Schwellenwert für Arbeitnehmer-Amtsveranlagung bei LuF-Einkünften und Altersentlastungsbetrag: Beträgt die positive oder die negative Summe der einkommensteuerpflichtigen Einkünfte, die nicht dem Steuerabzug vom Arbeitslohn zu unterwerfen waren, vermindert um die darauf entfallenden Beträge nach § 13 Abs. 3 und § 24 a EStG, jeweils mehr als 800 DM (410 EUR), ist eine Veranlagung nach § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG vom Amts wegen durchzuführen. - Urt.; BFH 21.9.2006, VI R 47/05; SIS 06 42 40
I. Die Kläger und Revisionskläger
(Kläger) sind Eheleute. Sie reichten ihre
Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre 1996 und
1997 am 20.3.2000 beim Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt
- FA - ) ein. Neben den Einkünften des Klägers aus
nichtselbständiger Arbeit erklärten sie Verluste des
Klägers aus Land- und Forstwirtschaft in Höhe von 21.506
DM für 1996 und 28.593 DM für 1997 sowie
Kapitalerträge in Höhe von 1.985 DM für 1996 und
10.238 DM für 1997. Die Einkünfte aus Land- und
Forstwirtschaft wurden gesondert festgestellt. Für 1996
erklärten die Kläger außerdem Einkünfte aus
Spekulationsgeschäften in Höhe von 487 DM (Kläger)
und 701 DM (Klägerin). Später gaben sie noch sonstige
Einkünfte des Klägers nach § 22 Nr. 3 des
Einkommensteuergesetzes (EStG) aus der Vermietung eines PKW an, die
sie für 1996 auf 1.842 DM und für 1997 auf 964 DM
bezifferten.
Das FA lehnte die Durchführung der
Einkommensteuerveranlagungen ab.
Die Klage hatte aus den in EFG 2005, 1875 =
SIS 06 00 86 veröffentlichten Gründen ebenfalls keinen
Erfolg. Da neben den Einkünften aus nichtselbständiger
Arbeit andere, nicht dem Lohnsteuerabzug unterliegende
Einkünfte von saldiert nicht mehr als 800 DM erzielt worden
seien, komme nur eine Antragsveranlagung in Betracht. Die
Steuererklärungen seien jedoch nicht innerhalb der
Antragsfrist beim FA eingegangen. Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand sei nicht zu gewähren.
Mit der Revision rügen die Kläger
Verletzung formellen und materiellen Rechts.
Die Kläger beantragen, das
angefochtene Urteil sowie den Bescheid vom 22.5.2000 in der Gestalt
der Einspruchsentscheidung vom 11.4.2001 aufzuheben und den
Beklagten zu verpflichten, sie für die
Veranlagungszeiträume 1996 und 1997 zur Einkommensteuer zu
veranlagen.
Das FA beantragt, die Revision
zurückzuweisen, hilfsweise, das Verfahren auszusetzen, bis das
Bundesverfassungsgericht (BVerfG) über die
Normenkontrollverfahren in den Ausgangsverfahren VI R 46/05 und VI
R 49/04 entschieden hat.
II. Die Revision ist begründet. Das
angefochtene Urteil ist aufzuheben und der Klage stattzugeben
(§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -
). Entgegen der Ansicht der Vorinstanz sind die Kläger zur
Einkommensteuer für die Veranlagungszeiträume 1996 und
1997 zu veranlagen.
1. Der Senat hat die von den Klägern
erhobenen Verfahrensrügen geprüft. Er erachtet sie nicht
für durchgreifend und sieht insoweit von einer Begründung
ab (§ 126 Abs. 6 Satz 1 FGO).
2. Die Revision hat jedoch mit der
Sachrüge Erfolg.
