Arbeitnehmer, keine Antragsveranlagung nach Veranlagung von Amts wegen: § 46 EStG enthält keine Rechtsgrundlage für die Änderung bestandskräftiger Steuerbescheide. Ist über den Einkommensteueranspruch bereits durch bestandskräftigen Bescheid entschieden worden, vermag auch ein fristgerechter Antrag auf Veranlagung nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG keine erneute Entscheidung über diesen Anspruch herbeizuführen. - Urt.; BFH 22.5.2006, VI R 17/05; SIS 06 37 16
I. Der Kläger und Revisionskläger
(Kläger) wurde bis zum Streitjahr 1999 zusammen mit seiner
Ehefrau zur Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger und seine
Ehefrau bezogen im Streitjahr Einkünfte aus
nichtselbständiger Arbeit und aus Vermietung und
Verpachtung.
Nachdem die Ehegatten trotz Aufforderung
durch den Beklagten und Revisionsbeklagten (das Finanzamt - FA - )
keine Einkommensteuererklärung für das Streitjahr
abgegeben hatten, erließ das FA einen Einkommensteuerbescheid
vom 12.10.2001, wobei es die Besteuerungsgrundlagen
gemäß § 162 der Abgabenordnung (AO 1977)
schätzte. In diesem Bescheid berücksichtigte das FA neben
den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit positive
Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung in Höhe von
9.000 DM. Die Eheleute legten gegen den Einkommensteuerbescheid am
27.11.2001 Einspruch ein. Am 28.12.2001 gaben sie die
Einkommensteuererklärung für das Streitjahr ab. Dort
erklärten sie negative Einkünfte des Klägers aus
Vermietung und Verpachtung in Höhe von 23.523 DM. Auf den
Hinweis des FA, dass der Einspruch gegen den
Einkommensteuerbescheid verfristet sei, nahmen die Eheleute den
Einspruch zurück.
Am 17.4.2002 beantragte der Kläger,
die eingereichte Einkommensteuererklärung als Antrag auf
Durchführung der Veranlagung gemäß § 46 Abs. 2
Nr. 8 des Einkommensteuergesetzes (EStG) zu behandeln. Das FA
lehnte diesen Antrag ab. Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg
(vgl. SIS 05 28 39). Das Finanzgericht (FG) führte im
Wesentlichen aus: Der Kläger habe zwar die Frist für die
Durchführung einer Antragsveranlagung nach § 46 Abs. 2
Nr. 8 EStG eingehalten. Der Antragsveranlagung stehe jedoch der
bestandskräftige Einkommensteuerbescheid für das
Streitjahr entgegen. Die Voraussetzungen für eine
Änderung des Steuerbescheids seien nicht gegeben. Eine
Änderung komme insbesondere nicht nach § 173 Abs. 1 Nr. 2
AO 1977 in Betracht. Den Kläger treffe ein grobes Verschulden,
da er es unterlassen habe, rechtzeitig Einspruch gegen den
Einkommensteuerbescheid einzulegen und damit dem FA nicht bekannte,
steuermindernde Tatsachen mitzuteilen.
Mit der Revision trägt der Kläger
vor, der Gesetzgeber habe dem Steuerpflichtigen das Recht zur Wahl
der Antragsveranlagung gemäß § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG
aus Gründen des Individualinteresses eingeräumt. Die
erstmalige Ausübung des Wahlrechts auf Durchführung einer
Veranlagung werde nicht durch § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977
ausgeschlossen. Es liege auch kein grobes Verschulden vor. Der
Kläger habe darauf vertrauen dürfen, dass sein form- und
fristgerecht gestellter Antrag auf Durchführung der
Veranlagung bearbeitet werde.
Der Kläger beantragt
sinngemäß, das FA unter Aufhebung des angefochtenen
Urteils und des Bescheids vom 30.4.2002 in Gestalt der
Einspruchsentscheidung vom 12.8.2002 zu verpflichten, die
Einkommensteuerveranlagung für 1999 gemäß der
eingereichten Einkommensteuererklärung
durchzuführen.
Das FA beantragt, die Revision
zurückzuweisen.
II. Die Revision des Klägers ist
unbegründet und nach § 126 Abs. 2 der
Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuweisen.
