Arbeitnehmer, Betragsschwelle für Veranlagung, Verlustausgleich: In § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG sind bei der Ermittlung der Summe der einkommensteuerpflichtigen Einkünfte, die nicht dem Steuerabzug vom Arbeitslohn zu unterwerfen waren, im Veranlagungszeitraum 1999 die Vorschriften über den Verlustausgleich in § 2 Abs. 3 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 zu berücksichtigen. - Urt.; BFH 22.5.2006, VI R 50/04; SIS 06 37 19
I. Die Kläger und Revisionskläger
(Kläger) sind Ehegatten. Sie erzielten im Streitjahr 1999
Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, aus
Gewerbebetrieb, aus Kapitalvermögen, aus Vermietung und
Verpachtung sowie sonstige Einkünfte.
Da die Kläger die
Einkommensteuererklärung für das Streitjahr zunächst
nicht abgaben, schätzte der Beklagte und Revisionsbeklagte
(das Finanzamt - FA - ) die Besteuerungsgrundlagen. Den
Schätzungsbescheid haben die Kläger nach ihren Angaben
nicht erhalten. Nachdem das FA erfahren hatte, dass die Kläger
den Zugang des Schätzungsbescheids in Abrede stellten, wurde
der Bescheid vom FA als nicht wirksam bekannt gegeben
behandelt.
Die Einkommensteuererklärung der
Kläger für das Streitjahr ging beim FA am 11.1.2002 ein.
Darin gaben die Kläger neben den von ihnen erzielten
Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit folgende weitere
Einkünfte an (alle Beträge in DM):
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Kläger
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Klägerin
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Einkünfte aus Gewerbebetrieb
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707
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707
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Einkünfte aus
Kapitalvermögen
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4
191
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5
776
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Einkünfte aus Vermietung und
Verpachtung
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-13
294
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-13
295
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Sonstige Einkünfte
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1
725
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Das FA lehnte die Durchführung einer
Veranlagung nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 des Einkommensteuergesetzes
(EStG) wegen Ablaufs der Antragsfrist ab. Hiergegen legten die
Kläger Einspruch ein, den das FA als unbegründet
zurückwies.
Auch die Klage hatte keinen Erfolg (vgl.
SIS 04 15 85). Ein Fall der Amtsveranlagung nach § 46 Abs. 2
Nr. 1 EStG liege nicht vor, da die Summe der Einkünfte, die
nicht dem Steuerabzug vom Arbeitslohn zu unterwerfen seien, nicht
mehr als 800 DM betragen habe. Eine Antragsveranlagung nach §
46 Abs. 2 Nr. 8 EStG komme nicht in Betracht. Die dafür
geltende Antragsfrist sei von den Klägern nicht eingehalten
worden. Gründe für die Gewährung von
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand seien weder vorgetragen
worden noch sonst ersichtlich.
Mit der Revision rügen die Kläger
Verletzung formellen und materiellen Rechts. Sie seien nach §
46 Abs. 2 Nr. 1 EStG von Amts wegen zur Einkommensteuer zu
veranlagen. Das Finanzgericht (FG) habe die Summe der
Einkünfte im Sinne dieser Vorschrift falsch berechnet, weil es
§ 2 Abs. 3 EStG in der im Streitjahr geltenden Fassung nicht
beachtet habe. § 2 EStG enthalte Begriffsbestimmungen, die im
gesamten Einkommensteuerrecht anzuwenden seien. Das Gesetz enthalte
keinen Hinweis darauf, dass § 2 Abs. 3 EStG im Rahmen des
§ 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG nicht angewendet werden solle. Unter
Berücksichtigung von § 2 Abs. 3 EStG übersteige im
Streitfall die Summe der Nebeneinkünfte, die nicht dem
Steuerabzug vom Arbeitslohn zu unterwerfen seien, den Betrag von
800 DM.
Die Kläger beantragen, das
angefochtene Urteil, die Nichtveranlagungsverfügung sowie die
Einspruchsentscheidung aufzuheben und das FA zu verpflichten, sie
für den Veranlagungszeitraum 1999 zur Einkommensteuer zu
veranlagen.
