Die Verfahren X B 68/23 und X B 69/23 werden
zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.
Auf die Beschwerden des Klägers wegen
Nichtzulassung der Revision werden die Urteile des
Niedersächsischen Finanzgerichts vom 23.05.2023 - 8 K 10/23
und 8 K 11/23 aufgehoben.
Die Sachen werden an das Niedersächsische
Finanzgericht zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung
zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die
Kosten der Beschwerdeverfahren übertragen.
1
|
I. Der Kläger und
Beschwerdeführer (Kläger) erzielt aus einem
Einzelunternehmen Einkünfte aus Gewerbebetrieb. In der Sache
selbst ist für das Streitjahr 2020 die Anerkennung eines
Fahrtenbuchs für einen sowohl betrieblich als auch privat
genutzten Personenkraftwagen streitig.
|
|
|
2
|
Der Kläger wird durch eine
Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Berufshaftung (P)
vertreten, die aus Rechtsanwälten, Steuerberatern, einem
Wirtschaftsprüfer und einem vereidigten Buchprüfer
besteht. Der sachbearbeitende Berufsträger (S) ist
Steuerberater.
|
|
|
3
|
P, vertreten durch S, erhob gegen die
Einspruchsentscheidungen vom 07.12.2022 am 10.01.2023 per Telefax
Klagen. Das Finanzgericht (FG) bestätigte P am 18.01.2023
zunächst den Eingang der Klagen und teilte die Aktenzeichen
mit. Am 27.02.2023 wies es darauf hin, dass die Vorschrift des
§ 52d Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) bei Erhebung der
Klagen nicht beachtet worden sei.
|
|
|
4
|
Am 28.02.2023 beantragte der Kläger
über das besondere elektronische Steuerberaterpostfach (beSt)
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, wiederholte seine Klage und
erläuterte auf Anforderung des FG sein Vorbringen mit
Schreiben vom 21.03.2023 näher. Er ist der Auffassung, das
beSt habe S im Zeitpunkt der Klageerhebungen noch nicht zur
Verfügung gestanden. S habe sich für das vorgezogene
Registrierungsverfahren („fast lane“)
angemeldet. Der Registrierungsbrief trage das Datum des 26.12.2022,
sei aber in einer Zweigstelle der Kanzlei eingegangen, die
über den Jahreswechsel nicht besetzt gewesen sei. In der
ersten Woche des Jahres 2023 habe der dortige Mitarbeiter den
Registrierungsbrief zur Kenntnis genommen und an den Hauptsitz der
Kanzlei weitergeleitet. Die verwendete Kanzleisoftware habe das
beSt aber zunächst nicht einrichten können. Erst am
20.01.2023 sei durch eine technische Lösung außerhalb
der Kanzleisoftware die Nutzung des beSt möglich gewesen. Bis
zum Erhalt des Hinweisschreibens des FG vom 27.02.2023 habe kein
Anhaltspunkt für eine Formunwirksamkeit oder
Fristversäumung bestanden, zumal das FG den Eingang der Klagen
ohne Beanstandung bestätigt und die Aktenzeichen mitgeteilt
habe.
|
|
|
5
|
Das FG terminierte die mündlichen
Verhandlungen auf den 23.05.2023, 10:30 Uhr. Ausweislich eines
Aktenvermerks des FG teilte einer der vorgesehenen ehrenamtlichen
Richter am Terminstag gegen 09:00 Uhr telefonisch mit, dass er
wegen einer Vollsperrung der Autobahn im Stau stehe. Es sei nicht
absehbar, wann er das Gericht erreichen werde. Das FG berief
daraufhin einen ehrenamtlichen Richter von der Ersatzliste ein. S
informierte die Geschäftsstelle des beim FG zuständigen
Senats am Terminstag ebenfalls telefonisch darüber, dass er
sich verspäten werde. Nach dem unbestrittenen Vorbringen in
der Beschwerdebegründung teilte er hierbei mit, dass der
Verkehrsfluss auf der Autobahn vollständig zum Erliegen
gekommen sei und er den Gerichtsort über Bundesstraßen
erreichen müsse. Sein Eintreffen werde sich um mindestens eine
halbe Stunde verzögern. Die Mitarbeiterin der
Geschäftsstelle teilte dem Senat aufgrund einer
Namensverwechslung allerdings irrtümlich mit, eine andere
Person werde sich verspäten. Das FG eröffnete die
mündliche Verhandlung um 10:55 Uhr, verband die beiden
Verfahren zu gemeinsamer Verhandlung, schloss die mündliche
Verhandlung um 10:58 Uhr und verkündete um 11:00 Uhr die
Urteile, mit denen es die Klagen als unzulässig verwarf. Der
Kläger und S erschienen ausweislich des Protokolls der
mündlichen Verhandlung um „kurz nach 11
Uhr“ (nach dem Vorbringen des Klägers um
11:05 Uhr) und wurden vom FG darüber informiert, dass die
Urteile bereits verkündet worden seien.