Das FG hat zu Recht entschieden, dass der
bestandskräftige Einkommensteuerbescheid nicht geändert
werden kann und er damit einer (anderweitigen) Steuerfestsetzung
unter Berücksichtigung der eingereichten
Einkommensteuererklärung entgegensteht.
Die Annahme der Vorinstanz, dass der
Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr
bestandskräftig ist, begegnet revisionsrechtlich keinen
Bedenken. Sie wird vom Kläger auch nicht angegriffen.
1. Die Voraussetzungen für eine
Änderung des Einkommensteuerbescheids nach § 173 Abs. 1
Nr. 2 AO 1977 liegen nicht vor. Nach dieser Vorschrift sind
Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen
und Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer
niedrigeren Steuer führen, und den Steuerpflichtigen kein
grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder
Beweismittel erst nachträglich bekannt werden.
a) Nach den tatsächlichen Feststellungen
des FG, die den erkennenden Senat in Ermangelung erhobener
Verfahrensrügen binden (§ 118 Abs. 2 FGO), ist für
den Streitfall davon auszugehen, dass dem FA erst mit der
Einreichung der Einkommensteuererklärung Tatsachen i.S. des
§ 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO 1977 nachträglich bekannt
geworden sind, die zu einer niedrigeren Steuer führen. Ein
Fall der Unbeachtlichkeit des Verschuldens nach § 173 Abs. 1
Nr. 2 Satz 2 AO 1977 liegt nicht vor, da in
Schätzungsfällen die Besteuerungsgrundlagen insgesamt
eine (im Streitfall steuermindernde) Tatsache bilden (vgl. Urteile
des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 16.9.2004 IV R 62/02, BFHE 207,
269, BStBl II 2005, 75 = SIS 04 40 20, und vom 24.4.1991 XI R
28/89, BFHE 164, 192, BStBl II 1991, 606 = SIS 91 16 56).
b) Der Kläger hat das nachträgliche
Bekanntwerden der steuermindernden Tatsachen grob verschuldet.
Grobes Verschulden i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 ist
Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit. Grobe Fahrlässigkeit
ist anzunehmen, wenn der Steuerpflichtige die ihm nach seinen
persönlichen Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in
ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise
verletzt (BFH-Urteile vom 22.5.1992 VI R 17/91, BFHE 168, 221,
BStBl II 1993, 80 = SIS 92 20 33; vom 1.10.1993 III R 58/92, BFHE
172, 397, BStBl II 1994, 346 = SIS 94 02 41; vom 23.1.2001 XI R
42/00, BFHE 194, 9, BStBl II 2001, 379 = SIS 01 08 09, und vom
6.10.2004 X R 14/02, BFH/NV 2005, 156 = SIS 05 07 40, jeweils
m.w.N.). Nach der ständigen Rechtsprechung des BFH ist bei der
Prüfung des groben Verschuldens auch der Zeitraum bis zur
Bestandskraft des Bescheides einzubeziehen (BFH-Urteile vom
25.11.1983 VI R 8/82, BFHE 140, 18, BStBl II 1984, 256 = SIS 84 05 35; vom 20.1.1988 I R 1/84, BFH/NV 1988, 348 = SIS 88 11 49; vom
22.11.1988 VII R 24/86, BFH/NV 1989, 359; vom 9.3.1990 VI R 19/85,
BFH/NV 1990, 619; vom 21.2.1991 V R 25/87, BFHE 164, 1, BStBl II
1991, 496 = SIS 91 14 89; vom 4.2.1993 III R 78/91, BFH/NV 1993,
641 = SIS 94 09 46, und vom 4.2.1998 XI R 47/97, BFH/NV 1998, 682).
Ob ein Beteiligter in dem vorgenannten Sinne grob fahrlässig
gehandelt hat, ist im Wesentlichen eine Tatfrage. Die hierzu
getroffenen Feststellungen des FG dürfen - abgesehen von
zulässigen und begründeten Verfahrensrügen - vom
Revisionsgericht nur daraufhin überprüft werden, ob der
Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit und die aus ihm
abzuleitenden Sorgfaltspflichten richtig erkannt worden sind und ob
die Würdigung der Umstände hinsichtlich des individuellen
Verschuldens den Denkgesetzen und allgemeinen Erfahrungssätzen
entspricht (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Urteile vom
29.6.1984 VI R 181/80, BFHE 141, 232, BStBl II 1984, 693 = SIS 84 18 36; vom 23.2.2000 VIII R 80/98, BFH/NV 2000, 978, 980 = SIS 00 57 63, linke Spalte, und vom 6.10.2004 X R 14/02, BFH/NV 2005, 156
= SIS 05 07 40).
