Innergemeinschaftliche Lieferung, Freigabeerklärung nach Zahlungseingang: 1. Eine Lieferung gilt auch dann bei Beginn der Versendung in einem anderen Mitgliedstaat als dort ausgeführt (§ 3 Abs. 6 Satz 1 UStG), wenn die Person des inländischen Abnehmers dem mit der Versendung Beauftragten im Zeitpunkt der Übergabe der Ware nicht bekannt ist, aber mit hinreichender Sicherheit leicht und einwandfrei aus den unstreitigen Umständen, insbesondere aus Unterlagen abgeleitet werden kann (Änderung der Rechtsprechung). - 2. Dem steht nicht entgegen, dass die Ware von dem mit der Versendung Beauftragten zunächst in ein inländisches Lager gebracht und erst nach Eingang der Zahlung durch eine Freigabeerklärung des Lieferanten an den Erwerber herausgegeben wird. - Urt.; BFH 30.7.2008, XI R 67/07; SIS 08 39 10
I. Die Klägerin und
Revisionsklägerin (Klägerin) ist in Großbritannien
ansässig. Sie lieferte im Streitjahr 1998 Waren an den in
Deutschland ansässigen Abnehmer HS, indem sie diese aus
Großbritannien durch Einschaltung eines Spediteurs in das
Inland transportierte.
Aufgrund einer Bestellung des HS vom
6.4.1998 beauftragte die Klägerin die Spedition M, die Ware in
das Inland nach X zu befördern. Der Speditionsauftrag erfolgte
unter der Referenz „Ship to hold Our Ref 980422 HS“.
Empfänger der Sendung war die D-GmbH, eine
Schwestergesellschaft der Klägerin. Mit Schreiben vom 8.4.1998
beauftragte die Klägerin die D-GmbH, die Ware erst nach einer
gesondert zu erteilenden Freigabe an HS zu übergeben. Nach
Bezahlung der Ware durch HS erteilte die Klägerin die Freigabe
gegenüber der D-GmbH, die die Ware im Anschluss hieran an HS
übergab.
Eine zweite Bestellung des HS vom 21.4.1998
ergänzte die erste Lieferung. Die Versendung erfolgte wiederum
über die Spedition M aus Großbritannien in das Lager der
D-GmbH im Inland. Die Klägerin erteilte die Freigabe wiederum
nach Eingang der von HS geschuldeten Zahlung.
Auch aufgrund einer dritten Bestellung vom
27.4.1998 versendete die Klägerin Ware aus
Großbritannien in das Inland.
Die Klägerin ging davon aus, dass es
sich um innergemeinschaftliche Lieferungen aus Großbritannien
handele, die gegen Entgelt an den Abnehmer HS erfolgt seien.
Demgegenüber lagen nach Auffassung des Beklagten und
Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA - ) steuerpflichtige
Inlandslieferungen der Klägerin vor. Die Versendung an den
Abnehmer habe erst im Inland begonnen.
Einspruch und Klage waren erfolglos. Das
Finanzgericht (FG) stützte die Klageabweisung darauf, dass die
Versendung an den Abnehmer nicht in Großbritannien, sondern
erst im Inland begonnen habe. Da die Aushändigung der Ware im
Anschluss an den Transport in das Inland von einer durch die
Klägerin zu erteilenden Freigabe abhängig gewesen sei,
habe die Klägerin auch nach Beginn der Versendung den Zugriff
auf die Ware behalten. Die Ware habe erst nach der Bezahlung durch
den Abnehmer an diesen ausgehändigt werden dürfen. Die
Übergabe der Ware habe letztlich nur Zug um Zug gegen Zahlung
des Kaufpreises erfolgen sollen.
Das Urteil des FG ist in EFG 2007, 1282 =
SIS 07 26 90 veröffentlicht.