|
|
|
6
|
Zur Begründung seiner Entscheidungen
führte das FG aus, die Nichtbeachtung des § 52d Satz 2
FGO führe zur Unwirksamkeit der Klageerhebung und
schließe auch eine Wahrung der Klagefrist aus. Steuerberater
seien „spätestens“ seit dem
01.01.2023 zur Nutzung des elektronischen Rechtsverkehrs
verpflichtet. Hierfür komme es nicht darauf an, ob der
Registrierungsbrief erst später eingegangen oder die
Erstanmeldung erst später vorgenommen worden sei.
|
|
|
7
|
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
könne nicht gewährt werden. Der Wiedereinsetzungsantrag
samt Nachholung der versäumten Rechtshandlung sei bereits
verspätet gestellt worden. Das Hindernis sei schon nach dem
eigenen Vortrag des Klägers am 20.01.2023 weggefallen, als das
beSt des S funktionsfähig gewesen sei. Der Antrag sei aber
erst am 28.02.2023 beim FG eingegangen. Die Wiedereinsetzungsfrist
beginne nicht erst mit dem Erhalt des Hinweisschreibens des FG vom
27.02.2023, weil S aufgrund des Beschlusses des Bundesfinanzhofs
(BFH) vom 27.04.2022 - XI B 8/22 (BFH/NV 2022, 1057 = SIS 22 13 90)
hätte wissen müssen, dass er ab dem 01.01.2023 zur
elektronischen Kommunikation verpflichtet sei. Im Übrigen habe
der Kläger nicht dargelegt, dass S ohne Verschulden an der
Einhaltung der Klagefrist verhindert gewesen sei. Da S die
vorgezogene Registrierung beantragt habe, hätte er sich
rechtzeitig um die Einbindung des beSt in die Kanzleisoftware
kümmern müssen.
|
|
|
8
|
Mit seinen Beschwerden rügt der
Kläger den Verfahrensmangel der Verletzung rechtlichen
Gehörs.
|
|
|
9
|
Der Beklagte und Beschwerdegegner
(Finanzamt) hat sich zu den Beschwerden nicht
geäußert.
|
|
|
10
|
II. Die Beschwerden sind begründet. Es
liegt ein vom Kläger geltend gemachter Verfahrensmangel vor,
auf dem die Entscheidungen des FG beruhen können (§ 115
Abs. 2 Nr. 3 FGO).
|
|
|
11
|
1. Das FG hat den Anspruch des Klägers
auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 des
Grundgesetzes - GG - i.V.m. § 119 Nr. 3 FGO) verletzt, indem
es die mündliche Verhandlung verfahrensfehlerhaft in
Abwesenheit des Klägers durchgeführt hat.
|
|
|
12
|
a) Die Garantie des rechtlichen Gehörs
gebietet, dem an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten
Gelegenheit zu geben, sich zu dem der Entscheidung
zugrundeliegenden Sachverhalt vor Erlass der Entscheidung zu
äußern und sich mit tatsächlichen und rechtlichen
Argumenten im Prozess zu behaupten, und zwar auch in einer
mündlichen Verhandlung (vgl. BFH-Beschluss vom 14.10.2015 - V
B 49/15, BFH/NV 2016, 215 = SIS 16 00 48, Rz 6). Nach § 155
Satz 1 FGO i.V.m. § 227 der Zivilprozessordnung (ZPO) kann das
Gericht aus erheblichen Gründen einen Termin aufheben oder
verlegen. Liegen erhebliche Gründe im Sinne von § 227
Abs. 1 ZPO vor, verdichtet sich das Ermessen zu einer Rechtspflicht
(BFH-Beschluss vom 21.04.2023 - III B 41/22, BFH/NV 2023, 825 = SIS 23 08 61, Rz 18). Die Aufhebungsgründe sind gemäß
§ 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 227 Abs. 2 ZPO auf Verlangen
des Vorsitzenden glaubhaft zu machen. Bei kurzfristiger
Antragstellung hat der Antragsteller von sich aus eine
aussagefähige Begründung beizugeben und diese mit
Antragstellung glaubhaft zu machen (vgl. BFH-Beschlüsse vom
17.04.2002 - IX B 151/00, BFH/NV 2002, 1047 = SIS 02 86 59 und vom
23.10.2002 - X B 56/02, BFH/NV 2003, 199 = SIS 03 08 63, unter
II.3.b).
