kraft getretenen AufenthG nicht die
Duldung regele; diese sei lediglich noch als Ausnahmefall in §
60a AufenthG enthalten.
|
|
|
7
|
Die Versagung des Kindergeldes für den
Zeitraum des Besuchs der Meisterschule (September 2003 bis Juli
2005) beruhe auf einer gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art.
3 Abs. 1 des Grundgesetzes) verstoßenden Auslegung des §
62 Abs. 2 Nr. 2 und Nr. 3 EStG. Es gebe keinen sachlichen Grund
dafür, Ausländern bei Bezug von Leistungen nach dem SGB
III Kindergeld zu gewähren, nicht aber Ausländern, die
Leistungen nach dem AFBG erhielten.
|
|
|
8
|
Die Klägerin beantragt
sinngemäß, das FG-Urteil und die Einspruchsentscheidung
aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, Kindergeld
für ihren Sohn für Januar 2001 bis August 2002 und von
September 2003 bis Juli 2005 festzusetzen.
|
|
|
9
|
Die Familienkasse beantragt, die Revision
als unbegründet zurückzuweisen.
|
|
|
10
|
II. Die Revision ist hinsichtlich des
Zeitraums Januar 2001 bis August 2002 unbegründet.
Hinsichtlich der Monate September 2003 bis Juli 2005 ist sie
begründet, insoweit ist der Klage stattzugeben.
|
|
|
11
|
1. Für die Monate Januar 2001 bis August
2002, in denen die Klägerin ausgebildet wurde, steht ihr kein
Kindergeld zu, denn sie war bis zum 10.9.2002 lediglich geduldet
und damit nicht im Besitz eines Aufenthaltstitels i.S. von §
62 Abs. 2 EStG. Ein Anspruch auf Kindergeld nach § 62 Abs. 2
Nr. 2 Buchst. c, Nr. 3 EStG scheidet daher aus. Zur weiteren
Begründung verweist der Senat auf seine Urteile vom 15.3.2007
III R 93/03 (BFHE 217, 443, BStBl II 2009, 905 = SIS 07 15 05), vom
22.11.2007 III R 54/02 (BFHE 220, 45, BStBl II 2009, 913 = SIS 08 08 53) und vom 7.4.2011 III R 72/09 (BFH/NV 2011, 1134 = SIS 11 19 07).
|
|
|
12
|
Bei der Ausbildung der Klägerin zur
Augenoptikerin handelt es sich auch nicht um eine
Erwerbstätigkeit i.S. des § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. b
EStG; die Gleichsetzung einer Berufsausbildung in einem anerkannten
Ausbildungsberuf mit einer Erwerbstätigkeit durch § 8
Abs. 3 Satz 2 AFBG gilt nicht im Hinblick auf § 62 Abs. 2
EStG.
|
|
|
13
|
2. Für die Monate September 2003 bis Juli
2005, in denen sie die Meisterschule besuchte, kann die
Klägerin dagegen Kindergeld beanspruchen, denn nicht
freizügigkeitsberechtigte Ausländer, die - wie die
Klägerin in diesem Zeitraum - über eine
Aufenthaltsbefugnis gemäß § 30 Abs. 4 AuslG 1990
bzw. eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG
verfügen und nach einer vorangegangenen berechtigten
Erwerbstätigkeit im Inland nach den Vorschriften des AFBG sog.
Meister-BAföG beziehen, sind i.S. von § 62 Abs. 2 Nr. 3
Buchst. b EStG denjenigen Ausländern gleichzustellen, die
laufende Geldleistungen nach dem SGB III beziehen.
|
|
|
14
|
a) Die Regelung des § 62 Abs. 2 EStG ist
verfassungsrechtlich unbedenklich, soweit dadurch geduldete
Ausländer ohne Aufenthaltstitel von einem Leistungsanspruch
von vornherein ausgeschlossen werden (Senatsurteil in BFHE 217,
443, BStBl II 2009, 905 = SIS 07 15 05). Sie entspricht auch
insoweit den Vorgaben des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts
(BVerfG) vom 6.7.2004 1 BvL 4/97 (BVerfGE 111, 160, BFH/NV 2005,
Beilage 2, 114 = SIS 05 07 29), als Ausländer mit
Aufenthaltstiteln nach § 23 Abs. 1, §§ 23a, 24 oder
25 Abs. 3 bis 5 AufenthG Kindergeld nur bei einem voraussichtlich
dauerhaften Aufenthalt im Inland erhalten, der wiederum bei
Integration in den deutschen Arbeitsmarkt durch eine berechtigte
Erwerbstätigkeit, den Bezug von Leistungen nach dem SGB III
oder Elternzeit unterstellt wird.
|
|
|
15
|
b) Die Klägerin ist in den deutschen
Arbeitsmarkt integriert, denn die einer berechtigten
Erwerbstätigkeit nachfolgende Förderung nach dem AFBG ist
dem Bezug laufender Geldleistungen nach dem SGB III rechtlich
gleichwertig.
|
|
|
16
|
aa) Das sog. Meister-BAföG nach dem AFBG
fördert Maßnahmen, die einen Abschluss in einem nach
§ 4 des Berufsbildungsgesetzes oder nach § 25 der
Handwerksordnung anerkannten Ausbildungsberuf, einen vergleichbaren
bundes- oder landesrechtlich geregelten Berufsabschluss oder eine
diesen Berufsabschlüssen entsprechende berufliche
Qualifikation voraussetzen (§ 2 Abs. 1 AFBG) und für die
kein Arbeitslosengeld bei beruflicher Weiterbildung oder
Arbeitslosigkeit nach dem SGB III geleistet wird (§ 3 AFBG).
