Anrechnungsverfügung, Änderung des zugrunde liegenden Bescheids: 1. Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt kann nach § 130 Abs. 2 AO nur dann zurückgenommen werden, wenn bei seinem Erlass von einem tatsächlich nicht gegebenen Sachverhalt ausgegangen oder das im Zeitpunkt seines Erlasses geltende Recht unrichtig angewandt worden ist; eine nachträgliche Änderung der Sach- oder Rechtslage hingegen macht einen ursprünglich rechtmäßigen Verwaltungsakt grundsätzlich nicht i.S. des § 130 AO rechtswidrig, es sei denn, es läge ein Fall steuerrechtlicher Rückwirkung vor. - 2. Zur Frage, ob eine Verfügung über die Anrechnung der durch Steuerabzug erhobenen Einkommensteuer Geltung nur im Hinblick auf das Steuerschuldverhältnis beansprucht, wie es im Zeitpunkt des Erlasses der Verfügung ("Stichtag") besteht, also stillschweigend unter einer auflösenden Bedingung dergestalt steht, dass bei einer Änderung des Steuerbescheids erneut über die Anrechnung zu entscheiden ist. - 3. Eine "nachträglich eingetretene Tatsache" i.S. des § 131 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AO kann auch die steuerrechtliche Beurteilung eines Sachverhalts in einem anderen Bescheid sein, der Bindungswirkung für den zu widerrufenden Bescheid hat. - 4. Wird ein Einkommensteuerbescheid geändert, weil die in ihm erfassten Lohnzahlungen wegen Festsetzungsverjährung nicht erfasst werden dürfen, kann die mit dem Einkommensteuerbescheid verbundene Anrechnungsverfügung, welche die auf den Lohn entrichtete Lohnsteuer angerechnet hatte, widerrufen werden. - Urt.; BFH 9.12.2008, VII R 43/07; SIS 09 06 85
I. Die Kläger und Revisionskläger
(Kläger), zur Einkommensteuer 1993 zusammen veranlagte
Eheleute, wenden sich dagegen, dass der Beklagte und
Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA - ) auf den Lohn, den der
Kläger als Geschäftsführer einer GmbH (im Folgenden:
die GmbH) erhalten hat, von dieser abgeführte Lohnsteuer nicht
auf die Steuerschuld der Kläger anrechnen will.
Der Kläger hat im Streitjahr neben
Einkünften aus Gewerbebetrieb von der GmbH - einem
Tochterunternehmen einer KG, an welcher der Kläger als
Kommanditist beteiligt war und für deren
Komplementär-GmbH er ebenfalls die Geschäfte führt -
seit März ein Geschäftsführergehalt von 30.000 DM
pro Monat erhalten, wovon die GmbH rund 150.000 DM Lohnsteuer
einbehalten und an das FA abgeführt hat. Auch von dem
Geschäftsführergehalt von rund 300.000 DM jährlich,
das er von der Komplementär-GmbH erhalten hat, sind rund
110.000 DM Lohnsteuer einbehalten und abgeführt
worden.
In der von einem Steuerberater gefertigten
Einkommensteuererklärung wurden die Löhne der GmbH jedoch
nicht angegeben, sondern als „im Gewerbegewinn
enthalten“ deklariert. Dementsprechend wurden die Kläger
zunächst veranlagt. Auf die unter dem Vorbehalt der
Nachprüfung festgesetzte Einkommensteuer wurden die
vorgenannten Lohnsteuerbeträge von insgesamt rund 260.000 DM
angerechnet.
Auf der Grundlage einer im Jahre 2000 bei
dem Kläger durchgeführten Außenprüfung
änderte das FA jedoch diesen Bescheid auf der Grundlage des
Betriebsprüfungsberichts, der die monatlichen Bezüge von
30.000 DM als Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit ansah,
die Einnahmen des Klägers 1993 dementsprechend um 300.000 DM
heraufsetzte und die Auffassung vertrat, wegen einer dem
Kläger zuzurechnenden leichtfertigen Steuerverkürzung
seines Steuerberaters sei insofern keine
Festsetzungsverjährung eingetreten. In der
Anrechnungsverfügung dieses Bescheids vom 28.9.2001 wurde die
abgeführte Lohnsteuer wie zuvor angerechnet.
