Untätigkeitsklage, Aussetzung des Verfahrens: 1. Auch eine nach Ablauf der Regel-Sperrfrist von sechs Monaten erhobene Untätigkeitsklage ist nicht ohne weiteres zulässig; sie kann jedoch in die Zulässigkeit hineinwachsen. - 2. Bei einer verfrüht erhobenen Untätigkeitsklage hat das Finanzgericht eine befristete Aussetzung des Klageverfahrens nach pflichtgemäßem Ermessen zu prüfen. Angesichts der in § 46 Abs. 1 Sätze 1 und 2 FGO aufgeführten unbestimmten Rechtsbegriffe wird eine Aussetzung regelmäßig geboten sein. - 3. Weist das Finanzgericht die Untätigkeitsklage gleichwohl als unzulässig ab, so hat es in der Urteilsbegründung seine leitenden Ermessenserwägungen hinsichtlich der versagten Aussetzung des Klageverfahrens offen zu legen. Geschieht dies nicht, kann ein Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO vorliegen. - Urt.; BFH 7.3.2006, VI B 78/04; SIS 06 16 61
Im Zuge von Ermittlungsmaßnahmen
gegen X teilte die Steuerfahndungsstelle des Beklagten und
Beschwerdegegners (Finanzamt - FA - ) der für die Kläger
und Beschwerdeführer (Kläger) zuständigen
Veranlagungsstelle mit Schreiben vom 17.2.2003 mit, die
Einkommensteuer-Veranlagungen der Kläger für 1999 bis
2001 seien schnellstmöglichst durchzuführen. Die
Einkünfte des Klägers aus nichtselbständiger Arbeit
seien um jeweils ... DM für die Streitjahre 1999 bis 2001 zu
erhöhen. Es handele sich insoweit um verdeckte
Gehaltszahlungen. Die Ermittlungen der Steuerfahndungsstelle seien
insoweit noch nicht abgeschlossen.
Das FA erließ daraufhin am 2.4.2003
entsprechende Einkommensteuerbescheide 1999 bis 2001, in denen es
die angeführten Beträge der Besteuerung unterwarf.
Hiergegen legten der Kläger und seine mit ihm zusammen
veranlagte Ehefrau, die Beschwerdeführerin und Klägerin,
Einspruch ein.
Mit Schreiben vom 13.10.2003 an die
Steuerfahndungsstelle drohten die Kläger an, eine
Untätigkeitsklage (§ 46 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung
- FGO - ) zu erheben. Hierauf entgegnete das FA mit Schreiben vom
21.10.2003, bis zur Vorlage des Ermittlungsberichts der
Steuerfahndung könne eine Sachentscheidung nicht getroffen
werden.
Am 28.10.2003 erhoben die Kläger
Untätigkeitsklage mit dem Ziel, die Einkommensteuer 1999 bis
2001 ohne die oben angeführten Beträge
festzusetzen.
Mit Urteil vom 17.3.2004 wies das
Finanzgericht (FG) die Klage als unzulässig ab. Es sei kein
außergerichtliches Rechtsbehelfsverfahren durchgeführt
worden; dieses sei auch nicht entbehrlich. Im Streitfall
bestünden zureichende Gründe dafür, dass das
Rechtsbehelfsverfahren bislang noch nicht abgeschlossen worden sei.
Es seien umfangreiche Auslandsermittlungen notwendig, für
deren Durchführung nach Kenntnis des Gerichts
regelmäßig mehr als ein Jahr notwendig sei. Das Gericht
vermöge auch nicht festzustellen, dass das FA die notwendigen
Ermittlungsmaßnahmen nicht mit dem gebotenen Nachdruck
betreibe. Noch im Januar 2004 seien Bedienstete des X vernommen
worden; diese Vernehmungen seien für die Ermittlungen
wesentlich. Das FA habe den Klägern auch den Grund für
die Verzögerung des Rechtsbehelfsverfahrens - vor Erhebung der
Klage - mitgeteilt. Die in Form der Untätigkeitsklage erhobene
Anfechtungsklage sei unzulässig. Es habe ein zureichender
Grund dafür bestanden, dass das Einspruchsverfahren nicht habe
abgeschlossen werden können. Daran habe sich in der
Streitsache bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung
nichts geändert.
