Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil
des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 24.08.2022 - 7 K 7045/20
= SIS 23 00 04 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des gesamten Verfahrens hat die
Klägerin zu tragen.
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I. Die in A wohnhafte Klägerin und
Revisionsbeklagte (Klägerin) erzielte im Streitjahr (2017)
Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Ihre
Einkommensteuererklärung für das Streitjahr fertigte sie
ohne Hilfe eines Angehörigen der steuerberatenden Berufe
an.
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Unter dem 15.06.2018, einem Freitag,
erließ der Beklagte und Revisionskläger (Finanzamt - FA
- ) den Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr. Der an die
Klägerin als Inhalts- und Bekanntgabeadressatin gerichtete
Bescheid wurde am selben Tag der … AG (X AG), einem
Postdienstleistungsunternehmen, übergeben. Dieses stellt im
Wohnviertel der Klägerin Post nur an maximal fünf
Arbeitstagen der Woche zu.
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Die Klägerin war vom 02.05.2018 bis
Montag, den 18.06.2018, beruflich in B tätig. Während
dieser Zeit hatte sie eine Freundin und ihre Mutter mit der Leerung
des Briefkastens betraut. Am Morgen des 19.06.2018 kehrte die
Klägerin nach A in ihre Wohnung zurück und fand -
ausweislich der Feststellungen des Finanzgerichts (FG) - in ihrem
Briefkasten den streitgegenständlichen Einkommensteuerbescheid
vor. Noch am selben Tag übersandte sie diesen - gegen 11:40
Uhr - per Telefax an ihre Prozessbevollmächtigte.
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Die Prozessbevollmächtigte legte am
19.07.2018 namens der Klägerin gegen den
Einkommensteuerbescheid vom 15.06.2018 Einspruch ein. Das FA
verwarf den Einspruch als unzulässig. Da der angefochtene
Bescheid am 15.06.2018 im Wege des Zentralversands zur Post gegeben
worden sei, gelte er nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 der
Abgabenordnung (AO) als am 18.06.2018 (Montag) bekanntgegeben.
Somit habe die Klägerin die Einspruchsfrist nicht
gewahrt.
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Das FG gab der hiergegen erhobenen Klage
statt. Die in § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO geregelte Zugangsvermutung
finde im Streitfall keine Anwendung, weil an die Wohnadresse der
Klägerin innerhalb der Dreitagesfrist regelmäßig
nicht an allen Werktagen Post durch das vom FA beauftragte
Postdienstleistungsunternehmen ausgeliefert worden sei. Da das FA
einen früheren Zugang nicht habe nachweisen können, sei
der Einkommensteuerbescheid der Klägerin erst am 19.06.2018
bekanntgegeben worden. Die Einspruchsfrist sei deshalb erst am
19.07.2018 abgelaufen, der am selben Tag eingelegte Einspruch
mithin fristgerecht. In der Sache bestehe zwischen den Beteiligten
kein Streit. Folglich sei der angefochtene Einkommensteuerbescheid
entsprechend dem Klagebegehren der Klägerin zu
ändern.
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Mit der Revision rügt das FA die
Verletzung materiellen Rechts.
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Es beantragt,
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das Urteil des FG aufzuheben und die Klage
abzuweisen.
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Die Klägerin beantragt,
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die Revision zurückzuweisen.
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II. Die Revision des FA ist begründet.
Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung
der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung
- FGO - ). Das FG ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass die
Klägerin die Einspruchsfrist gewahrt hat und der angefochtene
Einkommensteuerbescheid daher geändert werden konnte.
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1. Nach § 355 Abs. 1 Satz 1 AO ist der
Einspruch innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des
Verwaltungsakts einzulegen. Gemäß § 122 Abs. 2 AO
kann ein schriftlicher Verwaltungsakt auch durch Übermittlung
durch die Post bekanntgegeben werden. Post im Sinne dieser
Vorschrift ist nicht nur die Deutsche Post AG, sondern auch ein
(sonstiger) privater Postdienstleister (Urteil des Bundesfinanzhofs
- BFH - vom 14.06.2018 - III R 27/17, BFHE 262, 193, BStBl II 2019,
16 = SIS 18 15 73, Rz 14 und BFH-Beschluss vom 18.04.2013 - X B
47/12 = SIS 13 19 64, Rz 17, m.w.N.). Der Verwaltungsakt gilt in
diesem Fall gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO in der im
Streitjahr geltenden Fassung bei einer Übermittlung im Inland
am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekanntgegeben,
außer wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt
zugegangen ist. Im Zweifel hat die Behörde den Zugang des
Verwaltungsakts und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen.