Der Kläger hat gegen den
geänderten Einkommensteuerbescheid Einspruch erhoben und sich
erfolgreich gegen den Vorwurf gewandt, leichtfertig die
Einkommensteuer verkürzt zu haben. Das FA hat die
Steuerfestsetzung mit Bescheid vom 23.11.2001 erneut geändert
und den Arbeitslohn in Höhe von 300.000 DM nicht mehr der
Besteuerung unterworfen. In der mit diesem Bescheid verbundenen
Anrechnungsverfügung rechnete es die hierauf entrichtete
Lohnsteuer nicht mehr an. Als die Kläger gegen diese
Anrechnungsverfügung Einspruch erhoben, erließ das FA
den in diesem Verfahren angefochtenen Abrechnungsbescheid, in dem
es an seiner Auffassung festhielt, die vorgenannte Lohnsteuer sei
auf die Einkommensteuerschuld der Kläger nicht
anzurechnen.
Hiergegen haben die Kläger erfolglos
Klage erhoben. Das Finanzgericht (FG) urteilte, nach § 36 Abs.
2 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) könnten durch
Steuerabzug erhobene Beträge nur insoweit angerechnet werden,
als sie auf bei der Veranlagung erfasste Einkünfte entfielen.
Dementsprechend habe das FA zu Recht die auf das
Geschäftsführergehalt des Klägers von der GmbH
einbehaltenen Beträge nicht angerechnet, da dieses Gehalt bei
der Einkommensteuerveranlagung in dem bestandskräftigen
Einkommensteuerbescheid vom 23.11.2001 nicht erfasst worden sei.
Die anderslautende Anrechnungsverfügung vom September 2001
habe insoweit zurückgenommen werden müssen und nach
§ 130 Abs. 2 Nr. 3 der Abgabenordnung (AO) zurückgenommen
werden können. Denn die Kläger hätten über den
Arbeitslohn des Klägers unzutreffende Angaben gemacht. Die
Frist des § 130 Abs. 3 AO sei gewahrt. Denn erst mit dem
Schreiben des Betriebsprüfers vom 29.10.2001 habe das FA davon
Kenntnis bekommen, dass die Einkommensteuerfestsetzung wegen
Festsetzungsverjährung nicht mehr geändert werden
könne; erst aufgrund dieses Schreibens habe es daher die
Rechtswidrigkeit der bisherigen Anrechnungsverfügung vom
September 2001 erkennen und diese zurücknehmen
können.
Gegen dieses Urteil richtet sich die
Revision der Kläger, die wie folgt begründet
wird:
Die Voraussetzungen des § 130 Abs. 2
AO seien nicht erfüllt, weil die Kläger die einbehaltene
Lohnsteuer zutreffend angegeben hätten. Ihre unzutreffenden
Angaben zum Arbeitslohn hätten für die Anrechnung der
einbehaltenen Lohnsteuer keinerlei Bedeutung. Jedenfalls aber sei
bei Erlass der Anrechnungsverfügung die Frist des § 130
Abs. 3 AO abgelaufen gewesen. Das FA habe aufgrund des
Außenprüfungsberichts vom 29.12.2000 umfassend Kenntnis
von den maßgeblichen Tatsachen gehabt. Es gehe zu Lasten des
FA, dass daraus nicht die richtigen Konsequenzen gezogen worden
seien, sondern der Versuch unternommen worden sei, die
Steuerfestsetzung durch den Bescheid vom September 2001 zu
ändern. Auf die zunächst von dem Außenprüfer
abgegebene rechtliche Beurteilung des Vorgangs komme es nicht an;
nicht diesem, sondern dem FA habe die rechtliche Beurteilung der
festgestellten Tatsachen oblegen. Im Übrigen sei die
Anrechnung der Lohnsteuer in dem Bescheid vom September 2001 nicht
nur verfahrensrechtlich, sondern auch materiell-rechtlich richtig
gewesen. Erst durch den Einkommensteuerbescheid vom 23.11.2001 sei
sie unrichtig geworden, wofür jedoch nicht mehr die Angaben
der Kläger in der Einkommensteuererklärung 1993
ursächlich gewesen seien.
Das FA beruft sich im Wesentlichen auf
§ 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG und § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO. Die
Frist des § 130 Abs. 3 AO sei erst in Lauf gesetzt worden, als
der zuständige Sachbearbeiter positiv den Schluss auf die
Rechtswidrigkeit des Erstattungsbescheids (gemeint: der
Anrechnungsverfügung vom 28.9.2001) gezogen habe. Da der
Betriebsprüfer die Auffassung vertreten habe, die
Festsetzungsfrist für die Einkommensteuer betrage fünf
Jahre, habe das FA zunächst den geänderten
Einkommensteuerbescheid vom 28.9.2001 erlassen und davon ausgehen
müssen, dass die Lohnsteuer anzurechnen sei.