Gegen das Urteil des FG erhoben die
Kläger Nichtzulassungsbeschwerde. Sie bringen u.a. vor, die
Vorentscheidung leide an einem Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2
Nr. 3 FGO). Die Klage hätte nicht als unzulässig
abgewiesen werden dürfen. Das FG habe insbesondere nicht
geprüft, ob das Verfahren - mit Fristsetzung durch das Gericht
- hätte ausgesetzt werden müssen.
Das FA tritt der Beschwerde
entgegen.
Die Beschwerde der Kläger ist
begründet. Das erstinstanzliche Urteil wird aufgehoben und zur
anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG
zurückverwiesen.
1. Nach § 46 Abs. 1 FGO ist eine Klage -
abweichend von § 44 FGO - ohne vorherigen Abschluss des
Vorverfahrens zulässig, wenn über einen
außergerichtlichen Rechtsbehelf ohne Mitteilung eines
zureichenden Grundes in angemessener Zeit sachlich nicht
entschieden worden ist. Die Klage kann grundsätzlich nicht vor
Ablauf von sechs Monaten seit Einlegung des
außergerichtlichen Rechtsbehelfs erhoben werden (§ 46
Abs. 1 Satz 2 FGO). Nach § 46 Abs. 1 Satz 3 FGO kann das
Verfahren bis zum Ablauf einer vom Gericht bestimmten Frist, die
verlängert werden kann, ausgesetzt werden.
2. Nach der gesetzlichen Intention steht dem
FA regelmäßig eine Bearbeitungszeit für den
Einspruch von sechs Monaten zu. Indessen verliert die
Tatbestandsvoraussetzung „in angemessener Zeit“
durch diese (Regel-)Sperrfrist auch nach Ablauf von sechs Monaten
nicht ihre Bedeutung. Das FG ist deshalb im Grundsatz zu Recht
davon ausgegangen, dass eine sog. Untätigkeitsklage auch nach
Ablauf von sechs Monaten nicht zwangsläufig zulässig ist.
Vielmehr ist nach den gesamten Umständen des Falles zu
beurteilen, ob eine Bearbeitungszeit, die über sechs Monate
hinausreicht, noch „angemessen“ ist. Dabei sind
auf der einen Seite der Umfang und die rechtlichen Schwierigkeiten
des Falles und auf der anderen Seite das Interesse des
Rechtsbehelfsführers an baldiger Entscheidung gegeneinander
abzuwägen (von Beckerath in Beermann/Gosch,
Finanzgerichtsordnung, § 46 Rz. 88 und 95).
3. Nach ständiger Rechtsprechung des
Bundesfinanzhofs (BFH) handelt es sich bei den in § 46 Abs. 1
FGO angeführten Tatbestandsvoraussetzungen nicht um
Zugangsvoraussetzungen mit der Folge, dass bei ihrem Nichtvorliegen
von einer unheilbar unzulässigen Klage auszugehen ist;
vielmehr handelt es sich hierbei um
Sachentscheidungsvoraussetzungen, die erst im Zeitpunkt der letzten
mündlichen Verhandlung erfüllt sein müssen.
Demzufolge hat der BFH in ständiger Rechtsprechung angenommen,
auch eine Untätigkeitsklage könne in die
Zulässigkeit hineinwachsen (vgl. hierzu von Beckerath, a.a.O.,
§ 46 Rz. 152 f.; Steinhauff in Hübschmann/Hepp/Spitaler -
HHSp -, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 46 FGO Rz. 210
ff., jeweils mit weiteren Nachweisen).
4. Nach § 46 Abs. 1 Satz 3 FGO kann das
Gericht das Verfahren bis zum Ablauf einer bestimmten Frist, die
verlängert werden kann, aussetzen. Diese Aussetzung kommt
nicht nur bei einer zulässigen Untätigkeitsklage, die die
Voraussetzungen des § 46 Abs. 1 FGO erfüllt, sondern auch
bei einer unzulässigen (verfrüht erhobenen)
Untätigkeitsklage in Betracht. Denn auch diese kann
während der Aussetzung in die Zulässigkeit hineinwachsen
(von Beckerath, a.a.O., § 46 Rz. 156 und 164, 168).