Mit ihrer Revision rügt die
Klägerin die Verletzung von § 3 Abs. 6 Satz 1 des
Umsatzsteuergesetzes 1993 (UStG) in der im Streitjahr geltenden
Fassung. Die Versendung einer verkauften Ware in ein sicheres Lager
am Ende der Warenbewegung und die Herausgabe der Ware nach
Sicherung der Kaufpreiszahlung stehe der Annahme einer
Versendungslieferung nicht entgegen. Bei einem
vereinbarungsgemäßen Verlauf des Geschehens habe sie die
Freigabe erteilen müssen, da HS verpflichtet gewesen sei, den
Kaufpreis zu zahlen. An ihrem Vortrag zur fehlenden Steuerpflicht
einer weiteren Lieferung aufgrund einer dritten Bestellung des HS
vom 27.4.1998, die nach dem Urteil des FG gleichfalls zu einer
steuerpflichtigen Inlandslieferung führte, hat die
Klägerin im Revisionsverfahren nicht festgehalten.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des
FG aufzuheben und den Umsatzsteuerbescheid 1998 vom 2.8.2000 in
Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 28.3.2002 dahingehend zu
ändern, dass Umsatzsteuer in Höhe von 108.274,45 EUR
festgesetzt wird.
Das FA tritt der Revision entgegen und
beantragt, die Revision als unbegründet
zurückzuweisen.
Zur Begründung verweist das FA im
Wesentlichen auf das nach seiner Auffassung zutreffende
FG-Urteil.
II. Die Revision der Klägerin ist
begründet; das angefochtene Urteil ist aufzuheben und der
Klage ist im Wesentlichen stattzugeben (§ 126 Abs. 3 Satz 1
Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO - ). Entgegen der Ansicht der
Vorinstanz sind die beiden in der Revision streitigen Lieferungen
im Inland nicht steuerbar, da die Versendung der gelieferten
Gegenstände in Großbritannien begann.
1. Nach § 3 Abs. 6 Satz 1 UStG gilt die
Lieferung im Fall der Beförderung oder Versendung des
gelieferten Gegenstands durch den Lieferer, den Abnehmer oder durch
einen von diesen beauftragten Dritten dort als ausgeführt, wo
die Beförderung oder Versendung „an den
Abnehmer“ oder in dessen Auftrag an einen Dritten
beginnt. Daraus folgt, dass der Abnehmer bei Beginn der Versendung
oder Beförderung feststehen muss (vgl. z.B. Urteil des
Bundesfinanzhofs - BFH - vom 12.9.1991 V R 118/87, BFHE 165, 312,
BStBl II 1991, 937 = SIS 91 24 21). Die Versendung beginnt
gemäß § 3 Abs. 6 Satz 4 UStG mit der Übergabe
des Gegenstands an den Beauftragten. Danach muss im Falle der
Versendung der Abnehmer bereits im Zeitpunkt der Übergabe des
Liefergegenstands feststehen.
a) Zwar hat der BFH mit dem vom FG zitierten
Urteil vom 10.11.1966 V 73/64 (BFHE 87, 162, BStBl III 1967, 101 =
SIS 67 00 57) zur Rechtslage nach § 5 der
Durchführungsbestimmungen zum Umsatzsteuergesetz - UStDB -
(BGBl I 1951, 796) entschieden, dass eine Versendung an den
Abnehmer nur vorliegt, wenn der
Frachtführer verpflichtet ist, den Gegenstand der Lieferung an
den Abnehmer auszuhändigen und dieser dem
Beförderungsunternehmer gegenüber berechtigt ist, den
Gegenstand der Lieferung in Empfang zu nehmen. Für diese
Verpflichtung und Berechtigung komme es auf die anlässlich der
Beförderung ausgestellten Papiere und Urkunden an. Nur bei
Bezeichnung des Abnehmers im Ladeschein läge entsprechend dem
Wortlaut und dem Sinn des § 5 Abs. 2 UStDB eine Versendung an
den Abnehmer vor, da nur dann dem Abnehmer aufgrund der im
Zusammenhang mit der Beförderung ausgestellten Urkunden die
Verfügungsmacht an dem Gegenstand verschafft werde.
An dem zu § 5 UStDB ergangenen BFH-Urteil
in BFHE 87, 162, BStBl III 1967, 101 = SIS 67 00 57 ist für
die nach dem UStG bestehende Rechtslage aber nicht festzuhalten.