II. Die Revision ist unbegründet und
daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der
Finanzgerichtsordnung - FGO - ). Das Urteil des FG entspricht im
Ergebnis dem Bundesrecht (§ 118 Abs. 1, § 126 Abs. 4
FGO).
1. Unrichtig ist allerdings die dem
angefochtenen Urteil zugrunde liegende Auffassung, die
Anrechnungsverfügung in dem Bescheid vom 28.9.2001 habe durch
die Anrechnungsverfügung vom 23.11.2001 bzw. den - deren
Regelung bestätigenden - angefochtenen Abrechnungsbescheid
nach § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO geändert werden dürfen,
weil jene Anrechnungsverfügung rechtswidrig und von den
Klägern durch unrichtige Angaben erwirkt sei. Die
Anrechnungsverfügung vom 28.9.2001 ist weder rechtswidrig noch
haben sie die Kläger durch unrichtige Angaben erwirkt.
Rechtswidrig und daher unter den
Voraussetzungen des § 130 AO rücknehmbar ist ein
Verwaltungsakt, wenn bei seinem Erlass von einem tatsächlich
nicht gegebenen Sachverhalt ausgegangen oder das im Zeitpunkt
seines Erlasses geltende Recht unrichtig angewandt worden ist. Eine
nachträgliche Änderung der Sach- oder Rechtslage hingegen
macht einen ursprünglich rechtmäßigen
Verwaltungsakt grundsätzlich nicht i.S. des § 130 AO
rechtswidrig, es sei denn, es läge ein Fall steuerrechtlicher
Rückwirkung vor, welche den Verwaltungsakt erfasst (vgl.
Klein/ Rüsken, AO, 9. Aufl., § 130 Rz 20; Kopp/Ramsauer,
Verwaltungsverfahrensgesetz, 10. Aufl., § 48 Rz 57).
Bei Erlass der Anrechnungsverfügung vom
28.9.2001 waren die Einkünfte des Klägers als
Geschäftsführer der GmbH bei der
Einkommensteuerveranlagung i.S. des § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG
„erfasst“; sie waren durch den
Einkommensteuerbescheid vom gleichen Tage der Einkommensbesteuerung
unterworfen worden. Dementsprechend war es rechtmäßig,
gemäß vorgenannter Vorschrift die durch Steuerabzug von
den betreffenden Geschäftsführerbezügen des
Klägers erhobene Einkommensteuer, nämlich die von der
GmbH abgeführte Lohnsteuer in Höhe von rund 150.000 DM,
auf die durch den Bescheid festgesetzte Einkommensteuerschuld der
Kläger anzurechnen. Dass der spätere Erlass eines
Steueränderungsbescheids nach § 164 AO oder nach §
173 AO keine rückwirkende Kraft hat, der
Steueränderungsbescheid vom November 2001 also die vorgenannte
Anrechnungsverfügung nicht i.S. des § 130 AO rechtswidrig
werden ließ, bedarf keiner näheren Darlegung.
Der Einkommensteuerbescheid vom September 2001
und die mit ihm verbundene Anrechnungsverfügung beruhten auch
nicht etwa i.S. des § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO auf Angaben der
Kläger, die in wesentlicher Beziehung unrichtig oder
unvollständig waren. Unvollständig waren lediglich die
Angaben in der von dem Steuerberater der Kläger abgegebenen
Einkommensteuererklärung, insofern dort die Bezüge des
Klägers als Geschäftsführer der GmbH verschwiegen
bzw. zu Unrecht als „im Gewerbegewinn enthalten“
deklariert worden waren. Durch diese Angaben ist die
Anrechnungsverfügung vom September 2001 aber nicht
„erwirkt“ worden; vielmehr beruht diese
Anrechnungsverfügung ebenso wie der
Steuerfestsetzungsbescheid, mit dem sie verbunden ist, nicht auf
der Einkommensteuererklärung der Kläger, sondern auf dem
Ergebnis einer Außenprüfung, durch welche die
Unvollständigkeit der Angaben in der
Einkommensteuererklärung aufgedeckt worden ist und durch die
das FA die Überzeugung gewonnen hat, dass die
Einkommensteuererklärung insoweit unrichtig ist. Deshalb,
nicht wegen des Inhalts der Einkommensteuererklärung, hat das
FA bei Erlass des Steueränderungsbescheids vom September 2001
die mit diesem Bescheid verbundene Anrechnungsverfügung
erlassen.