|
|
|
13
|
b) Wenn ein Beteiligter oder
Prozessbevollmächtigter während der Anreise zum
Gerichtstermin das Gericht telefonisch benachrichtigt, dass er sich
verspäten werde, und dabei den Grund der Verspätung sowie
das fehlende Verschulden hieran in einem nach den Umständen
angemessenen Umfang glaubhaft macht, hat das Gericht hierauf
Rücksicht zu nehmen und im Rahmen des Möglichen die
mündliche Verhandlung zu einem späteren Zeitpunkt zu
beginnen. Es kann dahinstehen, ob dies rechtlich als Antrag auf
Terminsverlegung aus erheblichem Grund nach § 155 Satz 1 FGO
i.V.m. § 227 Abs. 1 ZPO anzusehen (so für den Fall des
gänzlichen Nichterscheinens am Terminstag Senatsbeschluss vom
22.01.2009 - X B 114/08, unter II.2.) oder Ausdruck der
prozessualen Fürsorgepflicht ist (so BFH-Beschlüsse vom
21.12.2005 - II B 3/05, BFH/NV 2006, 605 = SIS 06 12 43, unter
II.1. und vom 14.10.2015 - V B 49/15, BFH/NV 2016, 215 = SIS 16 00 48, Rz 7). Eine unverschuldete Verzögerung, gegen die auch die
vernünftigerweise zu beachtende Sorgfalt keine Vorsorge
gebietet, kann auch durch einen außergewöhnlich
ausgedehnten Stau bewirkt werden (vgl. den insoweit vergleichbaren
Fall des Senatsbeschlusses vom 22.01.2009 - X B 114/08).
|
|
|
14
|
c) Diese Voraussetzungen sind vorliegend
erfüllt. S hatte dem FG rechtzeitig vor Beginn der
mündlichen Verhandlung mitgeteilt, er werde sich
verspäten, und es ist davon auszugehen, dass er dies
situationsangemessen glaubhaft gemacht hat. Zwar ist der konkrete
Inhalt seiner telefonischen Mitteilung nicht aktenkundig.
Insbesondere ist nicht feststellbar, ob die Informationen, die er
nach Erscheinen an Gerichtsstelle und in seiner
Beschwerdebegründung gegeben hat, bereits Gegenstand dieses
Telefonats waren. Es existiert kein Gesprächsvermerk der
Geschäftsstelle, die das Telefonat entgegengenommen hat. Dies
kann jedoch nicht zu Lasten des Klägers gehen. Es ist
naheliegend, dass er in einem aus einem Stau heraus geführten
Telefonat auf den Stau hingewiesen hat. Es ist auch anzunehmen,
dass er auf die voraussichtliche Verzögerungszeit von
mindestens einer halben Stunde hingewiesen hat, denn dem entspricht
es, dass er tatsächlich 35 Minuten nach der in der Ladung
angegebenen Terminszeit im FG eingetroffen war. Vor diesem
Hintergrund hätte das FG die mündliche Verhandlung nicht
bereits 25 Minuten nach der Terminszeit eröffnen und nach
weiteren fünf Minuten bereits die Urteile verkünden
dürfen.
|
|
|
15
|
Dabei ist unerheblich, dass die
Personenverwechslung nicht dem Senat des FG, sondern seiner
Geschäftsstelle unterlaufen ist. Denn Fehler der
Geschäftsstelle sind dem Gericht zuzurechnen (Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 27.06.2006 - 2 BvR
1147/05, BVerfGK 8, 303, unter II.1., 2.a), folglich auch deren
Kenntnis.
