A. Dem Gerichtshof der Europäischen Union
werden folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist die förmliche Zustellung von
Schriftstücken nach öffentlich-rechtlichen Vorschriften
(Vorschriften der Prozessordnungen und der Gesetze, die die
Verwaltungszustellung regeln - § 33 Absatz 1 des Postgesetzes
- ) eine Post-Universaldienstleistung nach Artikel 3 Absatz 4 der
Richtlinie 97/67/EG vom 15.12.1997 (Post-Richtlinie)?
2. Sollte die Frage 1. zu bejahen sein:
Ist ein Unternehmer, der die förmliche
Zustellung von Schriftstücken nach öffentlich-rechtlichen
Vorschriften durchführt, ein „Anbieter von
Universaldienstleistungen“ im Sinne des Artikels 2 Nummer
13 der Richtlinie 97/67/EG vom 15.12.1997, der die Leistungen des
postalischen Universaldienstes ganz oder teilweise erbringt, und
sind diese Leistungen nach Artikel 132 Absatz 1 Buchstabe a der
Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das
gemeinsame Mehrwertsteuersystem steuerfrei?
B. Das Verfahren wird bis zur Entscheidung des
Gerichtshofs der Europäischen Union ausgesetzt.
1
|
I. Der Kläger und Revisionskläger
(Kläger) ist Insolvenzverwalter über das Vermögen
der A-GmbH (nachfolgend: A). Die A betrieb bis zur Eröffnung
des Insolvenzverfahrens im Jahre 2011 - neben weiteren mit ihr
über die gemeinsame Muttergesellschaft (B ... AG) verbundenen
Unternehmen der B-Gruppe - ein Unternehmen, dessen
Geschäftsgegenstand insbesondere die Ausführung von
Postzustellungsaufträgen im Gebiet der Bundesrepublik
Deutschland (Deutschland) ist.
|
|
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2
|
A beantragte im Jahr 2010 beim Beklagten
und Revisionsbeklagten (Bundeszentralamt für Steuern - BZSt -
), ihr eine Bescheinigung über die
„Umsatzsteuerbefreiung in Bezug auf das Produkt
Postzustellungsaufträge (PZA) gemäß §§
176 ff. ZPO [Zivilprozessordnung]“ nach § 4 Nummer 11b
des Umsatzsteuergesetzes in der ab dem 1.7.2010 geltenden Fassung
(UStG) zu erteilen. Zur Begründung führte die A aus, dass
das Produkt „Postzustellungsauftrag“ dem
Post-Universaldienst zuzuordnen sei.
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3
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A hatte sich gemäß § 4
Nummer 11b UStG über ihre Muttergesellschaft gegenüber
dem BZSt verpflichtet, bundesweit flächendeckende
förmliche Zustellungen von Schriftstücken auf der
Grundlage der Prozessordnungen und der Gesetze, die die
Verwaltungszustellung regeln, entsprechend der seitens der
Bundesnetzagentur zu diesem Zweck erteilten Lizenzen im gesamten
Bundesgebiet anzubieten.
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4
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Das BZSt lehnte den Antrag auf Erteilung
einer Bescheinigung nach § 4 Nummer 11b UStG durch Bescheid
vom 4.8.2010 mit der Begründung ab, das Produkt
„Postzustellungsauftrag“ sei keine
Post-Universaldienstleistung.
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5
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Am 1.7.2011 wurde das Insolvenzverfahren
über das Vermögen der A eröffnet und der Kläger
zum Insolvenzverwalter bestellt.
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6
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Das Finanzgericht wies die vom Kläger
weiterverfolgte Klage mit der Begründung ab, dass ein
„Postzustellungsauftrag“ bei unionsrechtskonformer
Auslegung von § 4 Nummer 11b UStG nicht zu den
Post-Universaldienstleistungen gehöre.
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7
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Hiergegen richtet sich die Revision des
Klägers, der unter anderem vorgetragen hat, dass
förmliche Zustellungen in allen EU-Mitgliedstaaten - mit
Ausnahme des Königreichs Schweden - von der Umsatzsteuer
befreit seien.