Diese wiederholt auch nicht etwa nur gleichsam
deklaratorisch die Anrechnungsverfügung, die mit dem
ursprünglichen Steuerbescheid von 1996 verbunden gewesen ist,
wenn sie dieser auch inhaltlich gleicht. Denn aufgrund des §
36 Abs. 2 Nr. 2 EStG hatte das FA in der mit dem Bescheid vom
28.9.2001 verbundenen Anrechnungsverfügung über einen
neuen, bei Erlass des Einkommensteuerbescheids von 1996 von ihm
noch gar nicht berücksichtigten Sachverhalt - nämlich die
Erfassung der Bezüge des Klägers als
Geschäftsführer der GmbH - zu entscheiden, und es fehlt
an jedem vernünftigen Anhaltspunkt dafür, dass es
darüber nicht auch tatsächlich entscheiden wollte und
mithin die Anrechnungsverfügung vom 28.9.2001 als eine solche
erneute Entscheidung über die - zu Unrecht bereits 1996
angerechnete - von der GmbH abgeführte Lohnsteuer zu verstehen
ist.
Angesichts der durch § 36 Abs. 2 Nr. 2
EStG hergestellten engen Verbindung zwischen der Anrechnung von
Steuerabzugsbeträgen und der Steuerfestsetzung erscheint
darüber hinaus zweifelhaft, ob die Anrechnungsverfügung
vom 23.11.2001 bzw. der angefochtene Abrechnungsbescheid, wovon das
FG stillschweigend ausgegangen ist, die Anrechnungsverfügung
vom 28.9.2001 überhaupt „ändert“. Denn
das setzt voraus, dass eine Verfügung über die Anrechnung
der durch Steuerabzug erhobenen Einkommensteuer gemäß
§ 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG unbeschadet der materiell-rechtlichen
Verknüpfung dieser Verfügung mit der
Einkommensteuerfestsetzung ihrem Inhalte nach Geltung nicht nur im
Hinblick auf das Steuerschuldverhältnis beansprucht, wie es
durch den nämlichen Einkommensteuerbescheid konkretisiert wird
und im Zeitpunkt des Erlasses der Verfügung
(„Stichtag“) besteht, dass die
Anrechnungsverfügung also nicht stillschweigend unter einer
auflösenden Bedingung dergestalt steht, dass bei einer
Änderung des Steuerbescheids, mit dem die
Anrechnungsverfügung verbunden ist, erneut über die
Anrechnung zu entscheiden ist. Dagegen mag allenfalls sprechen,
dass die Erfassung bestimmter Einkünfte in dem betreffenden
Einkommensteuerbescheid zwar der materiell-rechtliche Grund
für die in der Anrechnungsverfügung vorgenommenen
Anrechnung durch Steuerabzug auf diese Einkünfte erhobener
Einkommensteuer ist, dies aber in der Anrechnungsverfügung
nicht eigens zum Ausdruck kommt, sondern, soweit ersichtlich, von
den Finanzämtern ebenso wie in den Fällen des § 36
Abs. 2 Nr. 1 EStG bei der Anrechnung von
Einkommensteuer-Vorauszahlungen oder z.B. der Verrechnung von
Steuerguthaben des Steuerschuldners (welche nach dem Beschluss des
Senats vom 13.1.2005 VII B 147/04, BFHE 208, 404, BStBl II 2005,
457 = SIS 05 17 29, an der Bestandskraft einer
Anrechnungsverfügung allerdings ohnehin nicht teilnähme)
die Anrechnung kommentarlos vorgenommen wird, der Adressat also nur
aufgrund des Inhalts des Veranlagungsbescheids und des § 36
Abs. 2 Nr. 2 EStG sich dieses beschränkten Regelungsgehaltes
der Anrechnungsverfügung bewusst werden könnte.
Diese Frage kann indes dahinstehen, weil das
FA die Anrechnungsverfügung vom 28.9.2001 jedenfalls
ändern durfte, sofern dies nach den eben angestellten
Überlegungen erforderlich gewesen sein sollte.
2. Denn das FA kann sich insoweit jedenfalls
auf § 131 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AO stützen. Danach kann ein
rechtmäßiger begünstigender Verwaltungsakt, auch
nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die
Zukunft widerrufen werden, wenn die Finanzbehörde aufgrund
nachträglich eingetretener Tatsachen berechtigt wäre, den
Verwaltungsakt nicht zu erlassen, und wenn ohne den Widerruf das
öffentliche Interesse gefährdet würde.