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2. Bestreitet der Steuerpflichtige nicht den
Zugang des Schriftstücks überhaupt, sondern behauptet er
lediglich, es nicht innerhalb der Dreitagesfrist des § 122
Abs. 2 Nr. 1 AO erhalten zu haben, hat er sein Vorbringen nach der
ständigen Rechtsprechung des BFH im Rahmen des Möglichen
zu substantiieren, um Zweifel an der Dreitagesvermutung zu
begründen (BFH-Urteil vom 14.06.2018 - III R 27/17, BFHE 262,
193, BStBl II 2019, 16 = SIS 18 15 73, Rz 9). Er muss Tatsachen
vortragen, die den Schluss zulassen, dass ein anderer
Geschehensablauf als der typische - Zugang binnen dreier Tage nach
Aufgabe zur Post - ernstlich in Betracht zu ziehen ist. Es
genügt nicht schon einfaches Bestreiten, um die gesetzliche
Vermutung über den Zeitpunkt des Zugangs des
Schriftstücks zu entkräften. Es müssen vielmehr
Zweifel berechtigt sein, sei es nach den Umständen des Falles,
sei es nach dem schlüssig oder jedenfalls vernünftig
begründeten Vorbringen des Steuerpflichtigen (BFH-Urteil vom
03.05.2001 - III R 56/98, BFH/NV 2001, 1365 = SIS 01 77 06). Das
Erfordernis eines substantiierten Tatsachenvortrags darf allerdings
nicht dazu führen, dass die Regelung über die objektive
Beweislast, die nach dem Gesetz die Behörde trifft, zu Lasten
des Steuerpflichtigen umgekehrt wird (BFH-Urteile vom 11.07.2017 -
IX R 41/15 = SIS 17 22 80, Rz 18 und vom 14.06.2018 - III R 27/17,
BFHE 262, 193, BStBl II 2019, 16 = SIS 18 15 73, Rz 9, jeweils
m.w.N.).
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3. Bei Heranziehung dieser Grundsätze ist
das FG zu Unrecht davon ausgegangen, dass die in § 122 Abs. 2
Nr. 1 AO geregelte Zugangsvermutung nicht anwendbar ist.
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a) Die Vorinstanz ist zunächst in nicht
zu beanstandender Weise davon ausgegangen, dass der angefochtene
Einkommensteuerbescheid vorliegend am 15.06.2018 zur Post gegeben
wurde.
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aa) § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO greift nur dann
ein, wenn feststeht, wann der mit einfachem Brief übersandte
Verwaltungsakt tatsächlich zur Post aufgegeben worden ist
(BFH-Beschlüsse vom 26.02.2020 - VIII B 56/19 = SIS 20 12 78,
Rz 8 und vom 26.02.2021 - X B 108/20 = SIS 21 09 29, Rz 9, jeweils
m.w.N.; Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 29.11.2023 - 6 C
3.22, BVerwGE 181, 83 = SIS 24 11 26, Rz 22, zu § 41 Abs. 2
Satz 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes). Lässt sich das
Datum der Aufgabe zur Post nicht zur vollen Überzeugung des
Gerichts feststellen, ist § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO nicht
anwendbar (BFH-Urteil vom 09.12.2009 - II R 52/07, BFH/NV 2010, 824
= SIS 10 11 61, unter II.2.b aa).
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bb) Das FG hat vorliegend den Sachverhalt
bezüglich der Aufgabe des Einkommensteuerbescheids zur Post im
Rahmen des Möglichen aufgeklärt und ist dabei zu der
tatrichterlichen Überzeugung gelangt, dass der maschinell
gedruckte und kuvertierte Bescheid dem Postdienstleister X AG am
15.06.2018 durch das Technische Finanzamt C übergeben wurde.
Diese Überzeugungsbildung der Vorinstanz ist von Rechts wegen
nicht zu beanstanden; sie wurde von den Beteiligten auch nicht
angegriffen. Der Senat sieht insoweit von weiteren
Ausführungen ab.
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b) Nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO gilt der
Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr daher
grundsätzlich als am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post -
hier am 18.06.2018 - bekanntgegeben.
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c) Die Klägerin hat die Zugangsvermutung
des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO nicht erschüttert.
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Ihr Vorbringen, sie habe den Briefkasten am
Dienstag, den 19.06.2018, unmittelbar nach ihrer Rückkehr nach
A geleert und darin den Einkommensteuerbescheid vom 15.06.2018
vorgefunden, ist nicht geeignet, Zweifel an dessen Zugang innerhalb
der Dreitagesfrist zu begründen. Denn nach den bindenden
Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) wurde im Wohnviertel
der Klägerin zwar an Samstagen keine, an Montagen jedoch
durchaus Post von der X AG zugestellt. Aufgrund dessen erscheint
vorliegend eine Zustellung des streitigen Steuerbescheids am
letzten Tag der Dreitagesfrist, Montag, dem 18.06.2018, - und damit
anders als in dem BFH-Beschluss vom 23.02.2018 - X B 61/17 = SIS 18 05 16, Rz 11 zugrunde liegenden Sachverhalt - zumindest
möglich. Diese Möglichkeit konnte die Klägerin aus
eigener Anschauung auch nicht ausschließen, da sie wegen
ihrer Ortsabwesenheit nicht wissen konnte, ob der
Einkommensteuerbescheid, den sie am Vormittag des 19.06.2018 in
ihrem Briefkasten vorfand, (erst) am selben Tag oder (bereits) am
Vortag dort eingelegt worden war.