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8
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II. Der Senat legt dem Gerichtshof der
Europäischen Union (EuGH) die im Tenor unter A. bezeichneten
Fragen zur Auslegung des Unionsrechts vor und setzt das Verfahren
bis zur Entscheidung des EuGH aus.
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9
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1. Rechtlicher Rahmen
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10
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a) Unionsrecht
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11
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aa) Gemäß Artikel 132 Absatz 1 der
Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das
gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL) befreien die
Mitgliedstaaten folgende Umsätze von der Steuer:
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“a) von öffentlichen
Posteinrichtungen erbrachte Dienstleistungen und dazugehörende
Lieferungen von Gegenständen mit Ausnahme von
Personenbeförderungs- und
Telekommunikationsdienstleistungen;“
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12
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bb) Nach Artikel 2 der Richtlinie 97/67/EG des
Europäischen Parlaments und des Rates vom 15.12.1997 über
gemeinsame Vorschriften für die Entwicklung des Binnenmarktes
der Postdienste der Gemeinschaft und die Verbesserung der
Dienstequalität (Amtsblatt der Europäischen Union - ABlEU
- Nummer L 15 vom 21.1.1998, Seite 14; Nummer L 23 vom 30.1.1998,
Seite 39), zuletzt geändert durch die Richtlinie 2008/6/EG des
Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.2.2008 zur
Änderung der Richtlinie 97/67/EG im Hinblick auf die
Vollendung des Binnenmarktes der Postdienste der Gemeinschaft
(ABlEU Nummer L 52 vom 27.2.2008, Seite 3 - Post-Richtlinie - )
bezeichnet der Ausdruck
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“...
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Nr. [Nummer] 5 ‘Zustellung’ die
Bearbeitungsschritte vom Sortieren in den Zustellzentren bis zur
Aushändigung der Sendungen an die Empfänger;
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Nr. [Nummer] 6 ‘Postsendung’ eine
adressierte Sendung in der endgültigen Form, in der sie von
einem Postdiensteanbieter übernommen wird. Es handelt sich
dabei neben Briefsendungen z.B. [zum Beispiel] um Bücher,
Kataloge, Zeitungen und Zeitschriften sowie um Postpakete, die
Waren mit oder ohne Handelswert enthalten.
|
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...
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Nr. [Nummer] 9 ‘Einschreibsendung’
eine Postsendung, die durch den Dienstanbieter pauschal gegen
Verlust, Entwendung oder Beschädigung versichert wird und bei
der dem Absender, gegebenenfalls auf sein Verlangen, eine
Bestätigung über die Entgegennahme der Sendung und/oder
ihre Aushändigung an den Empfänger erteilt wird.
|
|
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...
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|
|
|
Nr. [Nummer] 13
‘Universaldiensteanbieter’ einen öffentlichen oder
privaten Postdienstanbieter, der in einem Mitgliedstaat die
Leistungen des Universalpostdienstes ganz oder teilweise erbringt
und dessen Identität der Kommission gemäß Artikel 4
mitgeteilt wurde.“
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13
|
cc) Artikel 3 der Post-Richtlinie sieht
vor:
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“(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher,
dass den Nutzern ein Universaldienst zur Verfügung steht, der
ständig flächendeckend postalische Dienstleistungen einer
bestimmten Qualität zu tragbaren Preisen für alle Nutzer
bietet.
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...
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|
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(4) Jeder Mitgliedstaat erlässt die
erforderlichen Maßnahmen, damit der Universaldienst
mindestens folgendes Angebot umfasst:
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- Abholung, Sortieren, Transport und
Zustellung von
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|
Postsendungen bis 2 kg;
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|
- Abholung, Sortieren, Transport und
Zustellung von
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|
Postpaketen bis 10 kg;
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|
- die Dienste für Einschreib- und
Wertsendungen.
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|
...
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(7) Der in diesem Artikel definierte
Universaldienst umfasst sowohl Inlandsleistungen als auch
grenzüberschreitende Leistungen.“
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14
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Nach Artikel 8 der Post-Richtlinie bleibt das
Recht der Mitgliedstaaten unberührt,
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“... Regelungen zu treffen für die
Aufstellung von Postbriefkästen auf öffentlichen Wegen,
für die Ausgabe von Postwertzeichen und für den Dienst,
der im Einklang mit ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften die
Zustellung von Einschreibsendungen im Rahmen von Gerichts–
oder Verwaltungsverfahren ausführt“.
|
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|
In den Erwägungsgründen der
Post-Richtlinie in der Fassung vom 15.12.1997 (ABlEU L 15 vom
21.1.1998 Seite 14 bis 25) heisst es:
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“...