Nach Erlass des
Einkommensteueränderungsbescheids vom 23.11.2001, in dem die
Bezüge des Klägers als Geschäftsführer der GmbH
nicht mehr der Besteuerung unterworfen worden sind, ist das FA
berechtigt, die von diesen Bezügen von der GmbH einbehaltene
und an das FA abgeführte Lohnsteuer nicht mehr
gemäß § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG anzurechnen.
Lohnsteuer wird zwar als Vorauszahlung auf die
künftige Einkommensteuerschuld gezahlt, was es nahelegt, dass
das FA Lohnsteuerzahlungen nur behalten darf, wenn und soweit es
Einkommensteuer festgesetzt hat oder noch festsetzen kann. §
36 Abs. 2 Nr. 2 EStG bewirkt indes, dass diese Abhängigkeit im
Ergebnis aufgehoben ist. Die Vorschrift will eine doppelte
Besteuerung von Lohneinkünften vermeiden, ohne dass die auf
sie (voraus-)geleistete (Lohn-)Steuer in einem gesonderten
Verfahren erstattet werden muss, nachdem die
Einkommensteuerveranlagung erfolgt und dabei auf die Löhne
Einkommensteuer festgesetzt worden ist. Ist jedoch der Lohn bei der
Einkommensteuerveranlagung nicht mit Steuer belastet worden, weil
die betreffenden Einkünfte bei der Einkommensteuerveranlagung
nicht erfasst worden sind, liefe es den Gesichtspunkten der
Steuergerechtigkeit und der möglichst zutreffenden
Gesamtbelastung des Steuerpflichtigen zuwider, gleichwohl die
Lohnsteuer auf seine Einkommensteuerschuld anzurechnen (vgl.
Urteile des Senats vom 19.12.2000 VII R 69/99, BFHE 194, 162, BStBl
II 2001, 353 = SIS 01 06 89, und vom 10.1.1995 VII R 41/94, BFH/NV
1995, 779). Deshalb hat der Senat für Fälle, in denen die
Steuerfestsetzung aus formalen Gründen (z.B.
Festsetzungsverjährung) nicht mehr in der materiell-rechtlich
gebotenen Weise geändert werden kann, erkannt, im Wege des
Lohnsteuerabzugs erhobene Einkommensteuer dürfe nur in der
Höhe auf die festgesetzte Steuerschuld angerechnet werden,
soweit die zugehörigen, mit dem Steuerabzug belasteten
Einkünfte ihrem Umfang nach bei der Veranlagung
tatsächlich erfasst worden sind. Steuerabzüge, die auf
Einkunftsteile entfallen, die bei der Veranlagung nicht erfasst
worden sind, sind von der Anrechnung ausgeschlossen.
So liegt es auch hier. Die von der GmbH an den
Kläger gezahlten Löhne sind nicht der Besteuerung
unterworfen worden und können ihr auch nicht mehr unterworfen
werden. Folglich widerspräche es materieller
Steuergerechtigkeit, vor allem aber dem Sinn des § 36 Abs. 2
Nr. 2 EStG, sie gleichwohl auf die anderweit begründete
Einkommensteuerschuld der Kläger anzurechnen.
Die Änderung der
Einkommensteuerfestsetzung in dem Bescheid vom November 2001 ist
auch i.S. des § 131 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AO eine
„nachträglich eingetretene Tatsache“. Der
Begriff Tatsache bezeichnet in dieser Vorschrift dasselbe wie in
§ 173 AO (vgl. Klein/Rüsken, a.a.O., § 131 Rz 11;
Wernsmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 131 AO Rz 29).
„Tatsache“ ist demnach nicht nur im
umgangssprachlichen Sinne rein Tatsächliches, sondern auch die
steuerrechtliche Beurteilung eines Sachverhalts in einem anderen
Bescheid - hier dem Steuerfestsetzungsbescheid -, wenn dieser
Bescheid Bindungswirkung für den gemäß § 131
AO zu widerrufenden Bescheid hat (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs
- BFH - vom 13.1.2005 II R 48/02, BFHE 208, 392, BStBl II 2005, 451
= SIS 05 18 64; Klein/Rüsken, a.a.O., § 173 Rz 27). So
liegt es wie ausgeführt hier: Inwiefern die durch Steuerabzug
erhobene Einkommensteuer auf die festgesetzte Einkommensteuer
anzurechnen ist, richtet sich gemäß § 36 Abs. 2 Nr.