Besteht das Einkommen ganz oder teilweise aus
Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit, von denen ein
Steuerabzug vorgenommen worden ist, wird eine Veranlagung nur unter
den in § 46 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 8 EStG genannten
Voraussetzungen durchgeführt. Im Streitfall liegen die
Voraussetzungen für eine Veranlagung von Amts wegen nach
§ 46 Abs. 2 Nr. 1, 1. Alternative EStG vor. Nach dieser
Vorschrift wird die Veranlagung durchgeführt, wenn die Summe
der einkommensteuerpflichtigen Einkünfte, die nicht dem
Steuerabzug vom Arbeitslohn zu unterwerfen waren, vermindert um die
darauf entfallenden Beträge nach § 13 Abs. 3 und §
24a EStG, mehr als 800 DM beträgt.
a) Die Einkünfte i.S. des § 46 Abs.
2 Nr. 1 EStG bestimmen sich nach Grund und Höhe nach
Maßgabe der §§ 2 bis 24 EStG (Urteile des
Bundesfinanzhofs - BFH - vom 24.4.1961 VI 246/60 U, BFHE 73, 113,
BStBl III 1961, 310, 311 = SIS 61 02 11, und vom 12.2.1976 IV R
8/73, BFHE 118, 209, BStBl II 1976, 413 = SIS 76 02 18; Schmidt/
Glanegger, EStG, 25. Aufl., § 46 Rz. 51; Trzaskalik, in:
Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 46 Rdnr. B 7;
Blümich/ Heuermann, § 46 EStG Rz. 57). Danach liegen
grundsätzlich auch Einkünfte vor, wenn die
Erwerbsaufwendungen die Erwerbseinnahmen übersteigen. Der
Begriff „Einkünfte“ umfasst nach der
Begriffsbestimmung des § 2 Abs. 2 EStG - auch ohne
ausdrückliche tatbestandliche Anordnung - nicht nur die
positiven, sondern auch die negativen Einkünfte, also den
Verlust und den Werbungskostenüberschuss (vgl. bereits
BFH-Urteil in BFHE 73, 113, BStBl III 1961, 310 = SIS 61 02 11,
m.w.N.; Kirchhof, in: Kirchhof/Söhn/ Mellinghoff, EStG, §
2 Rdnr. B 66 ff., m.w.N.). § 2 Abs. 3 EStG knüpft daran
an, fasst die Beträge der Einkünfte aus den einzelnen
Einkunftsarten in einer Summe zusammen, gibt damit dem
Verlustausgleich die Rechtsgrundlage und setzt zugleich auch die
Möglichkeit einer negativen Summe der Einkünfte
voraus.
Die Summe der einkommensteuerpflichtigen
Einkünfte, die nicht dem Steuerabzug vom Arbeitslohn zu
unterwerfen waren, kann ebenfalls positiv oder negativ sein. Auch
der Wortlaut des § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG enthält keine
ausdrückliche Beschränkung auf die positive Summe der
Einkünfte. Dagegen unterscheidet das EStG für andere
Konstellationen durchaus zwischen der positiven und der negativen
Summe der Einkünfte. In § 2 Abs. 3 EStG i.d.F. des
Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 (StEntlG 1999/2000/2002)
vom 24.3.1999 (BGBl I 1999, 402, BStBl I 1999, 304) setzt der
Gesetzgeber in Satz 1 noch positive und negative Einkünfte
voraus, verwendet dann aber in den folgenden Sätzen neben dem
Begriff der „Summe der Einkünfte“ die
Begriffe „Summe der positiven Einkünfte“,
„negative Summen der Einkünfte“ und
„Summe der negativen Einkünfte“. § 24a
Satz 1 EStG spricht ausdrücklich von der „positiven
Summe der Einkünfte“. In § 39a Abs. 1 Nr. 5b
EStG wird hinsichtlich des Freibetrags, der auf der Lohnsteuerkarte
vom Arbeitslohn abzuziehen ist, unter anderem die
„negative Summe der Einkünfte im Sinne des § 2
Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 3, 6 und 7“ genannt. Das EStG
enthält damit eine differenzierte Terminologie zu den
Maßgrößen der Einkünfte. Dieser Wortlaut
deutet darauf hin, dass dann, wenn das Gesetz - wie in § 46
Abs. 2 Nr. 1 EStG - nicht ausdrücklich bestimmt, dass nur die
positive oder nur die negative Summe der Einkünfte gemeint
ist, § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG nach seinem Wortlaut an den
Regelfall anknüpft und deshalb die positiven und die negativen
Einkünfte umfasst.