|
|
|
16
|
d) Ausführungen des Klägers dazu,
was bei ausreichender Gewährung des rechtlichen Gehörs
noch vorgetragen worden wäre und dass dieser Vortrag die
Entscheidung des Gerichts hätte beeinflussen können, sind
nach § 119 Nr. 3 FGO entbehrlich, wenn das Gericht
verfahrensfehlerhaft in Abwesenheit des Rechtsmittelführers
aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden hat (Beschluss des
Großen Senats des BFH vom 03.09.2001 - GrS 3/98, BFHE 196,
39, BStBl II 2001, 802 = SIS 01 14 64).
|
|
|
17
|
2. Der Senat hält es für angezeigt,
nach § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren, die angefochtenen Urteile
aufzuheben und die Sachen zur anderweitigen Verhandlung und
Entscheidung an das FG zurückzuverweisen. Für das weitere
Verfahren weist der Senat im Hinblick auf die zu klärende
Frage, ob die Klagen wegen Nichtbeachtung des § 52d Satz 2 FGO
nicht in der vorgeschriebenen Form erhoben wurden, - ohne
Bindungswirkung für das FG - auf die folgenden Punkte hin:
|
|
|
18
|
a) Als „gemischte“
Berufsausübungsgesellschaft, in der neben Steuerberatern auch
Rechtsanwälte tätig sind, unterliegt P gemäß
§ 52d Satz 1 FGO bereits ab dem 01.01.2022 der sogenannten
aktiven Nutzungspflicht (der Verpflichtung, Schriftsätze als
elektronisches Dokument zu übermitteln), sofern ein
Rechtsanwalt für sie handelt. Umgekehrt jedoch ist § 52d
Satz 2 FGO anzuwenden, sofern - wie hier - ein Steuerberater
für P handelt (BFH-Urteil vom 25.10.2022 - IX R 3/22, BFHE
278, 21, BStBl II 2023, 267 = SIS 22 21 72, Rz 19 f.).
|
|
|
19
|
b) Das FG wird sich indes damit befassen
müssen, ob die Registrierungspflicht der Steuerberater
für das beSt eine ausreichende Rechtsgrundlage besitzt.
|
|
|
20
|
aa) § 86f Nr. 2 des
Steuerberatungsgesetzes (StBerG) ermächtigt das
Bundesministerium der Finanzen (BMF), durch Rechtsverordnung nach
Anhörung der Bundessteuerberaterkammer (BStBK) mit Zustimmung
des Bundesrates die Einzelheiten des beSt zu regeln. § 86f
StBerG ist durch Art. 4 des Gesetzes zur Neuregelung des
Berufsrechts der anwaltlichen und steuerberatenden
Berufsausübungsgesellschaften sowie zur Änderung weiterer
Vorschriften im Bereich der rechtsberatenden Berufe vom 07.07.2021
(BGBl I 2021, 2363) eingefügt worden. Dieses Gesetz ist am
01.08.2022 in Kraft getreten. § 86f StBerG ist jedoch erstmals
nach Ablauf des 31.12.2022 anzuwenden (§ 157e StBerG). Die
Steuerberaterplattform- und -postfachverordnung (StBPPV) wurde am
25.11.2022 erlassen und am 30.11.2022 verkündet (BGBl I 2022,
2105), beides mithin nach dem Inkrafttreten, aber vor der
Anwendbarkeit ihrer formellgesetzlichen
Ermächtigungsgrundlage.
|
|
|
21
|
Der zeitliche Ablauf bei den für
Rechtsanwälte geltenden Parallelregelungen war ein anderer.
Die formellgesetzliche Ermächtigungsgrundlage
(ursprünglich § 31b der Bundesrechtsanwaltsordnung - BRAO
-, später § 31c Nr. 3 BRAO, heute § 31d Nr. 3 BRAO)
ist zum 01.07.2014 in Kraft getreten (Art. 26 Abs. 4 des Gesetzes
zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den
Gerichten - ERVFördG - vom 10.10.2013, BGBl I 2013, 3786).
Eine besondere Regelung über den zeitlichen Anwendungsbereich
existiert hier nicht. Auf dieser Grundlage ist am 23.09.2016 die
Rechtsanwaltsverzeichnis- und -postfachverordnung (RAVPV) erlassen
worden (BGBl I 2016, 2167) und am Tag nach ihrer Verkündung in
Kraft getreten (§ 32 Abs. 1 RAVPV). Die Regelungen über
die aktive Nutzungspflicht für Rechtsanwälte traten erst
zum 01.01.2022 in Kraft (Art. 26 Abs. 7 ERVFördG).
|
|
|
22
|
bb) Die Wirksamkeit einer Rechtsverordnung
setzt unter anderem voraus, dass ihre nach Art. 80 Abs. 1 Satz 1 GG
erforderliche formellgesetzliche Ermächtigungsgrundlage im
Zeitpunkt des Erlasses der Rechtsverordnung in Geltung gesetzt war.
