Kind, Haushaltswechsel, Kindergeld: Ist ein Kind getrennt lebender Eltern auf eigenen Entschluss von dem Haushalt eines Elternteils in den Haushalt des anderen Elternteils umgezogen, kann in der Regel davon ausgegangen werden, dass der andere Elternteil - auch wenn er nicht sorgeberechtigt ist - das Kind i.S. des § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG in seinen Haushalt aufgenommen und damit Anspruch auf Auszahlung des Kindergeldes hat, wenn das Kind seit mehr als drei Monaten dort lebt und eine Rückkehr in den Haushalt des sorgeberechtigten Elternteils nicht von vornherein feststeht. - Urt.; BFH 25.6.2009, III R 2/07; SIS 09 29 05
I. Die Klägerin und
Revisionsklägerin (Klägerin) erhielt für ihre im
Januar 1988 geborene Tochter (T) Kindergeld. Im August 2003 zog T
zu ihrem Vater, dem geschiedenen Ehemann der Klägerin
(Beigeladener). Im Januar 2004 kehrte sie in den Haushalt der
Klägerin zurück.
Im Februar 2004 hob die Beklagte und
Revisionsbeklagte (Familienkasse) die Kindergeldfestsetzung
für den Zeitraum von September 2003 bis Januar 2004 auf. Der
Einspruch der Klägerin hatte keinen Erfolg.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage durch
Urteil vom 1.12.2005 3 K 1715/04 Kg (EFG 2007, 1176 = SIS 07 14 58)
ab.
Mit ihrer Revision rügt die
Klägerin eine Verletzung materiellen Rechts. Das FG habe den
Begriff der Haushaltsaufnahme i.S. des § 64 Abs. 2 Satz 1 des
Einkommensteuergesetzes (EStG) verkannt. Wegen ihres alleinigen
Sorgerechts sei durch das Überwechseln von T in den Haushalt
des Beigeladenen, dem sie, die Klägerin, ausdrücklich
widersprochen habe, ein einer Kindesentziehung vergleichbarer
widerrechtlicher Zustand hergestellt worden, der auch durch den
Willen der erst 15-jährigen T nicht habe legalisiert werden
können. Bei Geltendmachung des Rückführungsanspruchs
könne der andere Elternteil - wie der Kindesentzieher im Fall
eines Kindesentzugs - kein auf Dauer angelegtes
Obhutsverhältnis zu dem Kind begründen. Eine gerichtliche
Geltendmachung könne jedoch bei einem 15-jährigen Kind
nicht verlangt werden.
Die Klägerin beantragt
sinngemäß, das Urteil des FG, den Bescheid der
Familienkasse vom 24.2.2004 und die hierzu ergangene
Einspruchsentscheidung vom 25.3.2004 aufzuheben.
Die Familienkasse und der Beigeladene
beantragen, die Revision zurückzuweisen.
II. Die Revision der Klägerin ist
unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2
der Finanzgerichtsordnung - FGO - ).
Im Ergebnis zu Recht hat das FG entschieden,
dass der Klägerin kein Anspruch auf Kindergeld für den
Streitzeitraum zusteht, weil T nicht mehr in ihrem Haushalt
aufgenommen war.
1. Erfüllen mehrere Personen - wie hier
die Klägerin und der Beigeladene - die
Anspruchsvoraussetzungen für das Kindergeld, so wird dieses
gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG an die Person
gezahlt, die das Kind in ihren Haushalt aufgenommen hat.
a) Ein Kind ist in den Haushalt des
Elternteils aufgenommen, bei dem es wohnt, versorgt und betreut
wird, sodass es sich in der Obhut dieses Elternteils befindet (z.B.
Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 20.6.2001 VI R 224/98, BFHE
195, 564, BStBl II 2001, 713 = SIS 01 11 73). Das Merkmal der
Haushaltsaufnahme wird in erster Linie durch den tatsächlichen
Umstand bestimmt, dass das Kind nicht nur vorübergehend in dem
betreffenden Haushalt lebt (z.B. BFH-Urteil vom 24.10.2000 VI R
21/99, BFH/NV 2001, 444 = SIS 01 58 32). Formale Gesichtspunkte,
z.B. die Sorgerechtsregelung oder die Eintragung in ein
Melderegister, können bei der Beurteilung, in welchen Haushalt
das Kind aufgenommen ist, allenfalls unterstützend
herangezogen werden (z.B. BFH-Urteil in BFHE 195, 564, BStBl II
2001, 713 = SIS 01 11 73).
b) Wohnt ein Kind getrennt lebender Eltern nur
für einen von vornherein begrenzten, kurzfristigen Zeitraum -
etwa zu Besuchszwecken oder in den Ferien - bei dem anderen
Elternteil, ist es nicht in dessen Haushalt aufgenommen, weil kein
Obhutsverhältnis in dem geschilderten Sinne besteht. Steht zum
Zeitpunkt des Einzugs noch nicht endgültig fest, ob das Kind
auf Dauer bei dem anderen Elternteil wohnen wird, kann der
Wohnungswechsel dagegen als Aufnahme in den Haushalt des anderen
Ehegatten zu werten sein, wenn sich das Kind dort für einen
längeren Zeitraum aufhält. Denn in einem solchen Fall
wird das Kind nach dem Umzug von dem anderen Elternteil betreut,
versorgt und unterhalten, sodass ein neues Obhutsverhältnis
begründet wird (z.B. BFH-Urteil in BFHE 195, 564, BStBl II
2001, 713 = SIS 01 11 73).
Dem Zeitmoment kommt besondere Bedeutung zu.
Je länger ein Kind auf eigenen Entschluss und mit Willen des
anderen Elternteils in dessen Haushalt lebt, desto mehr spricht
dafür, dass dort ein neues Obhutsverhältnis
begründet worden ist. Von einem nicht nur vorübergehenden
Aufenthalt kann dabei jedenfalls dann regelmäßig
ausgegangen werden, wenn das Kind seit mehr als drei Monaten bei
dem anderen Elternteil lebt und eine Rückkehr nicht von
vornherein feststeht.
c) Nicht anwendbar sind hingegen die
Grundsätze, die der BFH für Kindesentführungen in
das Ausland aufgestellt hat (vgl. BFH-Urteile vom 19.3.2002 VIII R
62/00, BFH/NV 2002, 1146 = SIS 02 86 97 und VIII R 52/01, BFH/NV
2002, 1148 = SIS 02 86 98; vom 30.10.2002 VIII R 86/00, BFH/NV
2003, 464 = SIS 03 17 51). Denn der auf einem Entschluss des Kindes
beruhende Umzug von einem zu dem anderen Elternteil kann mit einer
Entführung des Kindes nicht gleichgesetzt werden.
2. Danach durfte die Familienkasse davon
ausgehen, dass T, die aus eigenem Streben heraus von August 2003
bis Januar 2004, mithin deutlich mehr als drei Monate, bei dem
Beigeladenen lebte, in dieser Zeit nicht mehr in den Haushalt der
Klägerin, sondern in den des Beigeladenen aufgenommen war. Die
Familienkasse hat für den Streitzeitraum die
Kindergeldfestsetzung gegenüber der Klägerin daher zu
Recht aufgehoben (§ 70 Abs. 2 EStG).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §
143 Abs. 1 i.V.m. § 135 Abs. 2 und § 139 Abs. 4 FGO. Es
entspricht der Billigkeit, der Klägerin auch die
außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen im
Revisionsverfahren aufzuerlegen, da er dieses Verfahren dadurch
wesentlich gefördert hat, dass er auf mündliche
Verhandlung verzichtet und so eine Entscheidung des
Revisionsgerichts ohne mündliche Verhandlung ermöglicht
hat (z.B. BFH-Urteil vom 20.6.2001 VI R 169/97, BFH/NV 2001, 1443 =
SIS 01 77 76, m.w.N.).