Leichtfertige Steuerverkürzung, Haftung, Festsetzungsfrist: Die Festsetzungsfrist für den Erlass eines Haftungsbescheids ist gemäß § 191 Abs. 3 Satz 2 2. Halbsatz AO bei leichtfertiger Steuerverkürzung nur in den Fällen auf fünf Jahre verlängert, in denen die Haftungsinanspruchnahme auf § 70 AO beruht, nicht aber für jeden Fall der Haftung, dem eine leichtfertige Steuerverkürzung zugrunde liegt, also auch nicht bei der Haftung gemäß § 69 AO (Klarstellung der Rechtsprechung). - Urt.; BFH 22.4.2008, VII R 21/07; SIS 08 28 86
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte
(Kläger) war gemeinsam mit dem Gesellschafter W.
Geschäftsführer einer GmbH. Wegen größerer
Forderungsausfälle geriet die GmbH in erhebliche
wirtschaftliche Schwierigkeiten mit der Folge, dass auf Antrag der
beiden Geschäftsführer im Mai 1998 das
Gesamtvollstreckungsverfahren eröffnet und nach Verteilung des
Erlöses im Dezember 2002 eingestellt wurde. Die zur Tabelle
angemeldeten Forderungen des Beklagten und Revisionsklägers
(Finanzamt - FA - ) wurden bei der Verteilung des Erlöses
nicht berücksichtigt. Im Juli 2003 ist die GmbH wegen
Vermögenslosigkeit von Amts wegen im Handelsregister
gelöscht worden.
Nachdem die GmbH die
Umsatzsteuererklärung 1994 bis zu der ihr eingeräumten
Frist, dem 30.4.1996, nicht abgegeben hatte, erließ das FA im
Oktober 1996 einen Schätzungsbescheid auf der Grundlage der
Voranmeldungen. Steuerrückstände gab es zu dieser Zeit
nicht. Die daraufhin im September 1997 eingereichte
Umsatzsteuererklärung wies eine gegenüber der
Schätzung erheblich höhere
Umsatzsteuerbemessungsgrundlage aus. Die darauf
zurückzuführende Nachzahlung konnte die GmbH wegen
erheblicher Forderungsausfälle und daraus folgender
Zahlungsschwierigkeiten nicht mehr leisten.
Wegen dieser Steuerrückstände der
GmbH nahm das FA die Geschäftsführer mit Bescheid vom
Dezember 2001 gemäß § 69 i.V.m. § 34 der
Abgabenordnung (AO) - begrenzt auf eine geschätzte
Tilgungsquote von 70 % - in Haftung.
Der Einspruch des Klägers gegen den
Haftungsbescheid blieb erfolglos.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt
(vgl. SIS 07 26 29). Zwar habe der Kläger grob fahrlässig
seine Pflichten als Geschäftsführer verletzt, so dass er
dem Grunde nach für Steuerschulden der GmbH habe in Haftung
genommen werden dürfen, seiner Inanspruchnahme stehe jedoch
der Eintritt der Festsetzungsverjährung entgegen, die für
den Erlass des auf § 69 AO gestützten Haftungsbescheids
gemäß § 191 Abs. 3 Satz 2 AO vier Jahre betrage.
Die Festsetzungsfrist in § 191 Abs. 3 Satz 2 AO sei nur dann
von vier auf fünf bzw. zehn Jahre verlängert, wenn der
Haftungsbescheid auf § 70 AO oder § 71 AO gestützt
sei. In anderen Haftungsfällen - wie hier nach § 69 AO -
bleibe es bei der vierjährigen Festsetzungsfrist, auch wenn
die Steuer tatsächlich hinterzogen oder leichtfertig
verkürzt worden sei.
Mit seiner Revision rügt das FA, diese
Auffassung des FG verletze Bundesrecht und beruft sich auf die
entgegenstehende Entscheidung des V. Senats des Bundesfinanzhofs
(BFH) in einem Verfahren der Aussetzung der Vollziehung - AdV -
(Beschluss vom 7.2.2002 V B 86/01, BFH/NV 2002, 755 = SIS 02 67 05), wonach die Festsetzungsfrist für den Erlass eines auf
§ 69 AO gestützten Haftungsbescheids gegen einen
Geschäftsführer bei leichtfertiger Steuerverkürzung
fünf Jahre betrage. Im Streitfall sei der Haftungsbescheid
innerhalb der Festsetzungsfrist von fünf Jahren und somit zu
Recht ergangen.