Das BVerfG hatte über den insoweit vergleichbaren Fall zu
entscheiden, dass ein Bundesgesetz an demselben Tag erlassen und im
Bundesgesetzblatt, Teil I verkündet wurde wie das
verfassungsändernde Gesetz, mit dem die Gesetzgebungskompetenz
des Bundes überhaupt erst geschaffen worden war, wobei
Letzteres aber erst am Tag nach seiner Verkündung in Kraft
trat. Hierzu hat das BVerfG ausgeführt, von einer
Ermächtigung könne erst Gebrauch gemacht werden, wenn sie
vorliege. Die ermächtigende Norm müsse also in Kraft
gesetzt sein, bevor die darauf gestützte Norm erlassen werden
könne (BVerfG-Urteil vom 26.07.1972 - 2 BvF 1/71, BVerfGE 34,
9, unter B.II.2.). Künftig werde es die Nichtigkeit eines
vorzeitig erlassenen Gesetzes annehmen. Im konkreten Fall hatte das
BVerfG mit Rücksicht auf die bisherige Staatspraxis dem
Gesetzgeber eine Art Vertrauensschutz gewährt. Das
Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hat unter Berufung auf diese
Entscheidung formuliert, als Grundlage einer Rechtsverordnung
könnten nur solche Ermächtigungsnormen herangezogen
werden, die zum Zeitpunkt der Ausfertigung der Verordnung bereits
„in Geltung gestanden“ hätten
(BVerwG-Urteil vom 20.04.2023 - 2 C 18.21, NVwZ 2023, 1423 = SIS 24 07 94, Rz 16). Diese Auffassung wird von der verfassungsrechtlichen
Literatur geteilt (vgl. z.B. Remmert in Dürig/Herzog/Scholz,
Komm. z. GG, Art. 80 Rz 50 und Butzer in Dürig/Herzog/Scholz,
Komm. z. GG, Art. 82 Rz 286, jeweils m.w.N.; BeckOK GG/Uhle, 56.
Ed. 15.08.2023, GG Art. 80 Rz 7, 9; Ossenbühl in
Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, § 103 Rz 76).
|
|
|
23
|
cc) Bei § 86f StBerG fallen das
Inkrafttreten (01.08.2022) und der erstmalige Anwendungszeitpunkt
(31.12.2022) auseinander. Das BVerfG-Urteil vom 26.07.1972 - 2 BvF
1/71 (BVerfGE 34, 9) betrifft unmittelbar nur eine noch nicht in
Kraft getretene Ermächtigungsnorm, formuliert aber auch (unter
B.II.2.), der Tag des Inkrafttretens eines Gesetzes bestimme
„seinen zeitlichen Geltungsbereich, den Tag, von dem an es
anzuwenden ist“, scheint also an Inkrafttreten
und Anwendung dieselben Rechtsfolgen zu knüpfen. Dies
dürfte nach der vorläufigen Auffassung des Senats auch
dem allgemeinen Sprachgebrauch entsprechen. Eine Norm, die noch
nicht anzuwenden ist, hat noch keine Geltung erlangt und kann noch
keine Rechtswirkungen entfalten. Die normative Wirkung einer
Ermächtigungsgrundlage besteht aber gerade darin, die
Rechtsgrundlage für den Erlass einer Rechtsverordnung zu
schaffen. Es stellt sich folglich die Frage, ob sich nicht die
„Anwendung“ einer
Ermächtigungsgrundlage gerade in dem Erlass der betreffenden
Rechtsverordnung erschöpft. Dann wäre der Erlass der
Rechtsverordnung vor Anwendbarkeit ihrer
Ermächtigungsgrundlage unzulässig.
