Antrag auf mündliche Verhandlung nach Gerichtsbescheid: Es ist nicht rechtsmissbräuchlich, wenn ein FA nach Ergehen eines Gerichtsbescheids mündliche Verhandlung beantragt und gleichzeitig den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt, nachdem es einen Abhilfebescheid entsprechend dem Gerichtsbescheid erlassen hat. - Urt.; BFH 30.3.2006, V R 12/04; SIS 06 24 57
I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte
(Klägerin) reichte beim Beklagten und Revisionskläger
(Finanzamt - FA - ) im Oktober 1997 eine Umsatzsteuererklärung
für das Jahr 1996 (Streitjahr) ein. Das FA lehnte durch
Bescheid vom 4.9.1998 eine Umsatzsteuerfestsetzung ab, weil die
Klägerin keine Unternehmerin sei.
Hiergegen wandte sich die Klägerin mit
der Untätigkeitsklage. Nachdem das FA im Laufe des
Klageverfahrens eine Einspruchsentscheidung erlassen hatte,
beantragte die Klägerin, das FA zur Durchführung der
Umsatzsteuerveranlagung 1996 entsprechend den Angaben in der
Steuererklärung zu verpflichten, die Umsatzsteuer auf ./.
207.847 DM festzusetzen.
Durch Gerichtsbescheid vom 3.11.2003 gab
das Finanzgericht (FG) der Klage teilweise statt. Es verpflichtete
das FA unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 4.9.1998 in Form
der Einspruchsentscheidung, „die Umsatzsteuerveranlagung 1996
nicht mit der Begründung abzulehnen, die Klägerin sei
nicht unternehmerisch tätig geworden“. Soweit die
Klägerin beantragt hatte, das FA zur
erklärungsgemäßen Festsetzung der Umsatzsteuer zu
verpflichten, verwarf das FG die Klage als unzulässig.
Am 26.11.2003 ging beim FG folgender
Schriftsatz des FA vom 25.11.2003 ein:
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„Hiermit beantrage ich die
Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Gleichzeitig
erkläre ich den Rechtsstreit in der Hauptsache für
erledigt. Der Beklagte hat mit Bescheid vom heutigen Tag den
Bescheid vom 4. 9. 1998 in Form der Einspruchsentscheidung vom 15.
3. 2000 über die Ablehnung einer Umsatzsteuerveranlagung 1996
gemäß § 172 Abs. 1 Nr. 2 AO aufgehoben. Eine
Abschrift des Bescheides füge ich gemäß § 68
Satz 3 FGO bei. Weiterhin verpflichtet sich der Beklagte, die
Umsatzsteuerveranlagung 1996 nicht mit der Begründung
abzulehnen, die Klägerin sei nicht unternehmerisch tätig
geworden.“
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Eine Begründung enthielt der
Schriftsatz nicht.
Am 27.11.2003 wies der Berichterstatter des
FG darauf hin, dass Zweifel an der Wirksamkeit des Antrags des FA
bestünden. Die Klägerin beantragte daraufhin
festzustellen, dass der „Vorbescheid“ vom 3.11.2003 als
Urteil wirkt. Das FA beantragte, die Klage als unzulässig zu
verwerfen.