Eine solche Auslegung der Vorschrift des
§ 191 Abs. 3 Satz 2 AO sei nach dem Wortlaut möglich und
zudem gerechtfertigt.
Die Verlängerung der
Festsetzungsverjährung für die Haftung nach § 70 AO
beziehe sich ausdrücklich nur auf Fälle der
Steuerhinterziehung; dann verlängere sich die
Festsetzungsfrist auf zehn Jahre. Gleiches gelte für eine
Haftung nach § 71 AO, die ebenfalls bei Steuerhinterziehung in
Frage komme. Die Verlängerung der Festsetzungsfrist auf
fünf Jahre für Haftungsfälle bei Vorliegen einer
leichtfertigen Steuerverkürzung sei nach dem Wortlaut der Norm
nicht an das Vorliegen einer Haftung nach § 70 AO gebunden,
sondern neutral formuliert. Infolgedessen gelte die
Verlängerung der Festsetzungsverjährung auch in
Fällen, in denen eine leichtfertige Steuerverkürzung
vorliegt und - mangels Vorliegens einer gesonderten
Haftungsvorschrift für Personen, die die leichtfertige
Steuerverkürzung begehen - die Haftungsinanspruchnahme dieser
Personen nach § 69 AO erfolge.
Diese Auslegung der Vorschrift entspreche
dem Willen des Gesetzgebers. Einer der Kernpunkte der neuen
Abgabenordnung sei die Verkürzung der allgemeinen
Festsetzungsverjährung, die nach dem alten Gesetz fünf
Jahre betragen habe, auf vier Jahre (§ 169 AO) gewesen.
Ausnahmen seien jedoch für alle Fälle einer
Steuerhinterziehung und einer leichtfertigen Steuerverkürzung
zugelassen worden. Während für die Steuerhinterziehung
die Festsetzungsfrist weiterhin zehn Jahre habe betragen sollen,
sei eine Festsetzungsfrist von fünf Jahren bei einer
leichtfertigen Steuerverkürzung neu eingeführt worden
(Hinweis auf BTDrucks VI/1982, S. 44, EAO 1974 § 150, S. 94
unter III. Grundzüge des Entwurfs, 2., vorletzter Absatz).
Nach der Gesetzesbegründung zu § 150 AO (heute § 169
AO) sei die verlängerte Festsetzungsfrist bei leichtfertiger
Steuerverkürzung zum Ausgleich der dadurch erschwerten
richtigen Steuerfestsetzung auch dann geboten, wenn die Tat nicht
durch den Steuerschuldner begangen worden sei (BTDrucks VI/1982, S.
150).
Nichts anderes könne auch bei der
Auslegung des § 191 Abs. 3 Satz 2 AO gelten. Eine
Steuerverkürzung erschwere die Feststellung der richtigen
Steuer eben auch in den Fällen, die dann zu einer Haftung nach
§§ 69 ff. AO
führten und zwar unabhängig davon, welcher der
Haftungstatbestände durch den Haftenden nun erfüllt
worden sei.
Unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten
könne nicht befriedigen, dass sich die Festsetzungsfrist
für den Erlass eines Haftungsbescheids gegen die Vertretenen
nach § 70 AO auch bei leichtfertiger Steuerverkürzung
ihrer Vertreter verlängere, während die eigentlichen
Täter, nämlich die Vertreter (bei leichtfertiger
Steuerverkürzung) nach den Vorschriften der §§ 69,
34 AO nur vier Jahre in Haftung genommen werden
könnten.
II. Die Revision ist unbegründet. Das
Urteil des FG entspricht dem Bundesrecht (§ 118 Abs. 1 der
Finanzgerichtsordnung - FGO - ).
Das FA hat den Kläger als
Geschäftsführer gemäß § 191 Abs. 1 Satz 1
i.V.m. §§ 69, 34 AO wegen der Abgabenrückstände
der von ihm vertretenen GmbH aus dem Jahr 1994 in Haftung genommen.