Das FA beantragt, die Revision
zurückzuweisen.
Die Summe der einkommensteuerpflichtigen
Einkünfte in § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG sei nicht identisch
mit der Summe der Einkünfte in § 2 Abs. 3 EStG. Im Rahmen
des § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG bedeute „Summe“ die
mathematische Addition.
II. Die Revision ist begründet. Das
angefochtene Urteil ist aufzuheben und der Klage stattzugeben
(§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -
). Entgegen der Ansicht der Vorinstanz sind die Kläger zur
Einkommensteuer für 1999 zu veranlagen.
1. Besteht das Einkommen ganz oder teilweise
aus Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit, von denen
ein Steuerabzug vorgenommen worden ist, wird eine Veranlagung nur
unter den in § 46 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 8 EStG genannten
Voraussetzungen durchgeführt.
Im Streitfall liegen die Voraussetzungen
für eine Veranlagung von Amts wegen nach § 46 Abs. 2 Nr.
1, 1. Alternative EStG vor. Nach dieser Vorschrift wird die
Veranlagung durchgeführt, wenn die Summe der
einkommensteuerpflichtigen Einkünfte, die nicht dem
Steuerabzug vom Arbeitslohn zu unterwerfen waren, vermindert um die
darauf entfallenden Beträge nach § 13 Abs. 3 und §
24a EStG, mehr als 800 DM beträgt. Die Summe der
einkommensteuerpflichtigen Einkünfte i.S. von § 46 Abs. 2
Nr. 1 EStG ist unter Beachtung der durch das
Steuerentlastungsgesetz 1999/ 2000/2002 (StEntlG 1999/2000/2002)
vom 24.3.1999 (BGBl I 1999, 402, BStBl I 1999, 304)
eingeführten Regeln über den Verlustausgleich in § 2
Abs. 3 EStG zu ermitteln (ebenso Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH
- vom 17.11.2005 III R 83/04, BFH/NV 2006, 999 = SIS 06 16 76 zur
Ermittlung der positiven Summe der Einkünfte i.S. des §
24a Satz 1 EStG).
Bei der Ermittlung der Summe der
Einkünfte sind im Streitjahr 1999 die in § 2 Abs. 3
Sätze 2 bis 8 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002
enthaltenen Regeln der Mindestbesteuerung zu beachten. Für den
Verlustausgleich zwischen verschiedenen Einkunftsarten sind danach
einkunftsartenbezogene Verhältnisrechnungen
durchzuführen, da die auszugleichenden Verluste die positiven
Einkünfte aus verschiedenen Einkunftsarten in dem
Verhältnis mindern, in dem diese zur Summe der positiven
Einkünfte stehen. § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG verwendet zur
Bestimmung der Voraussetzungen, unter denen eine Veranlagung von
Amts wegen durchzuführen ist, den auch in § 2 Abs. 3 EStG
verwendeten Begriff der Summe der Einkünfte. § 2 EStG
enthält für das EStG allgemein geltende
Begriffsbestimmungen. Wortlaut und Systematik des Gesetzes sprechen
folglich dafür, die Begriffe übereinstimmend auszulegen.
Ein Grundbegriff des Einkommensteuerrechts wie die Summe der
Einkünfte, der noch dazu in § 2 Abs. 3 EStG umfassend
ausdrücklich im Gesetz selbst umschrieben ist, darf in
demselben Gesetz nicht in unterschiedlicher Weise ausgelegt werden,
wenn nicht zwingende Gründe eine andere Auslegung
unausweichlich machen. Daran ist auch für § 46 Abs. 2 Nr.