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(13) Der Universaldienst muss sowohl
Inlandsdienste als auch grenzüberschreitende Dienste
umfassen.
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...
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|
(20) Die Mitgliedstaaten können aus
Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ein
legitimes Interesse daran haben, die Aufstellung von
Postbriefkästen auf öffentlichen Wegen einer oder
mehreren von ihnen benannten Einrichtungen zu übertragen. Aus
den gleichen Gründen sind sie berechtigt, die Einrichtung oder
Einrichtungen zu benennen, die Postwertzeichen, aus denen das
Ausgabeland hervorgeht, herausgeben dürfen, sowie die
Einrichtungen, die für den Dienst zuständig sind, der im
Einklang mit ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften die
Zustellung von Einschreibsendungen im Rahmen von Gerichts–
oder Verwaltungsverfahren ausführt ...“
|
|
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15
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b) Nationales Recht
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16
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aa) Nach § 4 UStG sind von den unter
§ 1 Absatz 1 Nummer 1 UStG fallenden Umsätzen
steuerfrei:
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“Nr. [Nummer] 11b.
Universaldienstleistungen nach Art. [Artikel] 3 Abs. [Absatz] 4 der
Richtlinie 97/67/EG des Europäischen Parlaments und des Rates
vom 15.12.1997 über gemeinsame Vorschriften für die
Entwicklung des Binnenmarktes der Postdienste der Gemeinschaft und
die Verbesserung der Dienstequalität (ABl. [Amtsblatt] L 15
vom 21.1.1998, S. [Seite] 14, L 23 vom 30.1.1998, S. [Seite] 39),
die zuletzt durch die Richtlinie 2008/6/EG (ABl. [Amtsblatt] L 52
vom 27.2.2008, S. [Seite] 3) geändert worden ist, in der
jeweils geltenden Fassung. Die Steuerbefreiung setzt voraus, dass
der Unternehmer sich entsprechend einer Bescheinigung des
Bundeszentralamtes für Steuern gegenüber dieser
Behörde verpflichtet hat, flächendeckend im gesamten
Gebiet der Bundesrepublik Deutschland die Gesamtheit der
Universaldienstleistungen oder einen Teilbereich dieser Leistungen
nach Satz 1 anzubieten. Die Steuerbefreiung gilt nicht für
Leistungen, die der Unternehmer erbringt
|
|
|
|
a) auf Grund individuell ausgehandelter
Vereinbarungen oder
|
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|
b) auf Grund allgemeiner
Geschäftsbedingungen zu abweichenden Qualitätsbedingungen
oder zu günstigeren Preisen als den nach den allgemein
für jedermann zugänglichen Tarifen oder als den nach
§ 19 des Postgesetzes vom 22.12.1997 (BGBl [Bundesgesetzblatt]
I S. [Seite] 3294), das zuletzt durch Artikel 272 der Verordnung
vom 31.10.2006 (BGBl [Bundesgesetzblatt] I S. [Seite] 2407)
geändert worden ist, in der jeweils geltenden Fassung
genehmigten Entgelten;“
|
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17
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bb) Das Postgesetz ( - PostG - vom 22.12.1997,
Bundesgesetzblatt I 1997, 3294, zuletzt geändert am 31.8.2015,
Bundesgesetzblatt I 2015, 1474, 1541) enthält unter anderem
folgende Regelungen:
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“§ 11 Begriff und Umfang des
Universaldienstes
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(1) Universaldienstleistungen sind ein
Mindestangebot an Postdienstleistungen nach § 4 Nr. [Nummer]
1, die flächendeckend in einer bestimmten Qualität und zu
einem erschwinglichen Preis erbracht werden. Der Universaldienst
ist auf lizenzpflichtige Postdienstleistungen und
Postdienstleistungen, die zumindest in Teilen
beförderungstechnisch mit lizenzpflichtigen
Postdienstleistungen erbracht werden können, beschränkt.