|
|
|
24
|
Auch in zahlreichen Steuergesetzen ist es
gängige Regelungstechnik, den Zeitpunkt der erstmaligen
Anwendung zu bestimmen. Zuvor kann eine solche Norm ihre
rechtlichen Wirkungen nicht entfalten (vgl. etwa § 52 des
Einkommensteuergesetzes). Der Senat neigt bei vorläufiger
Betrachtung auch nicht zu der Auffassung, dass sich die
Anwendungsregelung des § 157e StBerG lediglich auf den
zeitlichen Anwendungsbereich der auf der Grundlage des § 86f
StBerG zu erlassenden Rechtsverordnung beziehe. Weder
Gesetzeswortlaut noch Gesetzesmaterialien lassen einen solchen
eventuellen Willen des Gesetzgebers erkennen. Dieses Ziel
hätte der Gesetzgeber einfacher erreichen können, wenn er
ebenso wie in Bezug auf das besondere elektronische Anwaltspostfach
in der Rechtsanwaltsverzeichnis- und -postfachverordnung
vorgegangen wäre. Der Senat kann derzeit auch nicht erkennen,
dass es sich bei der hier gewählten Regelungstechnik um eine
ständige Staatspraxis handelte, zumal sich dann in dem
umfangreichen staatsrechtlichen Schrifttum hierzu eine
ausdrückliche Aussage finden lassen müsste, was aber
nicht der Fall ist.
|
|
|
25
|
dd) Sollte der Erlass der
Steuerberaterplattform- und -postfachverordnung zu einem Zeitpunkt,
in dem die Ermächtigungsgrundlage noch nicht anwendbar war,
einen Fehler im Rechtsetzungsverfahren begründen, dürfte
dieser Fehler nicht durch die spätere Anwendbarkeit der
Ermächtigungsgrundlage geheilt worden sein. Eine solche
Heilung hat schon das BVerfG in seinem Urteil vom 26.07.1972 - 2
BvF 1/71 (BVerfGE 34, 9, unter B.II.2.) für künftige
Fälle nicht in Betracht gezogen und später klargestellt,
eine rückwirkende Heilung kompetenzrechtlicher
Verstöße sei ausgeschlossen, weil die ermächtigende
Norm in Kraft gesetzt sein müsse, bevor die darauf
gestützte Norm ergehen könne (BVerfG-Beschluss vom
25.02.1999 - 1 BvR 1472/91, 1 BvR 1510/91, NJW 1999, 3404, unter
II.2.a bb). Ebenso geht das BVerwG in ständiger Rechtsprechung
davon aus, dass eine ohne in Geltung befindliche
Ermächtigungsgrundlage erlassene Rechtsverordnung nicht
lediglich schwebend unwirksam, sondern nichtig sei und
gegebenenfalls neu erlassen werden müsse (BVerwG-Urteile vom
29.04.2010 - 2 C 77.08, BVerwGE 137, 30, Rz 20 und vom 20.04.2023 -
2 C 18.21 = SIS 24 07 94, BVerwGE 178, 201, Rz 16).
|
|
|
26
|
ee) Sollte die Steuerberaterplattform- und
-postfachverordnung nichtig sein, könnte es derzeit an einer
Rechtsgrundlage für eine Verpflichtung der Steuerberater zur
Erstregistrierung fehlen. Zu den Einzelheiten, die § 86f Nr. 2
StBerG das BMF zu regeln ermächtigt, enthält das
Steuerberatungsgesetz keine Regelungen; sie finden sich vielmehr
ausschließlich in der Steuerberaterplattform- und
-postfachverordnung. Insbesondere regelt § 15 i.V.m. § 4
StBPPV detailliert die Erstanmeldung am beSt (das
Registrierungsverfahren), um die es im vorliegenden Fall in erster
Linie geht. Zudem wäre zu prüfen, ob ohne die im Hinblick
auf die Anforderungen der Datenschutz-Grundverordnung zwingend
erforderlichen Regelungen der Steuerberaterplattform- und
-postfachverordnung die Nutzung des beSt verpflichtend sein kann.
§ 86d StBerG regelt nur die passive Nutzungspflicht und reicht
als Rechtsgrundlage für die aktive Nutzungspflicht
einschließlich der Verpflichtung der Erstanmeldung zum beSt
nicht aus. Ob sich allein aus § 52d Satz 2 FGO ohne den
notwendigen Unterbau der Steuerberaterplattform- und
-postfachverordnung eine Nutzungspflicht ergibt, ist zweifelhaft.