1 EStG festzuhalten. So entspricht es ständiger Rechtsprechung
des BFH und, soweit ersichtlich, einhelliger Auffassung im
Schrifttum, dass unter dem Begriff der Einkünfte in § 46
Abs. 2 Nr. 1 EStG und ihrer Höhe die Einkünfte zu
verstehen sind, wie sie nach den §§ 2, 13 bis 24 EStG zu
ermitteln sind (BFH-Urteile vom 24.4.1961 VI 246/60 U, BFHE 73,
113, BStBl III 1961, 310, 311 = SIS 61 02 11, und vom 12.2.1976 IV
R 8/73, BFHE 118, 209, BStBl II 1976, 413 = SIS 76 02 18;
Schmidt/Glanegger, EStG, 25. Aufl., § 46 Rz. 51; Trzaskalik,
in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 46 Rdnr. B 7;
Nolde in Herrmann/Heuer/Raupach, § 46 EStG Anm. 76;
Blümich/Heuermann, § 46 EStG Rz. 57).
Zwingende Gründe für eine
unterschiedliche Interpretation des Begriffs „Summe der
Einkünfte“ ergeben sich auch nicht aus dem Zweck des
Gesetzes. Zwar beeinflusst die nach § 2 Abs. 3 EStG
vorzunehmende Verhältnisrechnung die Zusammensetzung der Summe
der Einkünfte, indem Verluste auch zum Ausgleich von
Einkünften herangezogen werden, die dem Steuerabzug vom
Arbeitslohn zu unterwerfen waren. Damit wirkt sich § 2 Abs. 3
EStG auf die Summe der bei § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG zu
berücksichtigenden, neben dem Arbeitslohn bezogenen
Einkünfte (Nebeneinkünfte) aus. Beträgt hiernach die
Summe der einkommensteuerpflichtigen Einkünfte, die nicht dem
Steuerabzug vom Arbeitslohn zu unterwerfen waren, mehr als 800 DM,
so dass eine Veranlagung von Amts wegen zu erfolgen hat, steht dies
mit dem Gesetzeszweck allerdings in Einklang. Denn Ziel sowohl der
Amts- als auch der Antragsveranlagung ist die Herstellung
steuerlicher Gleichheit zwischen allen Steuerpflichtigen durch
Festsetzung der materiell richtigen Einkommensteuer (vgl. Beschluss
des Bundesverfassungsgerichts vom 13.12.1967 1 BvR 679/64, BVerfGE
23, 1, BStBl II 1968, 70 = SIS 68 00 47). Mit der Veranlagung
sollen im Lohnsteuerverfahren systembedingt auftretende
Steuerüber- und -untererhebungen ausgeglichen werden. Die
Amtsveranlagung nach § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG führt in
Einklang mit diesem Gesetzeszweck dazu, dass (nur) die gesetzlich
geschuldete Steuer festgesetzt wird.
Im Streitfall kann der Senat offen lassen, ob
er die gegen § 2 Abs. 3 Sätze 2 bis 8 EStG i.d.F. des
StEntlG 1999/2000/2002 vielfach erhobenen verfassungsrechtlichen
Bedenken im Ergebnis für durchgreifend erachtet. Er sieht
jedenfalls trotz bestehender Zweifel an der
Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift keinen Anlass, die
hier zu Gunsten der Kläger wirkenden Bestimmungen in § 2
Abs. 3 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 im vorliegenden Fall
unberücksichtigt zu lassen.
2. Nach diesen Grundsätzen hat das FG das
Vorliegen der Voraussetzungen für eine Veranlagung der
Kläger nach § 46 Abs. 2 Nr. 1, 1. Alternative EStG zu
Unrecht verneint. Der Senat kann in der Sache selbst entscheiden.
Denn nach den tatsächlichen Feststellungen des FG zu den von
den Klägern erklärten Einkünften, die das FA im
Rahmen der Bearbeitung der Einkommensteuererklärung
geprüft und - soweit es hier von Interesse ist - im
Wesentlichen nicht beanstandet hat, übersteigt die Summe der
einkommensteuerpflichtigen Einkünfte, die nicht dem
Steuerabzug vom Arbeitslohn zu unterwerfen waren, unter
Berücksichtigung der in § 2 Abs. 3 EStG vorgeschriebenen
Verhältnisrechnung offensichtlich den Betrag von 800 DM. Die
Kläger sind folglich von Amts wegen zur Einkommensteuer zu
veranlagen.
Bei dieser Sachlage kommt es auf die von den
Klägern erhobenen Verfahrensrügen nicht mehr an.