Die systematische und teleologische Auslegung
des § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG bestätigt dieses
Normverständnis. § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG soll der
Vereinfachung dienen (BFH-Urteil vom 10.1.1992 VI R 117/90, BFHE
167, 152, BStBl II 1992, 720 = SIS 92 12 34; Nolde in
Herrmann/Heuer/Raupach - HHR -, § 46 EStG Anm. 75;
Blümich/ Heuermann, § 46 EStG Rz. 53; vgl. auch BTDrucks
11/2157, S. 164; kritisch Trzaskalik, in:
Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 46 Rdnr. B 6). Aus dem
systematischen Zusammenhang, in dem § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG
steht, ergibt sich, dass es der Gesetzgeber zur
Verfahrensvereinfachung beim Lohnsteuerabzug belassen will (§
46 Abs. 4 Satz 1 EStG), wenn nicht - in den in § 46 Abs. 2 Nr.
1 bis Nr. 8 EStG genannten Veranlagungsfällen - eine Korrektur
dieses Verfahrens erforderlich ist.
Ziel der nach § 46 Abs. 2 EStG
durchzuführenden Veranlagung ist die Herstellung steuerlicher
Gleichheit zwischen allen Steuerpflichtigen durch Festsetzung der
materiell richtigen Einkommensteuer (vgl. auch Beschluss des BVerfG
vom 13.12.1967 1 BvR 679/64, BVerfGE 23, 1, BStBl II 1968, 70 = SIS 68 00 47). Mit der Veranlagung sollen im Lohnsteuerverfahren
systembedingt auftretende Steuerüber- und -untererhebungen
ausgeglichen werden. Diesem Gesetzeszweck entspricht es, § 46
Abs. 2 Nr. 1 EStG dahin auszulegen, dass eine Veranlagung von Amts
wegen nicht nur dann durchzuführen ist, wenn die positive
Summe der Einkünfte, die nicht dem Steuerabzug vom Arbeitslohn
zu unterwerfen waren (Nebeneinkünfte), den Betrag von 800 DM
(410 EUR) übersteigt, sondern auch, wenn die negative Summe
der betreffenden Nebeneinkünfte diesen Betrag übersteigt.
Denn die Abweichung des Lohnsteuerabzugs von der materiell
richtigen Einkommensteuer gewinnt nicht nur mit zunehmend
höheren positiven, sondern auch mit zunehmend höheren
negativen Nebeneinkünften wachsende Bedeutung. Je höher
die Summe der positiven oder negativen Nebeneinkünfte ist,
umso mehr weicht die in Form des Lohnsteuerabzugs tatsächlich
erhobene Einkommensteuer von der materiell richtigen
Einkommensteuer ab. Die verfassungsrechtlich gebotene
gleichheitsgerechte Besteuerung nach der finanziellen
Leistungsfähigkeit würde damit im Hinblick auf die
„horizontale“ und „vertikale“
Steuergerechtigkeit (vgl. BVerfG-Beschluss vom 16.3.2005 2 BvL
7/00, BVerfGE 112, 268 = SIS 05 30 25) sowohl bei einer
höheren positiven als auch bei einer höheren negativen
Summe der Nebeneinkünfte zunehmend verfehlt.
Dieses der Steuergerechtigkeit und der
Gleichmäßigkeit der Besteuerung widersprechende Ergebnis
wird durch die vom Senat für zutreffend erachtete Auslegung
von § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG vermieden. Denn sie führt
dazu, dass nur in einem Bereich, in dem die negativen oder
positiven Nebeneinkünfte den Betrag von 800 DM nicht
übersteigen, keine Amtsveranlagung durchzuführen ist.
Damit wird einerseits der Vereinfachung Rechnung getragen, indem
Amtsveranlagungen ohne oder mit nur geringen Steuernachforderungen
oder Steuererstattungen unterbleiben. Andererseits wird eine
gleichmäßige Festsetzung der Einkommensteuer erreicht,
die den im Lohnsteuerverfahren auftretenden Steuer-
über- und -untererhebungen
gleichermaßen Rechnung trägt.