Ausländer können Meister-BAFöG erhalten, wenn sie
eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG haben und
sich seit mindestens vier Jahren in Deutschland ununterbrochen
rechtmäßig, gestattet oder geduldet aufhalten (§ 8
Abs. 2 Nr. 2 AFBG) oder sich vor Beginn der Maßnahme
insgesamt drei Jahre im Inland aufgehalten haben und
rechtmäßig erwerbstätig waren; als
Erwerbstätigkeit gilt dabei auch die Zeit in einem
Berufsausbildungsverhältnis in einem nach dem
Berufsbildungsgesetz und der Handwerksordnung anerkannten
Ausbildungsberuf (§ 8 Abs. 3 AFBG). Der Unterhaltsbedarf
für Alleinstehende erhöht sich, wenn sie ein Kind haben,
für das Anspruch auf Kindergeld nach dem EStG oder dem
Bundeskindergeldgesetz besteht (§ 10 Abs. 2 Satz 2 AFBG).
|
|
|
17
|
bb) Das SGB III sieht zahlreiche
Fördermaßnahmen für Arbeitnehmer vor, u.a.
Trainingsmaßnahmen, die die Arbeitsbereitschaft und die
Arbeitsfähigkeit prüfen (§ 49 Abs. 2 Nr. 1 SGB III
in der bis einschließlich 2008 geltenden Fassung),
Berufsausbildungsbeihilfe (§ 60 SGB III), berufsvorbereitende
Maßnahmen (u.a. die Vorbereitung des nachträglichen
Erwerbs des Hauptschulabschlusses, § 61 Abs. 2 Nr. 2 SGB III
in der bis einschließlich 2008 geltenden Fassung) und die
Förderung der beruflichen Weiterbildung, auch bei fehlendem
Berufsabschluss (§ 77 SGB III).
|
|
|
18
|
cc) Die Voraussetzungen des Meister-BAföG
sind wesentlich strenger als die des SGB III. Während sich das
Meister-BAFöG an Fachkräfte wendet, die bereits über
eine abgeschlossene Erstausbildung verfügen, sich auf einen
Fortbildungsabschluss zum Handwerks- oder Industriemeister,
Techniker, Fachkaufmann oder eine vergleichbare Qualifikation
vorbereiten und gemäß § 9 AFBG erwarten lassen,
dass sie die Fortbildungsmaßnahme erfolgreich
abschließen werden, werden Geldleistungen nach dem SGB III
auch an Personen erbracht, die nicht über eine nennenswerte
Allgemeinbildung oder über berufsbezogene Qualifikationen
verfügen.
|
|
|
19
|
dd) Die Gesetzesbegründung (BTDrucks
16/1368, S. 8 ff.) zeigt, dass der Gesetzgeber in § 62 Abs. 2
Nr. 3 Buchst. b EStG nicht einen abschließenden Katalog
schaffen, sondern an Tatsachen anknüpfen wollte, die ein
dauerhaftes Verbleiben im Inland indizieren. Diese wurden
insbesondere in der Ausübung einer Erwerbstätigkeit
gesehen; bei ausländischen Staatsangehörigen sei die
Sicherung des Lebensunterhalts aus eigener Erwerbstätigkeit in
der Regel für die Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis
erforderlich und in der Vergangenheit regelmäßig
Voraussetzung für die Anwendung von
Gruppenbleiberechtsregelungen für Asylsuchende und Geduldete
gewesen. Eine Benachteiligung der in den deutschen Arbeitsmarkt
integrierten Eltern gegenüber Eltern, die ausschließlich
von Sozialhilfe lebten, sei zu vermeiden.
|
|
|
20
|
c) Personen, die - wie die Klägerin -
bereits über einen anerkannten deutschen
Berufsausbildungsabschluss verfügen, danach im Inland
berechtigt erwerbstätig waren und anschließend mit einer
Förderung durch das AFBG den Meistertitel erwerben, sind
fester und verlässlicher in den deutschen Arbeitsmarkt
integriert als z.B. unqualifizierte Personen, die mit
Fördermitteln nach dem SGB III an Trainingsmaßnahmen zur
Prüfung ihrer Arbeitsbereitschaft teilnehmen oder
nachträglich den Hauptschulabschluss erwerben, zumal viele
Ausländer dieser Gruppe, die Kinder haben, am Arbeitsmarkt
nicht ohne weiteres Einkünfte erzielen können, die die
Grundsicherung deutlich übersteigen. Eine Benachteiligung von
Ausländern, die Meister-BAFöG beziehen, gegenüber
Ausländern, die Geldleistungen nach dem SGB III erhalten,
wäre daher mit dem BVerfG-Beschluss in BVerfGE 111, 160,
BFH/NV 2005, Beilage 2, 114 = SIS 05 07 29 nicht zu
vereinbaren.
|
|
|