Anders als das Bundesverwaltungsgericht zu der
insoweit anders lautenden Vorschrift des § 75 Satz 3 der
Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) geht der BFH davon aus, dass eine
verfrüht erhobene Klage zwar in die Zulässigkeit
hineinwachsen kann, jedoch für diese keine Aussetzungs-pflicht
besteht (BFH-Urteil vom 13.10.1977 V R 57/74, BFHE 124, 2, BStBl II
1978, 154 = SIS 78 00 89; von Beckerath, a.a.O., § 46 Rz. 167,
m.w.N.). Das FG hat vielmehr ein Ermessen, ob es das Verfahren mit
(ggf. wiederholt verlängerbarer) Fristsetzung aussetzt oder
die - verfrüht erhobene - Untätigkeitsklage abweist
(Steinhauff in HHSp, § 46 FGO Rz. 251, m.w.N.).
Bei dem Für und Wider einer Aussetzung
des Klageverfahrens wird das FG allerdings zu beachten haben, dass
ein Kläger regelmäßig nicht mit hinreichender
Sicherheit beurteilen kann, zu welchem Zeitpunkt die (verfrüht
erhobene) Untätigkeitsklage in die Zulässigkeit
hineinwächst. Die Vorhersehbarkeit des Ausgangs eines
Verfahrens wird nicht unerheblich auch dadurch beeinträchtigt,
dass im Tatbestand des § 46 Abs. 1 Sätze 1 und 2 FGO
mehrere unbestimmte Rechtsbegriffe (u.a. „in angemessener
Frist“, „zureichender Grund“)
kombiniert werden. Unter Beachtung verfassungsrechtlicher Vorgaben
(Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes) wird deshalb eine Aussetzung des
Klageverfahrens als Korrektiv hierzu regelmäßig geboten
sein (Steinhauff in HHSp, § 46 FGO Rz. 253; von Beckerath,
a.a.O., § 46 Rz. 168). Abgesehen von prozessökonomischen
Gründen wird dem Grundrecht auf wirkungsvollen, insbesondere
zeitnahen Rechtsschutz überdies eher entsprochen, wenn eine
Klage nicht als unzulässig abgewiesen und der Kläger auf
eine erneute Klageerhebung verwiesen wird (vgl. auch FG
Baden-Württemberg, Beschluss vom 1.2.1996 6 K 265/95, EFG
1996, 557).
Weist das FG gleichwohl eine - verfrüht
erhobene - Untätigkeitsklage als unzulässig ab, so hat es
in der Urteilsbegründung seine leitenden
Ermessenserwägungen nach Maßgabe der vorgenannten
Ausführungen offen zu legen. Das Rechtsmittelgericht muss
erkennen können, warum das FG von der Möglichkeit, das
Verfahren befristet auszusetzen, keinen Gebrauch gemacht hat.
5. Das FG hat die nach seiner Auffassung
verfrüht erhobene Untätigkeitsklage durch Prozessurteil
abgewiesen. Es hat allerdings weder geprüft noch in den
Gründen seiner Entscheidung dargelegt, ob im Streitfall eine
Aussetzung des Verfahrens (§ 46 Abs. 1 Satz 3 FGO) geboten
gewesen wäre. Hierin liegt ein Verfahrensmangel i.S. des
§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO.
6. Wegen dieses Verfahrensmangels ist die
Vorentscheidung aufzuheben; die Sache wird an das FG
zurückverwiesen (§ 116 Abs. 6 FGO).
Das FA hat die Kläger während des
Beschwerdeverfahrens klaglos gestellt. Daraufhin haben die
Kläger ihren Klageantrag geändert. Sie beantragen nunmehr
festzustellen, dass die Einkommensteuerbescheide 1999 bis 2001
rechtswidrig gewesen sind. Mit der Zurückverweisung
erhält das FG zugleich die Gelegenheit, auch über diesen
Antrag zu entscheiden.