Nach diesen Maßstäben ist die vom
FG vorgenommene Würdigung, dem Kläger falle grobes
Verschulden zur Last, revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Sie
stellt eine mögliche, weder den Denkgesetzen noch den
allgemeinen Erfahrungssätzen widersprechende Würdigung
dar, an die der erkennende Senat nach § 118 Abs. 2 FGO
gebunden ist.
Der Kläger war im Streitfall
gemäß § 149 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 zur Abgabe der
Einkommensteuererklärung verpflichtet, weil er nach den
bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) hierzu vom
FA aufgefordert worden war (vgl. BFH-Beschlüsse vom 17.1.2003
VII B 228/02, BFH/NV 2003, 594 = SIS 03 21 90; vom 18.11.1986 VII S
16/86, BFH/NV 1987, 669 = SIS 87 05 59, und BFH-Urteil vom
20.10.1981 VII R 13/80, BFHE 135, 141, BStBl II 1982, 371 = SIS 82 11 36). Spätestens als der Kläger nach Ergehen des
Einkommensteuerbescheids erkennen konnte, dass der Bescheid auf
einer Schätzung beruhte, hätte er seiner
Erklärungspflicht nachkommen und die steuermindernden
Besteuerungsgrundlagen geltend machen müssen. Der Kläger
hat die insoweit bestehenden Möglichkeiten jedoch nicht
rechtzeitig genutzt. Hierdurch hat er das nachträgliche
Bekanntwerden der für die Einkommensteuerfestsetzung
bedeutsamen Tatsachen grob fahrlässig verursacht. Dass es
dafür bei Würdigung seiner persönlichen
Verhältnisse hinreichende Entschuldigungsgründe gab, ist
vom FG weder festgestellt worden, noch sind solche Gründe vom
Kläger bis zum Abschluss des Verfahrens vor dem FG vorgetragen
worden. Soweit sich der Kläger im Revisionsverfahren erstmals
sinngemäß auf einen Rechtsirrtum beruft, kann er mit
diesem Vortrag nicht gehört werden. Denn neues
tatsächliches Vorbringen ist im Revisionsverfahren
grundsätzlich nicht mehr zu berücksichtigen.
2. Eine Änderung des
Einkommensteuerbescheids kommt auch nicht nach einer sonstigen
Vorschrift der AO 1977 in Betracht.
3. Der Umstand, dass der Kläger und seine
Ehefrau die Einkommensteuererklärung innerhalb der Frist des
§ 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG eingereicht und damit einen
Antrag auf Veranlagung gestellt haben, verpflichtet das FA
ebenfalls nicht zur Änderung des bestandskräftigen
Steuerbescheids. Denn § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG gibt keine
Rechtsgrundlage dafür, durch einen fristgerechten Antrag auf
Veranlagung die Bestandskraft eines Einkommensteuerbescheids zu
durchbrechen. § 46 EStG bestimmt, unter welchen
Voraussetzungen ein Arbeitnehmer zu veranlagen ist. Die Vorschrift
befasst sich jedoch nicht mit den Grenzen der (materiellen)
Bestandskraft von Steuerbescheiden.
Aus dem vom Kläger herangezogenen
BFH-Urteil vom 28.9.1984 VI R 48/82 (BFHE 141, 532, BStBl II 1985,
117 = SIS 84 21 34) ergibt sich für den Streitfall nichts
anderes. In jenem Urteil hat der BFH entschieden, die erstmalige
Ausübung eines nicht fristgebundenen steuerlichen Wahlrechts
nach Bestandskraft der Einkommensteuerfestsetzung stehe einer
Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 nicht entgegen.
Der BFH hat aber gleichzeitig betont, dass eine Änderung nach
dieser Vorschrift auch im Fall der erstmaligen Ausübung eines
Wahlrechts nur in Betracht kommt, wenn die Voraussetzungen des
§ 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 insgesamt vorliegen, den
Steuerpflichtigen also insbesondere kein grobes Verschulden trifft.
Im Streitfall trifft den Kläger - wie bereits dargelegt wurde
- allerdings grobes Verschulden am nachträglichen
Bekanntwerden der steuermindernden Tatsachen.