Die Regelungen über den
Härteausgleich in § 46 Abs. 3 und Abs. 5 EStG stehen dem
nicht entgegen. In § 46 Abs. 2 EStG sind die Voraussetzungen
festgelegt, unter denen bei Bezug von Einkünften aus
nichtselbständiger Arbeit eine Veranlagung durchgeführt
wird. Die Härteausgleichsvorschriften sind bei der Veranlagung
anzuwenden. Die Durchführung der Veranlagung selbst wird durch
das Verfahren bei der Ermittlung des Härteausgleichsbetrags
aber nicht berührt (BFH-Urteil vom 2.12.1971 IV R 142/70, BFHE
104, 337, BStBl II 1972, 278 = SIS 72 01 65). Die Regelungen
über den Härteausgleich werden auch nicht gegenstandslos.
Denn der Härteausgleich nach § 46 Abs. 3 bzw. Abs. 5 EStG
kommt ohnehin nur in Betracht, wenn die Summe der
einkommensteuerpflichtigen Nebeneinkünfte einen positiven
Betrag ergibt (vgl. BFH-Urteil vom 19.11.1965 VI 120/64 U, BFHE 84,
297, BStBl III 1966, 108 = SIS 66 00 63; Nolde in HHR, § 46
EStG Anm. 195, m.w.N.).
Entgegen der Ansicht des FA ergibt sich auch
aus § 1 Abs. 3, § 13 Abs. 3, § 32 Abs. 4 Satz 2 und
§ 33a Abs. 1 Satz 4 EStG für die Auslegung von § 46
Abs. 2 Nr. 1 EStG nichts anderes. § 1 Abs. 3 EStG betrifft
u.a. „die nicht der deutschen Einkommensteuer
unterliegenden Einkünfte“. § 13 Abs. 3 Satz 1
EStG bezieht sich auf „Einkünfte“ aus Land-
und Forstwirtschaft. In Satz 2 der Vorschrift wird der Begriff
„Summe der Einkünfte“ verwendet. § 32
Abs. 4 Satz 2 EStG und § 33a Abs. 1 Satz 4 EStG sprechen von
Einkünften und Bezügen. Wie der Senat oben bereits
dargelegt hat, enthält das EStG eine differenzierte
Terminologie zu den Maßgrößen der Einkünfte.
Die Frage, ob der Begriff der (Summe der) Einkünfte nur im
Sinne eines positiven oder auch eines negativen Betrags zu
verstehen ist, ist durch Auslegung der jeweiligen Vorschriften zu
beantworten. Folglich kann die Auslegung von § 1 Abs. 3,
§ 13 Abs. 3, § 32 Abs. 4 Satz 2 und § 33a Abs. 1
Satz 4 EStG nicht entscheidend dafür sein, wie § 46 Abs.
2 Nr. 1 EStG auszulegen ist. Denn diese Vorschriften und § 46
Abs. 2 Nr. 1 EStG regeln völlig andere Sachverhalte, dienen
verschiedenen Zwecken und stehen in unterschiedlichen
systematischen Zusammenhängen.
b) Nach den vorgenannten Grundsätzen hat
das Finanzgericht (FG) das Vorliegen der Voraussetzungen für
eine Veranlagung der Kläger nach § 46 Abs. 2 Nr. 1, 1.
Alternative EStG zu Unrecht verneint. Der Senat kann in der Sache
selbst entscheiden. Denn nach den tatsächlichen Feststellungen
des FG zu den von den Klägern erzielten Einkünften betrug
die negative Summe der einkommensteuerpflichtigen
Nebeneinkünfte, die nicht dem Steuerabzug vom Arbeitslohn zu
unterwerfen waren, vermindert um die darauf entfallenden
Beträge nach § 13 Abs. 3 und § 24a EStG, jedenfalls
mehr als 800 DM.
3. Eine Aussetzung des Verfahrens
gemäß § 74 FGO kam nicht in Betracht. Denn die
Entscheidung des Rechtsstreits hängt nicht von der
Entscheidung des BVerfG in den Normenkontrollverfahren 2 BvL 55,
56/06 zur Verfassungsmäßigkeit der Ausschlussfrist in
§ 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG ab.