Er umfasst nur solche Dienstleistungen, die allgemein als
unabdingbar angesehen werden.
|
|
|
|
(2) Die Bundesregierung wird ermächtigt,
durch Rechtsverordnung, die der Zustimmung des Bundestages und des
Bundesrates bedarf, nach Maßgabe des Absatzes 1 Inhalt und
Umfang des Universaldienstes festzulegen ...
|
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|
...
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|
§ 33 Verpflichtung zur förmlichen
Zustellung
|
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|
|
(1) Ein Lizenznehmer, der
Briefzustelldienstleistungen erbringt, ist verpflichtet,
Schriftstücke unabhängig von ihrem Gewicht nach den
Vorschriften der Prozessordnungen und der Gesetze, die die
Verwaltungszustellung regeln, förmlich zuzustellen. Im Umfang
dieser Verpflichtung ist der Lizenznehmer mit Hoheitsbefugnissen
ausgestattet (beliehener Unternehmer).
|
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|
(2) Die Regulierungsbehörde hat den
verpflichteten Lizenznehmer auf dessen Antrag von der Verpflichtung
nach Absatz 1 zu befreien, soweit der Lizenznehmer nicht
marktbeherrschend ist. Die Befreiung ist ausgeschlossen, wenn zu
besorgen ist, dass hierdurch die förmliche Zustellung nach
Absatz 1 nicht mehr flächendeckend gewährleistet
wäre. Die Befreiung kann widerrufen werden, wenn der
Lizenznehmer marktbeherrschend wird oder die Voraussetzung des
Satzes 2 vorliegt. Der Antrag auf Befreiung kann mit dem Antrag auf
Erteilung der Lizenz verbunden werden.
|
|
|
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§ 34 Entgelt für die förmliche
Zustellung
|
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Der verpflichtete Lizenznehmer hat Anspruch
auf ein Entgelt. Durch dieses werden alle von dem Lizenznehmer
erbrachten Leistungen einschließlich der hoheitlichen
Beurkundung und Rücksendung der Beurkundungsunterlagen an die
auftraggebende Stelle abgegolten. Das Entgelt hat den
Maßstäben des § 20 Abs. [Absatz] 1 und 2 zu
entsprechen. Es bedarf der Genehmigung durch die
Regulierungsbehörde. Das Bundesministerium der Justiz und
für Verbraucherschutz und das Bundesministerium des Innern
sind unverzüglich über beabsichtigte Entgeltgenehmigungen
zu informieren.“
|
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18
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cc) § 1 der
Post-Universaldienstleistungsverordnung vom 15.12.1999
(Bundesgesetzblatt I 1999, 2418), zuletzt geändert am 7.7.2005
(Bundesgesetzblatt I 2005, 1970) enthält folgende Regelung
über den Universaldienst:
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“(1) Als Universaldienstleistungen
werden folgende Postdienstleistungen bestimmt:
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1. die Beförderung von Briefsendungen im
Sinne des § 4 Nr. [Nummer] 2 des Gesetzes, sofern deren
Gewicht 2.000 Gramm und deren Maße die im Weltpostvertrag und
den entsprechenden Vollzugsverordnungen festgelegten Maße
nicht überschreiten,
|
|
|
|
2. die Beförderung von adressierten
Paketen, deren Einzelgewicht 20 Kilogramm nicht übersteigt und
deren Maße die im Weltpostvertrag und den entsprechenden
Vollzugsverordnungen festgelegten Maße nicht
überschreiten,
|
|
|
|
3. die Beförderung von Zeitungen und
Zeitschriften im Sinne des § 4 Nr. [Nummer] 1 Buchstabe c des
Gesetzes. Hierzu zählen periodisch erscheinende
Druckschriften, die zu dem Zwecke herausgegeben werden, die
Öffentlichkeit über Tagesereignisse, Zeit- oder
Fachfragen durch presseübliche Berichterstattung zu
unterrichten.