2 EStG danach, ob die betreffenden Bezüge bei der Veranlagung
„erfasst“ worden sind, mithin nach dem Inhalt
des Veranlagungsbescheids. Wird nach Erlass einer
Anrechnungsverfügung der Veranlagungsbescheid geändert
und werden dabei bisher erfasste Einkünfte nicht mehr erfasst,
so ist dies folglich eine nachträglich eingetretene Tatsache,
welche die Finanzbehörde nach § 131 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3
AO zur Änderung der bisherigen Anrechnungsverfügung
berechtigt.
Der Widerruf der Anrechnungsverfügung vom
28.9.2001 ist schließlich auch durch das öffentliche
Interesse an der materiell richtigen Einkommensbesteuerung der
Kläger geboten. Dieses Interesse zu bejahen bedarf es
nämlich keiner schwerwiegenden Belange der Allgemeinheit (vgl.
Kopp/Ramsauer, a.a.O., § 49 Rz 48); denn bei einem
Verwaltungsakt, der - wie eine Anrechnungsverfügung -
erkennbar für das Erhebungsverfahren rechtliche Folgerungen
aus einer bestimmten ihm zugrunde liegenden Steuerfestsetzung
zieht, muss der Begünstigte damit rechnen, dass ein solcher
Verwaltungsakt geänderten Entscheidungen im
Veranlagungsverfahren angepasst werden wird, so dass sein Vertrauen
in den Bestand der ursprünglichen Anrechnungsverfügung,
um dessen Schutz es § 131 AO geht, grundsätzlich das
öffentliche Änderungsinteresse, das wie in diesem Fall
auch ein lediglich fiskalisches sein kann, nicht
überwiegt.
3. Dem mithin dem Grunde nach gerechtfertigten
Widerruf der Anrechnungsverfügung vom September 2001 steht
auch nicht entgegen, dass dieser verspätet erfolgt wäre.
Gemäß § 131 Abs. 2 Satz 2 AO ist zwar bei einem
Widerruf eines Verwaltungsakts § 130 Abs. 3 AO entsprechend
anzuwenden. Der Widerruf muss danach innerhalb eines Jahres seit
dem Zeitpunkt erfolgen, zu dem das FA von den Tatsachen Kenntnis
erhalten hat, welche den Widerruf rechtfertigen. Diese Vorschrift
normiert jedoch - anders als es nach ihrem Wortlaut auf den ersten
Blick erscheinen mag - keine Prüfungspflicht, innerhalb derer
das FA ihm bekannte Tatsachen rechtlich zu bewerten und aus ihnen
die gebotenen Schlussfolgerungen zu ziehen hätte, sondern
lediglich eine Entscheidungsfrist. Deshalb beginnt die vorgenannte
Jahresfrist erst dann, wenn das FA tatsächlich die Erkenntnis
gewonnen hat, dass ein Verwaltungsakt zurückgenommen bzw.
widerrufen werden kann (vgl. Beschluss des
Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - vom 19.12.1984 GrSen 1 und
2/84, BVerwGE 70, 356, und daran anschließend die
ständige Rechtsprechung des BFH, vgl. u.a. Urteil vom
28.9.1993 VII R 107/92, BFH/NV 1994, 751, und Beschluss vom
21.10.1999 VII B 133/99, BFH/NV 2000, 490 = SIS 00 54 14). Deshalb
kommt es im Streitfall nicht darauf an, ob das FA, d.h. in diesem
Zusammenhang: der für die Besteuerung der Kläger
zuständige Sachbearbeiter (vgl. BVerwG-Beschluss in BVerwGE
70, 356), sogleich hätte erkennen können, dass aufgrund
des bei der Außenprüfung aufgedeckten Sachverhalts eine
Änderung des Einkommensteuerbescheids von 1996 wegen
Festsetzungsverjährung nicht mehr möglich ist. Denn dass
er diese Erkenntnis und damit die Erkenntnis, dass die auf die
Bezüge des Klägers als Geschäftsführer der GmbH
abgeführte Lohnsteuer auf die Einkommensteuerschuld der
Kläger nicht angerechnet werden darf, nicht anhand des
Außenprüfungsberichts, sondern erst im weiteren Verlauf
des Verfahrens gewonnen hat, steht nach den dazu vom FG
getroffenen, für den erkennenden Senat nach § 118 Abs. 2
FGO bindenden Feststellungen fest. Mithin ist, wie das FG richtig
erkannt hat, die Jahresfrist des § 130 Abs. 3 AO vom FA
gewahrt worden.