Betriebsaufgabe, Freibetrag, Verbrauch selbst bei fälschlicher Gewährung: Der Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG wird personenbezogen gewährt; er steht dem Steuerpflichtigen für alle Gewinneinkunftsarten nur einmal zu. - Urt.; BFH 21.7.2009, X R 2/09; SIS 09 29 83
I. Die Kläger und Revisionskläger
(Kläger) sind Ehegatten und werden im Streitjahr 2003 zusammen
zur Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger ist Arzt und war an
einer Praxisgemeinschaft beteiligt. Aus dieser Beteiligung erzielte
er im Veranlagungszeitraum 1997 neben laufenden Einkünften
einen Veräußerungsgewinn in Höhe von 50.000 DM. In
der Einkommensteuererklärung 1997 gab er die laufenden
Einkünfte aus selbständiger Arbeit mit 288.278 DM an und
trug in der Anlage GSE zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb in
der Zeile „Der Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG wird
nicht beantragt oder ist nicht zu gewähren“ (Zeile 14)
einen Betrag in Höhe von 50.000 DM ein. In der Anlage GSE wies
er zudem auf eine Beteiligung an einem Gewerbebetrieb hin. Der
Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA - ) zog bei der
Ermittlung der Einkünfte aus selbständiger Arbeit im
Einkommensteuerbescheid 1997 vom 1.10.1998 von dem
Veräußerungsgewinn einen Freibetrag von 50.000 DM ab,
sodass der Veräußerungsgewinn im Ergebnis
unberücksichtigt blieb. In der Folgezeit änderte das FA
den Einkommensteuerbescheid 1997 wegen geänderter
Feststellungsbescheide mehrmals. Im Änderungsbescheid vom
19.5.1999 erfasste es einen um 50.000 DM höheren Gewinn aus
der Praxisbeteiligung des Klägers. Das FA gab dem hiergegen
eingelegten Einspruch statt, in dem die Kläger die
„Doppelerfassung“ des Veräußerungsgewinns
geltend machten.
In der Einkommensteuererklärung
für das Streitjahr 2003 wiesen die Kläger in der Anlage
GSE auf eine gewerbliche Beteiligung des Klägers hin, machten
aber keine Angaben zur Höhe der Einkünfte. Aufgrund des
Feststellungsbescheids 2003 vom 14.3.2005, in dem neben laufenden
Einkünften und Sonderbetriebsausgaben auch ein
„anzusetzendes Veräußerungsergebnis“ von
71.928,52 EUR festgestellt wurde, änderte das FA den
Einkommensteuerbescheid 2003 am 11.5.2005. Der hiergegen eingelegte
Einspruch, mit dem die Kläger den Ansatz eines Freibetrags
nach § 16 Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG)
beantragten, hatte keinen Erfolg.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage mit
in EFG 2009, 469 veröffentlichtem Urteil ab. Der Freibetrag
sei dem Kläger bereits im Veranlagungszeitraum 1997
gewährt worden. Er sei verbraucht, selbst wenn er in der
Vergangenheit zu Unrecht angesetzt worden sei und die
Steuervergünstigung nicht mehr rückgängig gemacht
werden könne. Zudem wirke der Verbrauch
einkünfteübergreifend. Er könne nicht für jede
der drei Gewinneinkunftsarten je einmal gewährt werden. Er sei
personen- und nicht einkunftsbezogen.
Mit ihrer Revision rügen die
Kläger Verletzung materiellen Rechts. Nach der Rechtsprechung
des Bundesfinanzhofs (BFH) könne der Freibetrag nach § 16
Abs. 4 EStG nur gewährt werden, wenn der Veräußerer
im Zeitpunkt der Veräußerung das 55. Lebensjahr
vollendet habe. Zwar habe das FA im Einkommensteuerbescheid
für 1997 einen Freibetrag gewährt; hierbei könne es
sich jedoch nicht um den Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG
handeln, weil der Kläger zu diesem Zeitpunkt das 55.
Lebensjahr noch nicht vollendet hatte und der Freibetrag zudem
nicht beantragt worden sei. Im Übrigen sei der Freibetrag
für jede der drei Gewinneinkunftsarten einmal zu
gewähren.
Die Kläger beantragen, das FG-Urteil
und die Einspruchsentscheidung vom 30.10.2007 aufzuheben und die
Einkommensteuer 2003 unter Berücksichtigung eines Freibetrags
nach § 16 Abs. 4 EStG in der im Streitjahr geltenden Fassung
in Höhe von 51.200 EUR festzusetzen.
Das FA beantragt, die Revision als
unbegründet zurückzuweisen.
II. Die Revision ist unbegründet und
daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der
Finanzgerichtsordnung - FGO - ). Zu Recht ist das FG davon
ausgegangen, dass dem Kläger der Freibetrag gemäß
§ 16 Abs. 4 EStG nicht erneut zu gewähren ist.