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(2) Die Briefbeförderung umfasst auch die
Sendungsformen
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1. Einschreibsendung (Briefsendung, die
pauschal gegen Verlust, Entwendung oder Beschädigung
versichert ist und gegen Empfangsbestätigung ausgehändigt
wird),
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2. Wertsendung (Briefsendung, deren Inhalt in
Höhe des vom Absender angegebenen Wertes gegen Verlust,
Entwendung oder Beschädigung versichert ist),
|
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3. Nachnahmesendung (Briefsendung, die erst
nach Einziehung eines bestimmten Geldbetrages an den Empfänger
ausgehändigt wird),
|
|
|
|
4. Sendung mit Eilzustellung (Briefsendung,
die so bald wie möglich nach ihrem Eingang bei einer
Zustelleinrichtung durch besonderen Boten zugestellt
wird).“
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19
|
dd) Die Zivilprozessordnung (ZPO) enthält
unter anderem folgende Regelungen zur förmlichen
Zustellung:
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20
|
(1) Zustellungsauftrag nach § 176
ZPO:
|
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|
“(1) Wird der Post, einem
Justizbediensteten oder einem Gerichtsvollzieher ein
Zustellungsauftrag erteilt oder wird eine andere Behörde um
die Ausführung der Zustellung ersucht, übergibt die
Geschäftsstelle das zuzustellende Schriftstück in einem
verschlossenen Umschlag und ein vorbereitetes Formular einer
Zustellungsurkunde. ...“.
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21
|
(2) Zustellungsurkunde nach § 182
ZPO:
|
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|
“(1) Zum Nachweis der Zustellung ... ist
eine Urkunde auf dem hierfür vorgesehenen Formular
anzufertigen. Für diese Zustellungsurkunde gilt ...
|
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(3) Die Zustellungsurkunde ist der
Geschäftsstelle in Urschrift oder als elektronisches Dokument
unverzüglich zurückzuleiten.“
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22
|
2. Zur ersten Vorlagefrage
|
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23
|
a) Vorbemerkung
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24
|
A hat nur dann einen Anspruch gegen das BZSt
auf Erteilung der Bescheinigung nach § 4 Nummer 11b Satz 2
UStG, wenn die Ausführung von förmlichen Zustellungen
eine Universaldienstleistung im Sinne von Artikel 3 Absatz 4 der
Post-Richtlinie ist. Dies soll mit der ersten Vorlagefrage, die
insoweit entscheidungserheblich ist, geklärt werden.
|
|
|
25
|
b) Zur Rechtslage nach der Post-Richtlinie
|
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26
|
Der Vorgabe in Artikel 3 Absatz 4 der
Post-Richtlinie lässt sich nicht mit eindeutiger Klarheit
entnehmen, ob die streitbefangenen förmlichen Zustellungen von
Postsendungen als Teilbereich der begünstigten
Post-Universaldienstleistungen anzusehen sind. Denn diese
Dienstleistungen sind in Artikel 3 Absatz 4 der Post-Richtlinie
nicht ausdrücklich genannt.
|
|
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27
|
aa) Förmliche Zustellungen von
Postsendungen können gemäß Artikel 3 Absatz 4 der
Post-Richtlinie Universaldienstleistungen bilden. Nach Artikel 3
Absatz 4 der Post-Richtlinie gehören die Zustellung von
Postsendungen bis 2 kg (erster Spiegelstrich) und die Zustellung
von Postpaketen bis 10 kg (zweiter Spiegelstrich) zu den
Post-Universaldiensten.
|
|
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28
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(1) Bei einer förmlichen Zustellung wird
das mit Zustellungsauftrag zuzustellende Dokument oder
Schriftstück an die Post oder einen entsprechenden
Dienstleister in einem verschlossenen Umschlag und ein
vorbereiteter Vordruck einer Zustellungsurkunde übergeben, die
nach der Zustellung wieder an die Stelle zurückgelangt, die
den Zustellungsauftrag erteilt hat (vergleiche zum Beispiel §
176 Absatz 1 ZPO und § 182 Absatz 3 ZPO).
|
|
|
29
|
(2) Auch eine förmliche Zustellung ist
eine Zustellung von Postsendungen oder Postpaketen, so dass die
Voraussetzungen von Artikel 3 Absatz 4 der Post-Richtlinie erster
und zweiter Spiegelstrich dem Grunde nach erfüllt sein
können. Es kann sich bei der förmlichen Zustellung um den
„Spezialfall“ einer Zustellung von Postsendungen
oder Postpaketen handeln, der sich vom Grundtatbestand der
Postsendung nur durch das Hinzutreten der aufgezeigten weiteren
Merkmale, wie zum Beispiel die Beurkundung der Übergabe und
Rückgabe der Zustellungsurkunde, unterscheidet.