Das FG stellte in seinem in EFG 2004, 743 =
SIS 04 13 12 veröffentlichten Urteil fest, der
Gerichtsbescheid vom 3.11.2003 wirke als Urteil. Es vertrat die
Auffassung, das FA habe den Antrag auf mündliche Verhandlung
rechtsmissbräuchlich gestellt. Das Recht, einen
Gerichtsbescheid durch Antrag auf mündliche Verhandlung als
nicht ergangen zu behandeln, solle dem Beteiligten, der durch eine
in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht unrichtige
Entscheidung des Gerichts benachteiligt sei, die Möglichkeit
geben, eventuelle Fehler der Entscheidung zu beseitigen. Ein
berechtigtes Interesse eines Beteiligten an einem Antrag auf
mündliche Verhandlung setze deshalb voraus, dass der
Beteiligte den Antrag stelle, um einen für ihn
günstigeren Ausgang des Verfahrens zu erreichen (Verweis auf
Renz, DStZ 1986, 166). Im Streitfall habe das FA keinen
günstigeren Verfahrensausgang herbeiführen wollen,
sondern - einem zum wiederholten Mal von ihm gehandhabten Verfahren
entsprechend - mündliche Verhandlung beantragt und
gleichzeitig erklärt, dass es mit den Ausführungen des
Gerichtsbescheides einverstanden sei. Dieses Verhalten sei in sich
widersprüchlich und unüblich. Es sei nur vor dem
Hintergrund der vom FA angestrebten kostenrechtlichen Konsequenzen
plausibel. Durch den Antrag auf mündliche Verhandlung wolle
das FA vermeiden, dass eine Verhandlungsgebühr (§ 117 der
Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte - BRAGO - )
anfalle. Unabhängig davon, ob das FA dadurch diese
kostenrechtlichen Folgen auch tatsächlich auslösen
könne, sei ein Antrag, der allein aus kostenrechtlichen
Motiven erfolge, rechtsmissbräuchlich.
Mit seiner Revision rügt das FA
Verletzung des § 90a Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO).
Es meint, sein Antrag auf mündliche Verhandlung sei nicht
rechtsmissbräuchlich. Ebenso wie ein Kläger nach einem
Antrag auf mündliche Verhandlung die Klage noch
zurücknehmen könne, müsse es, das FA, die
Möglichkeit haben, der Klage abzuhelfen. Mit der
Möglichkeit des FA, nach § 72 Abs. 1 Satz 2 FGO einer
Klagerücknahme nicht zuzustimmen, korrespondiere die
Möglichkeit der Klägerin, ihr Klagebegehren im Wege der
Fortsetzungsfeststellungsklage (§ 100 Abs. 1 Satz 4 FGO)
weiterzuverfolgen.
Überdies sei der Grund für dieses
Vorgehen nicht rechtsmissbräuchlich. Mit der Zielrichtung
einer möglichst kostengünstigen Erledigung des
Rechtsstreits nehme es, das FA, ein legitimes Verfahrensinteresse
wahr, das dem Gebot der sparsamen Verwendung von Haushaltsmitteln
Rechnung trage. Durch die Beantragung der mündlichen
Verhandlung entstehe keine Verhandlungsgebühr i.S. des §
117 BRAGO. Für den Ansatz einer Erledigungsgebühr nach
§ 24 BRAGO seien keine Gründe ersichtlich.
Da der Gerichtsbescheid vom 3.11.2003 als
nicht ergangen gelte und es, das FA, der Klage mit Schriftsatz vom
25.11.2003 abgeholfen habe, sei eine Erledigung der Hauptsache
eingetreten. Das Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin sei
hierdurch entfallen und die Klage unzulässig geworden, weil
die Klägerin dennoch weder die Hauptsache für erledigt
erklärt habe noch zur Fortsetzungsfeststellungsklage
übergegangen sei.
Das FA beantragt, die Vorentscheidung
aufzuheben und die Klage als unzulässig abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision
als unbegründet zurückzuweisen.
II. Die Revision des FA ist begründet;
sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur
Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG zur anderweitigen
Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO).
Die Vorentscheidung war aufzuheben, weil das FG zu Unrecht
angenommen hat, das FA habe den Antrag auf mündliche
Verhandlung missbräuchlich gestellt. Der Senat kann nicht
selbst entscheiden, weil noch keine Erledigung der Hauptsache
eingetreten und die Sache nicht spruchreif ist.