1. Hat der Steuerpflichtige das 55. Lebensjahr
vollendet oder ist er im sozialversicherungsrechtlichen Sinne
dauernd berufsunfähig, so wird der
Veräußerungsgewinn auf Antrag zur Einkommensteuer nur
herangezogen, soweit er den Freibetrag gemäß § 16
Abs. 4 Satz 1 EStG übersteigt. Der Freibetrag ist dem
Steuerpflichtigen nur einmal zu gewähren (§ 16 Abs. 4
Satz 2 EStG). Das bedeutet, dass der Freibetrag dem
Steuerpflichtigen nur einmal im Leben zugute kommt, allerdings
stets in voller Höhe; es kommt nicht darauf an, ob der
Steuerpflichtige einen ganzen Gewerbebetrieb, einen Teilbetrieb
oder einen Mitunternehmeranteil veräußert (Reiß in
Kirchhof, EStG, 8. Aufl., § 16 Rz 508).
Veräußerungen und Betriebsaufgaben vor dem 1.1.1996
werden nicht angerechnet (§ 52 Abs. 34 Satz 3 EStG 1999;
Blümich/Stuhrmann, § 16 EStG Rz 451).
2. Im Streitfall ist der Freibetrag
gemäß § 16 Abs. 4 EStG dem Kläger bereits im
Einkommensteuerbescheid 1997 gewährt worden. Der erkennende
Senat folgt dem FG darin, dass es nach dem eindeutigen Wortlaut von
§ 16 Abs. 4 EStG nicht darauf ankommt, ob der Freibetrag zu
Recht gewährt worden ist oder nicht. Entscheidend ist allein,
dass sich der Freibetrag auf die Steuerfestsetzung ausgewirkt hat
und die Steuervergünstigung nicht mehr rückgängig
gemacht werden kann (vgl. hierzu auch die BFH-Urteile vom 8.3.1994
IX R 12/90, BFH/NV 1994, 785, bzw. vom 15.5.2002 X R 97/98, BFH/NV
2002, 1428 = SIS 02 97 84, zur vergleichbaren Problematik bei
§ 7b EStG bzw. § 10e Abs. 4 EStG). Soll der Freibetrag
erst für einen späteren Veräußerungsgewinn in
Anspruch genommen werden, muss der Steuerpflichtige die
Steuerfestsetzung anfechten, in dem ihm die
Steuervergünstigung trotz Fehlens eines entsprechenden Antrags
(bzw. weiterer gesetzlicher Voraussetzungen) gewährt wurde.
Nach Treu und Glauben könnte sich der Steuerpflichtige den
Verbrauch des Freibetrags nach § 16 Abs. 4 EStG allenfalls
dann nicht entgegenhalten lassen müssen, wenn für ihn
angesichts der geringen Höhe des Freibetrags und des fehlenden
Hinweises in den Erläuterungen nicht erkennbar gewesen
wäre, dass das FA den Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG
ohne Antrag angesetzt hat (vgl. hierzu auch Senatsurteil in BFH/NV
2002, 1428 = SIS 02 97 84).
Bei der Einkommensteuerfestsetzung 1997 wurde
dem Kläger ein Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG in
Höhe von 50.000 DM gewährt. Er hat den Bescheid nicht
angefochten, obwohl die Tatsache, dass das FA den Freibetrag ohne
Antrag angesetzt hat, aus der Berechnung der Einkünfte aus
selbständiger Arbeit und dem Einspruchsverfahren wegen der
„Doppelerfassung“ des
Veräußerungsgewinns erkennbar war. Zudem konnte die
Berücksichtigung des Freibetrags nach § 16 Abs. 4 EStG im
Veranlagungszeitraum 1997 nach den Feststellungen des FG im
Zeitpunkt, als die Kläger den Freibetrag in Zusammenhang mit
der Einkommensteuerveranlagung 2003 beantragt haben, nicht mehr
rückgängig gemacht werden, da bereits
Festsetzungsverjährung eingetreten war.
3. Zutreffend hat das FG auch erkannt, dass
der Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG dem Kläger im
Streitjahr 2003 nicht deshalb zu gewähren ist, weil er ihn
für einen Veräußerungsgewinn bei den
Einkünften aus Gewerbebetrieb begehrt und der Freibetrag im
Veranlagungszeitraum 1997 für einen
Veräußerungsgewinn bei den Einkünften aus
selbständiger Arbeit gewährt wurde. Der Grundsatz, dass
der Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG einem Steuerpflichtigen
nur einmal gewährt werden kann, gilt absolut und damit
einkünfteübergreifend. Der Freibetrag auch für den
Gewerbebetreibenden wird verbraucht, wenn ihn der Steuerpflichtige
bei der Aufgabe oder Veräußerung seines land- und
forstwirtschaftlichen Betriebs oder einer freiberuflichen Praxis in
Anspruch nimmt (so auch Kanzler, FR 2000, 1245, 1254; Reiß in
Kirchhof, a.a.O., § 16 Rz 508; Kauffmann in Frotscher, EStG,
6. Aufl., § 16 Rz 257; R 139 Abs. 13 Satz 5 der
Einkommensteuer-Richtlinien - EStR - 2003, und R 16 Abs. 13 Satz 5
EStR 2007; a.A. Paus, Die Information über Steuer und
Wirtschaft, 1995, 577, 586; Wendt, FR 2000, 1199 Fn. 5;
Schmidt/Wacker, EStG, 28. Aufl., § 16 Rz 581; Kobor in
Hermann/Heuer/Raupach, § 16 EStG Rz 530; Gänger in
Bordewin/Brandt, § 16 EStG Rz 258; Stahl in Korn, § 16
EStG Rz 418).