Nach § 5 Abs. 1 UStDB konnte eine Versendung nur durch einen
Frachtführer, wie z.B. die Eisenbahn oder die Post, oder einen
Verfrachter, wie z.B. einen Reeder, erfolgen. Gleichgestellt war
das Besorgen einer derartigen Beförderung durch einen
Spediteur. Bei der Versendung an den Abnehmer galt die Lieferung
nach § 5 Abs. 2 UStDB mit der Übergabe an den Spediteur,
Frachtführer oder Verfrachter als ausgeführt.
Demgegenüber kann die Versendung gemäß § 3
Abs. 6 Satz 3 UStG mit beliebigen Beauftragten und nicht nur mit
Spediteuren, Frachtführern und Verfrachtern durchgeführt
werden. Daher kommt es anders als nach § 5 UStDB für das
Vorliegen einer Versendung gemäß § 3 Abs. 6 UStG
nicht zwingend auf das Vorliegen und den Inhalt von
Frachtdokumenten etc. an. Eine Versendungslieferung kann somit auch
vorliegen, wenn dem selbständigen Beauftragten nur ein
mündlicher Auftrag zur Beförderung an den Abnehmer
erteilt wird.
Kann an der Rechtsprechung, dass sich die
Person des Abnehmers aus den Frachtdokumenten ergeben muss, nicht
mehr festgehalten werden, ist auch die Rechtsauffassung des V.
Senats in dem Urteil vom 24.2.1994 V R 35/91 (BFH/NV 1995, 555),
bei einer Versendung müsse dem Beauftragten im Zeitpunkt der
Übergabe des Gegenstands der Name des Abnehmers bekannt sein,
in Frage gestellt. Denn der V. Senat hat sich zur Begründung
dieser Auffassung auf das BFH-Urteil in BFHE 87, 162, BStBl III
1967, 101 = SIS 67 00 57 berufen. Es sind keine zwingenden
Gründe dafür ersichtlich, bei einer Versendung für
den Nachweis, dass der Abnehmer bei der Übergabe der Ware an
den Beauftragten festgestanden habe, ausnahmslos zu verlangen, dass
der Abnehmer dem Beauftragten bekannt sein muss. Vielmehr reicht es
aus, wenn sich aus den unstreitigen Umständen, insbesondere
aus Unterlagen mit hinreichender Sicherheit leicht und einwandfrei
ableiten lässt, dass der Abnehmer zum maßgeblichen
Zeitpunkt festgestanden hat (vgl. auch Nieskens in
Rau/Dürrwächter, Umsatzsteuergesetz, § 3 Rz 3122
ff.).
b) Gegen die Annahme, der Abnehmer habe bei
der Übergabe der Ware festgestanden, spricht auch nicht eine
„shipment on hold“-Klausel, die der Sicherung
des Kaufpreises dient.
Nach § 3
Abs. 6 UStG sind Beförderung und Versendung für Zwecke
der Lieferortbestimmung gleichgestellt. Beförderung und Versendung unterscheiden sich
nur im Hinblick auf die Person, die die Beförderung
durchführt. Daher sind an das Vorliegen einer
Versendung keine strengeren Anforderungen als an eine
Beförderung zu stellen.
Im Fall der
Beförderung ist es dem Lieferer auch nach Beginn der
Beförderung möglich, über den Gegenstand der
Lieferung neu zu disponieren und den Gegenstand wie im Fall einer
sog. Umkartierung an einen anderen Abnehmer zu liefern. Die
bloße Möglichkeit zur Umkartierung steht aber dem
Vorliegen einer Beförderungslieferung, deren Ort sich am
Beginn der Beförderung befindet, nicht entgegen (vgl. hierzu
z.B. Martin in Sölch/Ringleb, Umsatzsteuer, § 3 Rz 462).
Dementsprechend kommt es für das
Vorliegen einer Versendung nach § 3 Abs. 6 Satz 1 UStG
entgegen dem zu § 5 UStDB ergangenen BFH-Urteil in BFHE
87, 162, BStBl III 1967, 101 = SIS 67 00 57 nicht darauf an, ob der
Beauftragte verpflichtet ist, den
Gegenstand der Lieferung an den Abnehmer auszuhändigen.