1. Nach § 90a Abs. 1 FGO kann das Gericht
in geeigneten Fällen ohne mündliche Verhandlung durch
Gerichtsbescheid entscheiden. Die Beteiligten können innerhalb
eines Monats nach Zustellung des Gerichtsbescheides mündliche
Verhandlung beantragen (§ 90a Abs. 2 Satz 1 FGO). Der
Gerichtsbescheid wirkt als Urteil; wird rechtzeitig mündliche
Verhandlung beantragt, gilt er als nicht ergangen (§ 90a Abs.
3 FGO). Entsteht Streit über die Frage, ob ein Antrag auf
mündliche Verhandlung unzulässig ist, muss hierüber
im Klageverfahren durch Urteil entschieden werden (vgl. Urteil des
Bundesfinanzhofs - BFH - vom 12.8.1981 I B 72/80, BFHE 134, 216,
BStBl II 1982, 128 = SIS 82 25 31).
2. Der Gerichtsbescheid vom 3.11.2003 ist
durch den Antrag des FA vom 25.11.2003 gegenstandslos geworden.
a) Das Schreiben des FA vom 25.11.2003 ist
unmissverständlich als Antrag auf mündliche Verhandlung
formuliert. Das FA ist durch den Gerichtsbescheid beschwert, weil
das FG der Klage zum Teil stattgegeben hat. Der Antrag ist zudem
fristgemäß gestellt worden.
b) Entgegen der Auffassung des FG ist der
Antrag des FA nicht wegen Rechtsmissbrauchs unbeachtlich. Das FA
hat damit vielmehr ein durch § 90a Abs. 2 Satz 1 FGO
zuerkanntes Recht zulässigerweise ausgeübt.
Zwar kann die Ausübung
verfahrensrechtlich zuerkannter Rechte in Ausnahmefällen
rechtsmissbräuchlich sein (vgl. BFH-Beschluss vom 8.5.1992 III
B 138/92, BFHE 167, 303, BStBl II 1992, 673 = SIS 92 14 54). Der
BFH hat jedoch bereits entschieden, dass ein Antrag auf
mündliche Verhandlung auch dann gestellt werden darf, wenn
sich der Antragsteller nicht gegen die sachliche Richtigkeit des
Gerichtsbescheids wehrt, sondern die Entscheidung tatsächlich
annimmt (vgl. BFH-Beschluss vom 25.1.2006 IV R 14/04, BFH/NV 2006,
874 = SIS 06 12 92, m.w.N.; a.A. Renz, DStZ 1986, 166 f.; Tipke in
Tipke/Kruse, Finanzgerichtsordnung, § 90a Rz. 11). Deshalb
darf ein Kläger nach Ergehen eines Gerichtsbescheids
mündliche Verhandlung beantragen und die Klage
zurücknehmen (z.B. BFH-Urteile vom 8.5.1990 VII R 116-117/87,
BFHE 160, 304, BStBl II 1990, 695 = SIS 90 16 53; vom 25.9.1991 I R
134/90, BFH/NV 1992, 564). Ebenso darf ein FA einen Antrag auf
mündliche Verhandlung stellen, um der Klage abzuhelfen (vgl.
z.B. BFH-Beschlüsse vom 13.5.2004 IX R 8/02, BFH/NV 2004, 1290
= SIS 04 33 12; vom 17.12.2002 I R 87/00, BFH/NV 2003, 785 = SIS 03 24 24). Ob die Abhilfe erst im weiteren Verlauf des Verfahrens oder
- wie im Streitfall - gleichzeitig mit dem Antrag auf
mündliche Verhandlung erfolgt, spielt keine Rolle.
3. Die Sache ist nicht spruchreif.
a) Entgegen der Auffassung des FA ist die
Klage nicht mangels Rechtsschutzbedürfnisses der Klägerin
unzulässig geworden.
aa) Ein Rechtsstreit ist in der Hauptsache
erledigt, wenn nach Rechtshängigkeit ein Ereignis eintritt,
das das gesamte Klagebegehren objektiv gegenstandslos macht
(BFH-Urteile vom 12.4.1996 I R 82/95, BFHE 180, 365, BStBl II 1996,
608 = SIS 96 19 51; vom 22.5.2001 VII R 71/99, BFHE 195, 19, BStBl
II 2001, 683 = SIS 01 11 64, unter 2., jeweils m.w.N.).