Zu Recht hat das FG darauf abgestellt, dass
sowohl § 14 Satz 2 EStG (mit Einschränkung) als auch
§ 18 Abs. 3 Satz 2 EStG § 16 Abs. 4 EStG für
entsprechend anwendbar erklären. Dabei handelt es sich nicht
um eine Rechtsfolgen-, sondern um eine Rechtsgrundverweisung
(Kanzler, FR 2000, 1245, 1254), mit der Folge, dass der Freibetrag
nur unter den Voraussetzungen des § 16 Abs. 4 EStG zu
gewähren ist.
Dass sowohl § 14 Satz 2 EStG als auch
§ 18 Abs. 3 Satz 2 EStG Rechtsgrundverweisungen beinhalten und
§ 16 Abs. 4 Satz 2 EStG einkünfteüberschreitend zu
beachten ist, ergibt sich aus dem Sinn und Zweck der gesetzlichen
Regelung. Vor Änderung des § 16 Abs. 4 EStG durch das
Jahressteuergesetz 1996 (JStG 1996) vom 11.10.1995 (BGBl I 1995,
1250) gewährte die Vorschrift eine betriebsbezogene
Steuerbefreiung in Form eines Freibetrags, der abhängig von
der Höhe des jeweils erzielten Gewinns (ggf. bis auf 0 DM)
abgeschmolzen wurde. Der Freibetrag wurde bei
Veräußerung oder Aufgabe jeder betrieblichen
(gewerblichen, freiberuflichen oder land- und
forstwirtschaftlichen) Einheit berücksichtigt; wurden
allerdings ein Teilbetrieb oder Mitunternehmeranteil
veräußert oder aufgegeben, wurde der Freibetrag nur
anteilig bezogen auf den gesamten Betrieb oder die Summe der
Mitunternehmeranteile angesetzt. Bei der Veräußerung
oder Aufgabe mehrerer betrieblicher Einheiten (gleichgültig,
ob es sich um mehrere Gewerbebetriebe und/oder Betriebe
selbständig Tätiger oder von Land- und Forstwirten
handelte), konnte der Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG
mehrfach zur Anwendung kommen. Bei Einführung von § 16
Abs. 4 Satz 2 EStG i.d.F. des JStG 1996 hat der Gesetzgeber
offensichtlich berücksichtigt, dass eine mehrfache
Gewährung des Freibetrags nach § 16 Abs. 4 EStG Inhaber
mehrerer Betriebe oder betrieblicher Teileinheiten gegenüber
solchen Betriebsinhabern privilegiert, die ihre betrieblichen
Aktivitäten in einer betrieblichen Einheit bündeln
(müssen). Da in ertragsteuerlicher Hinsicht jeder
Steuerpflichtige nur eine betriebliche Sphäre hat, sollte der
Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG personenbezogen und damit
einkünfteübergreifend gewährt werden. Nur
„einmal im Leben“ sollte ein Steuerpflichtiger
bei Vorliegen weiterer Voraussetzungen (Vollendung des 55.
Lebensjahres bzw. dauernde Berufsunfähigkeit im
sozialversicherungsrechtlichen Sinn) den Freibetrag nach § 16
Abs. 4 EStG in Anspruch nehmen können. Im Gegenzug dazu hat
der Gesetzgeber die Veräußerung bzw. Aufgabe eines
Teilbetriebs oder Mitunternehmeranteils der Veräußerung
bzw. Aufgabe eines ganzen Gewerbebetriebs gleichgestellt.
Gleichzeitig hat der Gesetzgeber Steuerpflichtigen durch das
Antragsrecht die Wahl gelassen, selbst zu entscheiden, für
welchen Gewinn sie den Freibetrag beanspruchen wollen.
Ausgehend von diesem gesetzlichen
Regelungszweck ist es folgerichtig, § 16 Abs. 4 EStG
einkunftsartenübergreifend und damit personenbezogen zu
betrachten. § 16 Abs. 4 Satz 2 EStG erkennt den Freibetrag
„dem Steuerpflichtigen“ nur einmal für alle
Gewinneinkunftsarten zu (Kauffmann in Frotscher, a.a.O., § 16
Rz 257). Es wäre sinnwidrig, einem Steuerpflichtigen, der
mehrere gewerbliche betriebliche Einheiten veräußert
oder aufgibt, die mehrfache Gewährung des Freibetrags unter
Hinweis auf § 16 Abs. 4 Satz 2 EStG zu versagen, einem anderen
Steuerpflichtigen, dessen verschiedene betriebliche Einheiten aber
unterschiedlichen Einkunftsarten zuzuordnen sind, im
Veräußerungs- oder Aufgabefall den Freibetrag mehrfach
zu gewähren.