Die revisionsrechtliche Prüfung der Rechtmäßigkeit
dieses Bescheids nach Grund und Höhe erübrigt sich hier,
da der Inanspruchnahme des Klägers, wie das FG zu Recht
erkannt hat, der Eintritt der Festsetzungsverjährung
gemäß § 191 Abs. 3 Satz 2 AO entgegensteht.
1. Nach § 191 Abs. 3 Satz 2 AO
beträgt die Festsetzungsfrist für den Erlass von
Haftungsbescheiden regelmäßig vier Jahre, „in
den Fällen des § 70 bei Steuerhinterziehung zehn Jahre,
bei leichtfertiger Steuerverkürzung fünf Jahre, in den
Fällen des § 71 zehn Jahre“.
Nach den mit der Revision nicht angegriffenen
und damit für den Senat bindenden Feststellungen des FG war
die vierjährige Festsetzungsfrist bei Erlass des
Haftungsbescheids im Dezember 2001 für die in die Haftung
einbezogenen Steuern bereits abgelaufen. Dagegen wäre der
Bescheid bei Annahme einer fünf- oder zehnjährigen
Festsetzungsfrist noch rechtzeitig ergangen. Die Voraussetzungen
des verlängerten Verjährungszeitraums in § 191 Abs.
3 Satz 2 2. Halbsatz AO liegen jedoch nicht vor.
Die Verlängerung auf zehn Jahre scheitert
schon am insoweit eindeutigen Wortlaut der Regelung, da das FA den
Kläger nicht wegen Steuerhinterziehung nach § 71 AO in
Haftung genommen hat.
Ob das Verhalten des Klägers den
Tatbestand einer leichtfertigen Steuerverkürzung (§ 378
AO) erfüllt, wie vom FA unterstellt, bedarf keiner
Klärung. Denn auch wenn das der Fall wäre, hätte
sich die Verjährungsfrist für den Erlass des auf
§§ 69, 34 AO gestützten Haftungsbescheids nicht
verlängert.
Schon die Fassung des § 191 Abs. 3 Satz 2
2. Halbsatz AO spricht dagegen, dass sich bei leichtfertiger
Steuerverkürzung die Festsetzungsfrist auf fünf Jahre
unabhängig davon verlängert, ob die
Haftungsinanspruchnahme auf § 70 AO beruht. Die Formulierung
„in den Fällen des § 70 bei Steuerhinterziehung
zehn Jahre, bei leichtfertiger Steuerverkürzung fünf
Jahre, in den Fällen des § 71 zehn Jahre“
schließt an die Regelung des Normalfalls der
vierjährigen Festsetzungsfrist in § 191 Abs. 3 Satz 2 1.
Halbsatz AO an. Dann ist es nur folgerichtig, dass die besonderen
Verjährungsfristen im zweiten Halbsatz die beiden besonderen
Haftungsnormen der AO, nämlich § 70 AO und § 71 AO
betreffen.
Die gewählte sprachliche Fassung greift
außerdem offensichtlich die Formulierung des § 70 AO
auf, wonach sowohl die Steuerhinterziehung (§ 370 AO) als auch
die leichtfertige Steuerverkürzung (§ 378 AO) durch den
Vertreter die Haftung des Vertretenen begründet. Das macht
deutlich, dass die verlängerte Festsetzungsfrist nur in dem
Fall der Haftung des Vertretenen (schon) bei einer leichtfertigen
Steuerverkürzung (des Vertreters) normiert ist, nicht aber
für jeden Fall der Haftung, dem eine leichtfertige
Steuerverkürzung zugrunde liegt, also auch nicht im Streitfall
bei der Haftung gemäß § 69 AO (BFH-Beschluss vom
4.9.2002 I B 145/01, BFHE 199, 95, BStBl II 2003, 223 = SIS 02 97 52; Boeker in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 191 AO Rz 149;
Kruse in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, §
191 AO Rz 68; Dumke in Schwarz, AO, § 191 Rz 58).
Für die Richtigkeit dieses
Verständnisses des § 191 Abs. 3 Satz 2 2. Halbsatz AO
spricht die Gesetzesbegründung zu § 172 Abs. 2 AO (heute
§ 191 Abs. 3 AO). Dort heißt es: „Die
Festsetzungsfrist beträgt drei (heute vier) Jahre, soweit
nicht in den Fällen der §§ 70 und 71 die fünf-
oder zehnjährige Festsetzungsfrist in Betracht
kommt“ (BTDrucks VI/1982, S. 159 f., Zu § 172). Von
einer Verlängerung der Frist in anderen Fällen,
insbesondere bei Geschäftsführerhaftung wegen
leichtfertiger Steuerverkürzung, ist nicht die Rede.