Aufgrund der Gleichrangigkeit von Versendung und Beförderung
für Zwecke der Lieferortbestimmung gilt eine Lieferung daher
bei einer Versendung auch dann am Ort der Übergabe an den
Beauftragten als ausgeführt, wenn der Gegenstand erst nach
Erteilung einer durch den Lieferer gesondert zu erklärenden
Freigabe („shipment on hold“) an den Abnehmer
übergeben werden darf.
Dient die „shipment on
hold“-Klausel darüber hinaus dazu, die
Kaufpreiszahlung zu sichern, führt dies im Übrigen nur
dazu, dass der Lieferung der Charakter einer Nachnahmelieferung
zukommt. Auch bei einer Versendungslieferung per Nachnahme, bei der
die Übergabe an den Abnehmer davon abhängt, dass dieser
den Kaufpreis entrichtet, gilt die Lieferung bereits an dem Ort als
ausgeführt, an dem die Ware an den Beauftragten übergeben
wird, ohne dass der Vorbehalt der Kaufpreiszahlung dem
entgegensteht.
c) An der sich nach nationalem Recht
ergebenden Rechtslage bestehen keine Zweifel im Hinblick auf das
Gemeinschaftsrecht und das Gebot richtlinienkonformer Auslegung.
Nach Art. 8 Abs. 1 Buchst. a Satz 1 der Sechsten Richtlinie
77/388/EWG des Rates vom 17.5.1977 zur Harmonisierung der
Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern
gilt als Ort der Versendung für den Fall, dass der Gegenstand
vom Lieferer, vom Erwerber oder von einer dritten Person versandt
oder befördert wird, der Ort, an dem sich der Gegenstand zum
Zeitpunkt des Beginns der Versendung oder Beförderung an den
Erwerber befindet. Hieraus ergibt sich keine abweichende
Beurteilung.
d) Der V. Senat hat auf Anfrage einer
Abweichung von seiner Rechtsprechung in den Urteilen in BFHE 87,
162, BStBl III 1967, 101 = SIS 67 00 57 und in BFH/NV 1995, 555
zugestimmt.
2. Danach sind im Streitfall entgegen der von
der Vorinstanz vertretenen Auffassung die beiden in der Revision
streitigen Lieferungen nach § 3 Abs. 6 UStG im Inland nicht
steuerbar. Denn bereits bei der Übergabe an die Spedition und
damit bei Beginn der Versendung stand fest, dass HS Abnehmer der
Lieferungen ist. Dies ergibt sich aus den unstreitigen
Gesamtumständen, insbesondere aus der Übergabe der von HS
zuvor bestellten Ware an die Spedition sowie aus der in zeitlichem
Zusammenhang mit dieser Übergabe erfolgten Weisung an die
D-GmbH, die zu ihr transportierte Ware nach einer gesondert zu
erteilenden Freigabe an HS herauszugeben. Unerheblich ist
demgegenüber, ob der Spedition M bereits bei Beginn der
Beförderung in Großbritannien bekannt war, dass die Ware
über die ihr als Empfänger benannte D-GmbH letztlich an
HS zu übergeben war.
3. Da das FG von anderen Grundsätzen
ausgegangen ist, war sein Urteil aufzuheben. Die Sache ist
spruchreif, so dass der Senat in der Sache selbst entscheiden kann
(§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FGO). Steuerpflichtig war im Inland
nur die dritte Lieferung, deren Steuerpflicht in der Revision nicht
mehr angezweifelt wurde. Die hierfür entstehende Steuer
beläuft sich auf 215.106 DM (109.981,95 EUR). Die
Wechselkursumrechnung beruht auf § 16 Abs. 6 UStG und dem
für den Kalendermonat der verbleibenden steuerpflichtigen
Lieferung geltenden Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen
vom 4.5.1998 IV C 4 - S 7329 - 10/98 (BStBl I 1998, 383 = SIS 98 12 28).