|
|
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30
|
(3) Dies gilt aber nicht, wenn Artikel 2
Nummer 5 Post-Richtlinie, wonach eine
„Zustellung“ die Bearbeitungsschritte vom
Sortieren in den Zustellzentren bis zur Aushändigung der
Sendungen an die Empfänger umfasst, eine abschließende
Regelung darstellt. Die Norm würde dann dem Vorliegen einer
Universaldienstleistung entgegenstehen, weil bei einer
förmlichen Zustellung - wie aufgezeigt - weitere Anforderungen
zu erfüllen sind.
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|
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31
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bb) Es erscheint stattdessen auch nicht als
ausgeschlossen, dass förmliche Zustellungen zu den vom
Post-Universaldienst umfassten Diensten für
Einschreibsendungen im Sinne von Artikel 3 Absatz 4 dritter
Spiegelstrich der Post-Richtlinie gehören können.
|
|
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32
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Obschon bei förmlichen Zustellungen
anders als dies Artikel 2 Nummer 9 der Post-Richtlinie voraussetzt,
keine pauschale Versicherung durch den Dienstanbieter stattfindet,
ist eine Einbeziehung in den Anwendungsbereich dieser Regelung
denkbar, weil in Artikel 8 der Post-Richtlinie und dem 20.
Erwägungsgrund der Post-Richtlinie von der
„Zustellung von Einschreibsendungen im Rahmen von
Gerichts- oder Verwaltungsverfahren“ die Rede ist.
|
|
|
33
|
Denn der Richtliniengeber konnte nicht
für alle in den Mitgliedstaaten vorgesehenen nationalen
Regelungen für Zustellungen „im Rahmen von Gerichts-
oder Verwaltungsverfahren“, wozu die streitbefangenen
förmlichen Zustellungen im Geltungsbereich Deutschlands
gehören, Spezialregelungen vorsehen. Die aufgezeigte
Formulierung kann deshalb bedeuten, dass der Richtliniengeber eine
„Parallele“ zwischen
„Einschreibsendungen“ und förmlichen
Zustellungen „im Rahmen von Gerichts- oder
Verwaltungsverfahren“ erkennt. Unter
Berücksichtigung dieses Umstandes können
möglicherweise auch förmliche Zustellungen unter den
Begriff einer besonderen Einschreibsendung in diesem Sinne
fallen.
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|
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34
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cc) Gegen die Behandlung von förmlichen
Zustellungen als „Spezialfall“ einer Postsendung
oder als Einschreibsendung im Sinne von Artikel 3 Absatz 4 der
Post-Richtlinie könnte aber sprechen, dass die in Artikel 8
der Post-Richtlinie vorgesehene Ermächtigung an die
Mitgliedstaaten betreffend die „Zustellung von
Einschreibsendungen im Rahmen von Gerichts- oder
Verwaltungsverfahren“ nicht zum Kapitel 2 der
Post-Richtlinie gehört, welches den Universaldienst vom
Grundsatz her regelt, sondern erst im anschließenden Kapitel
3 enthalten ist, das die „Harmonisierung der
reservierbaren Dienste“ erfasst. Dies könnte
bedeuten, dass förmliche Zustellungen von Postsendungen nach
dem Willen des Unionsgesetzgebers und des nationalen Gesetzgebers
von vornherein nicht zu den Universal-Dienstleistungen als
Mindestangebot gehören sollen.
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35
|
Dem könnte indes entgegenstehen, dass die
in Artikel 8 der Post-Richtlinie und im 20. Erwägungsgrund der
Post-Richtlinie getroffene Regelung aufgrund der aufgezeigten
zusätzlichen Besonderheiten dieser Zustellungsart
gesetzestechnisch als sachgerechte Ergänzung erscheint und es
deshalb nicht von vorneherein ausgeschlossen ist, eine
förmliche Zustellung dem Grunde nach als Bestandteil des
Universaldienstes anzusehen.
|
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36
|
dd) Ferner könnte gegen die Annahme eines
Universaldienstes für förmliche Zustellungen die Regelung
in Artikel 3 Absatz 7 der Post-Richtlinie sprechen, wonach der
Universaldienst sowohl Inlandsleistungen als auch
grenzüberschreitende Leistungen umfasst, nach dem 13.