Dies würde voraussetzen, dass ein auf gesetzlicher Grundlage
errichtetes Postfach „zur Verfügung
steht“. Zu dieser „gesetzlichen
Grundlage“ könnte nach dem
Gesamtzusammenhang auch die Steuerberaterplattform- und
-postfachverordnung gehören, die erst die
„Sicherheit“ des von § 52d Satz 2
FGO vorausgesetzten „sicheren
Übermittlungswegs“ herstellt.
|
|
|
27
|
c) Ungeachtet seiner Zweifel an der
Rechtsgrundlage der Nutzungspflicht des beSt könnte sich der
Senat zudem vorstellen, mit Rücksicht auf Art. 19 Abs. 4 GG
die bislang vom BFH gestellten sehr hohen Anforderungen an
Steuerberater in Bezug auf die erstmalige Registrierung etwas
zurückzunehmen.
|
|
|
28
|
aa) Insbesondere neigt der Senat dazu, in
rechtsschutzgewährender Auslegung des § 52d Satz 2 FGO
davon auszugehen, dass dem Steuerberater ein sicherer
Übermittlungsweg nicht bereits typisierend und unwiderleglich
seit dem 01.01.2023 „zur Verfügung
steht“, sondern erst dann, wenn der
Steuerberater, der beim Registrierungsverfahren seine
berufsrechtliche Sorgfaltspflicht erfüllt, tatsächlich
über ein funktionsfähiges beSt verfügt. Ob ohne
entsprechende klare Rechtsgrundlage eine Rechtspflicht oder
Obliegenheit besteht, einen Zugang zum vorgezogenen
Registrierungsverfahren zu beantragen, kann im Streitfall
dahinstehen, da S dies tatsächlich getan hat. Da in allen
Verlautbarungen der BStBK und der regionalen Steuerberaterkammern,
die in den dem Senat bekannten Verfahren vorgelegt wurden, die
Möglichkeit des vorgezogenen Registrierungsverfahrens
(„fast lane“) lediglich als optionales
Angebot bezeichnet worden ist, hegt der Senat Zweifel, ob es einem
Steuerberater zur Last gelegt werden kann, diesen Weg nicht
gewählt zu haben. Das gilt umso mehr, als die BStBK und die
regionalen Steuerberaterkammern hoheitliche Aufgaben wahrnehmen.
Jedenfalls hält es der Senat im Lichte von Art. 19 Abs. 4 GG
für geboten, zugunsten der Steuerberater die
Übergangsschwierigkeiten bei Einrichtung des beSt zu
berücksichtigen, die sich nicht zuletzt darin manifestiert
haben, dass die Registrierungsbriefe planmäßig nicht vor
dem 01.01.2023, sondern erst beginnend mit diesem Datum in Tranchen
über mehrere Monate hinweg versandt wurden.
|
|
|
29
|
bb) Im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG und das
Recht auf ein faires Verfahren kann aus Sicht des Senats auf die
Maßstäbe des Urteils des Europäischen Gerichtshofs
für Menschenrechte (EGMR) vom 09.06.2022 - 15567/20 - Xavier
Lucas ./. Frankreich (Newsletter Menschenrechte 2022, 245)
zurückgegriffen werden. Der EGMR erachtet „exzessiven
Formalismus“ als Verstoß gegen das Recht
auf ein faires Verfahren aus Art. 6 Abs. 1 der Europäischen
Menschenrechtskonvention (EMRK). Das Urteil ist zu der
französischen Regelung über den elektronischen
Rechtsverkehr ergangen. Zwar ist Art. 6 Abs. 1 EMRK im Steuerrecht
nicht anwendbar (Senatsurteil vom 27.04.2016 - X R 1/15, BFHE 253,
306, BStBl II 2016, 840 = SIS 16 15 14, Rz 31, m.w.N.). Das Recht
auf ein faires Verfahren ist aber ebenso im nationalen Verfassungs-
und Prozessrecht verankert, so dass die Rechtsprechung des EGMR als
Auslegungshilfe dienen kann.