Erklärt bei Vorliegen dieser Voraussetzungen das FA die
Erledigung der Hauptsache und hält der Kläger seinen
Sachantrag aufrecht, hat das Gericht die Klage mangels
Rechtsschutzinteresses als unzulässig abzuweisen (vgl.
BFH-Urteile vom 8.3.1996 VIII R 92/89, BFH/NV 1996, 776; vom
30.8.1994 IX R 19/92, BFH/NV 1995, 596). Voraussetzung für die
Klageabweisung ist allerdings insbesondere die Gewissheit des
Gerichts darüber, dass der Rechtsmittelführer seinen
Sachantrag aufrechterhält; bei Ungewissheit hierüber hat
nach § 76 Abs. 2 FGO der Vorsitzende darauf hinzuwirken, dass
sachdienliche Anträge gestellt oder unklare Anträge
erläutert werden (BFH-Beschluss vom 5.3.1979 GrS 4/78, BFHE
127, 147, BStBl II 1979, 375 = SIS 79 01 83, unter II.5.a). Im
Hinblick auf die Besonderheiten der Prozesslage nach Erledigung der
Hauptsache ist auch zu prüfen, wie das Schweigen eines
Beteiligten zu werten ist (vgl. dazu nunmehr § 138 Abs. 3 FGO
n.F.).
bb) Nach diesen Grundsätzen ist die
Verpflichtungsklage (vgl. BFH-Beschluss vom 21.1.1985 GrS 1/83,
BFHE 143, 112, BStBl II 1985, 303 = SIS 85 09 43) der Klägerin
schon deshalb nicht unzulässig geworden, weil die Hauptsache
nicht insgesamt erledigt ist. Das FA hat zwar am 25.11.2003 den
Ablehnungsbescheid und die Einspruchsentscheidung aufgehoben, sich
zur Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts in dem nicht mehr
existenten Gerichtsbescheid verpflichtet sowie die Erledigung der
Hauptsache erklärt, aber dem weiter gehenden Antrag, die
Umsatzsteuer erklärungsgemäß festzusetzen, nicht
entsprochen.
b) Der Senat kann über die
Begründetheit der Klage nicht selbst entscheiden. Es steht
bereits nicht fest, ob die Klägerin an ihrem früheren
Sachantrag noch festhält. Sie hat sich zu der
Erledigungserklärung des FA noch nicht geäußert.
Gegen ein solches Festhalten spricht zwar der Umstand, dass sie
nach Erlass des Gerichtsbescheids nicht ihrerseits mündliche
Verhandlung beantragt hat, obwohl sie mit ihrem Sachantrag
teilweise unterlegen ist. Dies ist jedoch nicht eindeutig.
Das FG wird deshalb zunächst der
Klägerin nach § 76 Abs. 2 FGO Gelegenheit geben
müssen, sich zu der Erledigungserklärung des FA zu
äußern. Erklärt die Klägerin den Rechtsstreit
ebenfalls für erledigt, werden die Urteile des FG und des
Senats gegenstandslos und das FG hat nur noch über die Kosten
des gesamten Verfahrens zu entscheiden (vgl. BFH-Beschluss vom
28.6.2005 I R 35/03, BFH/NV 2005, 1847 = SIS 05 41 01, m.w.N.).
Sollte die Klägerin an ihrem Antrag unverändert
festhalten oder zu einer Fortsetzungsfeststellungsklage (§ 100
Abs. 1 Satz 4 FGO) übergehen, wird das FG hierüber
befinden und ggf. erforderliche tatsächliche Feststellungen
nachholen müssen.