Erwägungsgrund der Post-Richtlinie sogar umfassen muss.
|
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37
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Für förmliche Zustellungen als
eigenständiger Teilbereich erscheint es als zweifelhaft, ob
diese Voraussetzung erfüllt ist, da öffentliche
Zustellungen im Regelfall ausschließlich im Hoheitsgebiet
eines Mitgliedstaates erbracht werden.
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38
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3. Zur zweiten Vorlagefrage
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39
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a) Vorbemerkung
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40
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Sollte die erste Vorlagefrage zu bejahen sein,
hängt der Anspruch des A auf Erteilung der Bescheinigung im
Sinne von § 4 Nummer 11b UStG in entscheidungserheblicher
Weise weiter davon ab, ob die von A als „Anbieter von
Universaldienstleistungen“ im Sinne von Artikel 2 Nummer
13 der Post-Richtlinie erbrachten Leistungen unter
Berücksichtigung von Artikel 132 Absatz 1 Buchstabe a
MwStSystRL steuerfrei sein können.
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41
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Der Senat hat Zweifel, ob ein Unternehmer, der
im Wesentlichen förmliche Zustellungen für Gerichte und
Verwaltungsbehörden ausführt, ganz oder teilweise
Leistungen des Post-Universaldienstes erbringt und deshalb als
Anbieter von Universaldienstleistungen im Sinne von Artikel 2
Nummer 13 der Post-Richtlinie gelten kann. Denn nach Artikel 3
Absatz 1 der Post-Richtlinie soll den Nutzern ein Universaldienst
zur Verfügung stehen, der ständig flächendeckend
postalische Dienstleistungen einer bestimmten Qualität zu
tragbaren Preisen für alle Nutzer bietet. Diese Voraussetzung
ist möglicherweise nicht erfüllt, wenn Auftraggeber bei
förmlichen Zustellungen nicht „alle Nutzer“
sind, sondern in erster Linie Gerichte und
Verwaltungsbehörden, so dass diese Form der Zustellung den
Nutzern nur mittelbar zugutekommt.
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42
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b) Den unionsrechtlichen Vorgaben lässt
sich nicht eindeutig entnehmen, ob die von A als möglicher
Anbieter im Sinne von Artikel 2 Nummer 13 der Post-Richtlinie
erbrachten Leistungen nach Artikel 132 Absatz 1 Buchstabe a
MwStSystRL von der Umsatzsteuer befreit sind.
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43
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aa) Ein „Anbieter von
Universaldienstleistungen“ ist nach Artikel 2 Nummer 13
der Post-Richtlinie eine öffentliche oder private Stelle, die
in einem Mitgliedstaat die Leistungen des postalischen
Universaldienstes ganz oder teilweise erbringt und der Kommission
gemäß Artikel 4 mitgeteilt wurde.
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44
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Es erscheint denkbar, dass A mit der
Ausführung von förmlichen Zustellungen Anbieter eines
Teils von postalischen Universaldienstleistungen ist.
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45
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bb) Artikel 132 Absatz 1 Buchstabe a
MwStSystRL sieht eine Steuerbefreiung für von
öffentlichen Posteinrichtungen erbrachte Dienstleistungen und
dazugehörende Lieferungen von Gegenständen mit Ausnahme
von Personenbeförderungs- und
Telekommunikationsdienstleistungen von der Steuer vor.