|
|
|
30
|
Im zugrundeliegenden Ausgangsverfahren hatte
der Beschwerdeführer seinen Schriftsatz entgegen den
Vorschriften des französischen Prozessrechts, denen zufolge
der gerichtliche Schriftsatz auf elektronischem Wege einzureichen
war, per Post eingereicht. Obwohl die in Frankreich installierte
elektronische Plattform für diese spezielle Verfahrensart
keine Rubrik enthielt, verwarf die Cour de cassation als
Revisionsgericht gegen die Vorinstanzen den verfahrenseinleitenden
Antrag als unzulässig, da von den gesetzlichen Regelungen
über den elektronischen Rechtsverkehr in keinem Fall
abgewichen werden könne. Die französische Regierung hat
im Verfahren vor dem EGMR auf die Normzwecke der geltenden Regelung
verwiesen (Gewährleistung einer ordnungsgemäßen
Justizverwaltung; Beschleunigung, Erleichterung und sicherere
Gestaltung prozessualer Eingaben; vgl. EGMR-Urteil vom 09.06.2022 -
15567/20 - Xavier Lucas ./. Frankreich, Newsletter Menschenrechte
2022, 245, Rz 46); diese Normzwecke entsprechen denen des §
52d FGO. Trotz der fehlenden Rubrik hätte der
Beschwerdeführer einen „ganz
leichten“ Zugang gehabt, wenn er ein
bestimmtes Formular ausgefüllt hätte (EGMR-Urteil vom
09.06.2022 - 15567/20 - Xavier Lucas ./. Frankreich, Newsletter
Menschenrechte 2022, 245, Rz 53). Der EGMR hat einstimmig eine
Verletzung des in Art. 6 Abs. 1 EMRK garantierten Rechts auf ein
faires Verfahren bejaht, dem Beschwerdeführer eine
Entschädigung zugesprochen und sinngemäß
ausgeführt, zwar sei das gesetzgeberische Ziel legitim, der
„formalistische Ansatz“ der Cour de
cassation gewichte aber das Recht auf Zugang zum Gericht nicht
ausreichend. Das Formular verwende Begriffe in ungenauer Weise, sei
mithin nicht „ganz leicht“
auszufüllen, und es hätten sowohl präzise
Informationen über die Antragsmodalitäten als auch
Rechtsprechung gefehlt, auf die der Beschwerdeführer sich
hätte stützen können (im Einzelnen EGMR-Urteil vom
09.06.2022 - 15567/20 - Xavier Lucas ./. Frankreich, Newsletter
Menschenrechte 2022, 245, Rz 57 f.).
|
|
|
31
|
In diesen Überlegungen kommt zum
Ausdruck, dass die Anforderungen an den Rechtsschutzsuchenden nicht
überspannt werden dürfen und Unklarheiten und
Schwierigkeiten bei der Nutzung der elektronischen Kommunikation
mit den Gerichten nicht zu Lasten der Rechtsschutzsuchenden gehen
dürfen.
|
|
|
32
|
d) Das FG kann auch erneut Überlegungen
zur Frage der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
gemäß § 56 FGO anstellen.
|
|
|
33
|
aa) Das FG hat ausgeführt, die
Wiedereinsetzungsfrist habe nicht erst mit Erhalt des
Hinweisschreibens des FG vom 27.02.2023 begonnen, sondern bereits
mit dem Eintritt der Funktionsfähigkeit des beSt des S am
20.01.2023, weil S aufgrund des BFH-Beschlusses vom 27.04.2022 - XI
B 8/22 (BFH/NV 2022, 1057 = SIS 22 13 90) hätte wissen
müssen, dass er ab dem 01.01.2023 zur elektronischen
Kommunikation verpflichtet sei. Dem kann der Senat nur bedingt
folgen. Denn mit den erheblichen Übergangsschwierigkeiten der
Errichtung des beSt (§ 52d Satz 2 FGO) zum Jahreswechsel
2022/2023 konnte sich der bereits am 27.04.2022 ergangene Beschluss
nicht beschäftigen und er enthält hierzu auch
tatsächlich keine Ausführungen.
|
|
|
34
|
bb) Weiter wird das FG gerade angesichts der
Übergangsschwierigkeiten bei der Einführung des beSt
prüfen müssen, ob es die prozessuale Fürsorge
geboten hätte, den Hinweis, den es am 27.02.2023 erteilt hat,
bereits zeitnah nach Eingang der Klagen zu erteilen. Dass den
Finanzgerichten im Zusammenhang mit der Einführung des
elektronischen Rechtsverkehrs besondere Fürsorgepflichten
obliegen, zeigt auch § 52a Abs. 6 Satz 1 FGO.
|
|
|
35
|
3. Die Übertragung der
Kostenentscheidungen auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2
FGO.
|
|
|
36
|
4. Von einer weiteren Darstellung des
Sachverhalts sowie einer weiteren Begründung sieht der Senat
gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 FGO ab.
|