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Anderes ergibt sich auch nicht aus dem
Umstand, dass die Klägerin ihre Mutter und eine Freundin
während ihrer Abwesenheit mit der Leerung ihres Briefkastens
betraut hatte. Auch hieraus kann nicht geschlossen werden, dass der
streitgegenständliche Einkommensteuerbescheid erst am
19.06.2018 und nicht bereits am 18.06.2018 in ihren Briefkasten
eingelegt wurde. Hierfür hätte es vielmehr des Vortrags
bedurft, die mit der Leerung betrauten Personen hätten den
Briefkasten der Klägerin nach der am 18.06.2018 erfolgten
Zustellrunde geleert, ohne darin den Einkommensteuerbescheid
vorzufinden. Ein solches, Zweifel begründendes Geschehen hat
die Klägerin allerdings weder behauptet, noch wurde es vom FG
festgestellt. Vielmehr ist (auch) die Vorinstanz davon ausgegangen,
dass die Klägerin den Zugang des Einkommensteuerbescheids am
18.06.2018 nicht substantiiert bestritten hat. Vor diesem
Hintergrund reichen allein die dargelegten und vom FG
festgestellten Zweifel an der Zuverlässigkeit der X AG im
Allgemeinen nicht aus, um die Zugangsvermutung des § 122 Abs.
2 Nr. 1 AO zu erschüttern.
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d) Das FG ist zu Unrecht davon ausgegangen,
die in § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO geregelte Zugangsvermutung sei im
Streitfall - ohne dass es auf ein substantiiertes Bestreiten des
Zugangs durch die Klägerin ankäme - grundsätzlich
nicht anwendbar.
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Der Zugangsvermutung steht nicht entgegen,
dass die X AG im Streitfall an dem innerhalb der Dreitagesfrist
liegenden Samstag (16.06.2018) keine Zustellungen in dem
Wohnviertel der Klägerin vorgenommen hat. Ebenso wenig steht
ihr entgegen, dass der Postdienstleister (hier die X AG) Postgut
regelmäßig nur an fünf von sechs Werktagen
ausgeliefert und damit nicht das für einen Universaldienst im
Bereich der Briefleistungen geltende Qualitätsmerkmal einer
werktäglichen Zustellung nach § 2 Nr. 5 der
Post-Universaldienstleistungsverordnung vom 15.12.1999 (BGBl I
1999, 2418), zuletzt geändert am 07.07.2005 (BGBl I 2005,
1970), in der bis zum 18.07.2024 geltenden Fassung (aufgehoben
durch Art. 43 des Postrechtsmodernisierungsgesetzes vom 15.07.2024,
BGBl 2024 I Nr. 236 und ersetzt durch § 19 des Postgesetzes
vom 15.07.2024, BGBl 2024 I Nr. 236) erfüllt hat (ebenso FG
Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19.04.2023 - 16 K 16130/22, EFG
2023, 1191 = SIS 23 11 20; FG Münster, Urteil vom 11.05.2023 -
8 K 520/22 E, EFG 2023, 1044 = SIS 23 10 22, Rz 38, Revision
anhängig unter VI R 6/23; anderer Ansicht
Süß/Müller, DStR 2023, 428; dieselben DStR 2023,
1478).
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An dieser Beurteilung ändert sich auch
dann nichts, wenn - wie vorliegend - planmäßig an zwei
aufeinanderfolgenden Tagen keine Postzustellung erfolgt, weil der
zustellfreie Tag an einen Sonntag grenzt (ebenso von Beckerath in
Gosch, FGO § 47 Rz 82; anderer Ansicht BeckOK AO/Füssenich, 31. Ed. 01.01.2025, AO
§ 122 Rz 182). Die Zustellung innerhalb der Dreitagesfrist
wird hierdurch zwar etwas weniger wahrscheinlich, ist aber
gleichwohl möglich. Die zeitlich beschränkte Zustellung
berührt deshalb nicht die generelle Anwendbarkeit der
Zugangsvermutung, sondern ist nach Maßgabe der vorgenannten
Grundsätze allenfalls geeignet, diese, wenn der spätere
Zugang des Verwaltungsakts substantiiert vorgetragen wird, zu
erschüttern.
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4. Das FG ist von anderen
Rechtsgrundsätzen ausgegangen. Die Vorentscheidung ist daher
aufzuheben. Der Senat kann in der Sache entscheiden.
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Der Einkommensteuerbescheid für das
Streitjahr gilt - wie ausgeführt - als am 18.06.2018
bekanntgegeben. Die einmonatige Einspruchsfrist begann demnach am
19.06.2018 (§ 108 Abs. 1 AO i.V.m. § 187 Abs. 1 des
Bürgerlichen Gesetzbuchs - BGB - ) und endete mit Ablauf des
18.07.2018 (§ 108 Abs. 1 AO i.V.m. § 188 Abs. 2
Alternative 1 BGB). Da der Einspruch erst am 19.07.2018 beim FA
einging, hat das FA diesen zutreffend als unzulässig
verworfen. Die Klage ist danach abzuweisen.
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5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135
Abs. 1 FGO.
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