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|
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46
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Nach der Rechtsprechung des EuGH umfasst diese
Steuerbefreiung Dienstleistungen, welche die Posteinrichtungen als
solche ausführen, nämlich in ihrer Eigenschaft als
Betreiber, der sich verpflichtet, in einem Mitgliedstaat den
gesamten Universalpostdienst oder einen Teil davon zu
gewährleisten; nicht davon berührt sind Dienstleistungen
und die dazugehörenden Lieferungen von Gegenständen,
deren Bedingungen individuell ausgehandelt wurden (EuGH-Urteil TNT
Post UK vom 23.4.2009 C-357/07, EU:C:2009:248, Randziffern 44 bis
49, Leitsatz 2). Öffentliche Posteinrichtungen in diesem Sinne
sind öffentliche oder private Betreiber, die sich
verpflichten, postalische Dienstleistungen zu erbringen, die den
grundlegenden Bedürfnissen der Bevölkerung entsprechen
und damit in der Praxis den gesamten Universalpostdienst in einem
Mitgliedstaat, wie er in Artikel 3 der Post-Richtlinie beschrieben
ist, oder einen Teil davon zu gewährleisten (EuGH-Urteil TNT
Post UK, EU:C:2009:248, Randziffer 36).
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47
|
cc) Daraus ergibt sich nicht zweifelsfrei, ob
die von A ausgeführten streitbefangenen förmlichen
Zustellungen nach Artikel 132 Absatz 1 Buchstabe a MwStSystRL von
der Steuerbefreiung erfasst sind.
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48
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(a) Einerseits spricht für eine
elementare dem Gemeinwohl dienende Postdienstleistung der Umstand,
dass förmliche Zustellungen beispielsweise im
behördlichen Postverkehr der nachprüfbaren Zustellung von
amtlichen Schreiben dienen; ferner ermöglichen sie die
nachprüfbare Zustellung von Klage- und Antragsschriften oder
die Zustellung von gerichtlichen Entscheidungen, wodurch
Rechtsmittelfristen in Lauf gesetzt werden. Förmliche
Zustellungen sind zudem unabdingbar für ein geordnetes
Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren und tragen damit zu einer
verlässlichen und ordnungsgemäßen Rechtspflege
bei.
|
|
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49
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Auch erschiene es sinnwidrig, einen
entsprechenden Dienstleister zwar einerseits - wie bei § 33
PostG - zu verpflichten, auch förmliche Zustellungen von
Briefsendungen vorzunehmen, andererseits diese Teilleistung - im
Gegensatz zu den anderen Teilleistungen - aber als steuerpflichtig
zu behandeln, obwohl gerade die förmliche Zustellung von
Briefsendungen im Besonderen seit jeher - auch wegen der dabei
gebotenen Übertragung hoheitlicher Aufgaben - als
öffentliche Postdienstleistung anerkannt ist. Ein Ausschluss
der förmlichen Zustellung von Briefsendungen vom
Anwendungsbereich der Steuerbefreiung könnte vor diesem
Hintergrund und dem gesetzlich geregelten Erfordernis eines
„einheitlichen Leistungsangebots“ der
Unternehmer dem Neutralitätsprinzip im Sinne der gebotenen
Belastungsgleichheit zuwider laufen (EuGH-Urteil TNT Post UK,
EU:C:2009:248, Randziffer 45).
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Bei der förmlichen Zustellung von
Briefsendungen handelt es sich auch nicht um Dienstleistungen,
deren Bedingungen „individuell ausgehandelt“
würden, so dass der vom EuGH in seiner Rechtsprechung
ausdrücklich genannte Ausschlussgrund nicht eingreift
(EuGH-Urteil TNT Post UK, EU:C:2009:248, Randziffern 44 bis 49,
Leitsatz 2). Vielmehr sind die Maßstäbe für die
Entgelte gesetzlich geregelt und bedürfen einer Genehmigung
durch die Regulierungsbehörde (vergleiche § 34
PostG).
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(b) Dieser Auslegung könnte andererseits
entgegenstehen, dass der Einzelne die förmliche Zustellung
nicht bei der Post oder einem anderen Dienstleister in Auftrag
geben kann, sondern dies regelmäßig nur mittelbar
über ein Gericht oder über eine Verwaltungsbehörde
stattfindet (vergleiche zum Beispiel § 176 Absatz 1 ZPO).
Dieser Umstand widerspricht möglicherweise entscheidend dem
Charakter einer allen Nutzern zur Verfügung stehenden
Universaldienstleistung im Sinne von Artikel 3 Absatz 1 der
Post-Richtlinie.
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4. Die Vorlage beruht auf Artikel 267 des
Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen
Union.
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5. Die Aussetzung des Verfahrens beruht auf
§ 121 Satz 1 in Verbindung mit § 74 der
Finanzgerichtsordnung.
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