Angesichts dieser speziellen
Gesetzesbegründung besteht keine Veranlassung, auf die
Erwägungen zur Einführung des § 150 AO (heute §
169 AO) zurückzugreifen.
Zwar trifft es zu, dass mit § 169 AO
neben der allgemeinen Festsetzungsverjährung von vier Jahren
und der zehnjährigen Festsetzungsfrist für die
Steuerhinterziehung eine gesonderte fünfjährige
Festsetzungsfrist bei einer leichtfertigen Steuerverkürzung
neu eingeführt wurde (vgl. BTDrucks VI/1982, S. 44, EAO 1974
§ 150, S. 94, unter III. Grundzüge des Entwurfs, 2.,
vorletzter Absatz) und damit auch die durch die leichtfertige
Steuerverkürzung eingetretene Erschwernis der richtigen
Steuerfestsetzung zum Teil ausgeglichen werden sollte,
unabhängig davon, wer jeweils der Täter ist (BTDrucks
VI/1982, S. 150, Zu § 150 AO - heute § 169 AO - ).
Damit lässt sich aber die Auslegung des
§ 191 Abs. 3 Satz 2 AO durch das FA nicht rechtfertigen, auch
wenn es nicht unmittelbar einleuchtet, dass die eigentlichen
Täter, nämlich die Vertreter, bei leichtfertiger
Steuerverkürzung nach den Vorschriften der §§ 69, 34
AO nur vier Jahre, die Vertretenen nach § 70 AO bei
leichtfertiger Steuerverkürzung ihrer Vertreter aber fünf
Jahre lang in Haftung genommen werden können. Der Gesetzgeber
hat jedoch klar zum Ausdruck gebracht, dass mit § 191 Abs. 3
Satz 2 AO die Länge der Festsetzungsfrist eigenständig
geregelt werden sollte (Klein/Rüsken, AO, 9. Aufl., § 191
Rz 98; Kruse in Tipke/Kruse, a.a.O., § 191 AO Rz 68).
Andernfalls hätte es mit der Regelung des § 191 Abs. 3
Satz 1 AO, wonach die Vorschriften über die Festsetzungsfrist
auf den Erlass von Haftungsbescheiden entsprechend anwendbar sind,
sein Bewenden haben können. Dass das nicht gewollt war, zeigt
sich aber auch daran, dass die einjährige Festsetzungsfrist
für Zölle und Verbrauchsteuern nach § 169 Abs. 2
Satz 1 Nr. 1 AO in § 191 Abs. 3 AO nicht übernommen
worden ist (BTDrucks VI/1982, S. 220, Gegenäußerung der
Bundesregierung zu der Stellungnahme des Bundesrates Zu 30. (§
172 Abs. 2 Satz 2 AO)).
2. Der Senat weicht mit seiner vorliegenden
Entscheidung nicht i.S. des § 11 Abs. 2 FGO vom Beschluss des
V. Senats des BFH in BFH/NV 2002, 755 = SIS 02 67 05 ab. Zwar hat
der V. Senat dort den rechtzeitigen Erlass eines auf §§
69, 34 AO gestützten Haftungsbescheids gegen den
Geschäftsführer einer GmbH bejaht, weil die von der GmbH geschuldete Umsatzsteuer
leichtfertig verkürzt (§ 378 AO) worden sei und die
Festsetzungsfrist deshalb fünf Jahre (§ 191 Abs. 3 Satz 2
AO) betrage. Einer Anfrage gemäß § 11 Abs. 3 FGO
beim V. Senat, ob er an dieser Rechtsauffassung festhält,
bedarf es aber nicht, denn der Beschluss betrifft nur ein Verfahren
wegen AdV, in dem naturgemäß Rechtsfragen nicht
abschließend beurteilt werden (BFH-Urteil vom 2.7.1997
I R 25/96, BFHE 183, 33, BStBl II 1997, 714 = SIS 97 24 31,
m.w.N.).