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A. I. Vorgelegte Rechtsfrage
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Der VI. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH)
hat durch Beschluss vom 18.4.2013 VI R 60/11 (BFHE 241, 141, BStBl
II 2013, 868 = SIS 13 22 47) dem Großen Senat des BFH
gemäß § 11 Abs. 4 der Finanzgerichtsordnung (FGO)
folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt:
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Ist ein Senat, der von einer Entscheidung
eines anderen Senats des BFH abweichen will, auch dann
verpflichtet, gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 FGO bei
diesem anzufragen, ob er an seiner bisherigen Rechtsprechung
festhält, und für den Fall, dass der angefragte Senat der
Änderung der Rechtsprechung nicht zustimmt, die streitige
Rechtsfrage dem Großen Senat des BFH gemäß §
11 Abs. 2 FGO vorzulegen, wenn der erkennende Senat aufgrund einer
Änderung des Geschäftsverteilungsplans für die
streitige Rechtsfrage - hier außergewöhnliche
Belastungen - zuständig geworden ist, wenn „nur diese
streitig“ ist, der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen
werden soll, jedoch weiterhin mit einer derartigen Rechtsfrage
befasst werden kann.
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II. Sachverhalt
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1. Die Kläger und Revisionskläger
(Kläger) wurden im Streitjahr 2008 zusammen zur
Einkommensteuer veranlagt. Sie erzielten Einkünfte aus
nichtselbständiger Arbeit. In ihrer
Einkommensteuererklärung machten sie Aufwendungen für die
Adoption eines in Äthiopien geborenen Kindes als
außergewöhnliche Belastung i.S. des § 33 des
Einkommensteuergesetzes (EStG) geltend. Wegen
Zeugungsunfähigkeit des Klägers haben die Kläger
keine leiblichen Kinder. Künstliche Befruchtungsmethoden
lehnen sie aus ethischen und gesundheitlichen Gründen ab.
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Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das
Finanzamt) berücksichtigte die geltend gemachten Aufwendungen
nicht als außergewöhnliche Belastung, weil sie nicht
zwangsläufig entstanden seien. Nach erfolglosem
Einspruchsverfahren erhoben die Kläger Klage, die das
Finanzgericht mit den in EFG 2012, 414 veröffentlichten
Gründen als unbegründet abwies.
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Mit der Revision machen die Kläger
geltend, die streitigen Aufwendungen seien einer heterologen
Insemination gleichzustellen und daher als
außergewöhnliche Belastung anzuerkennen. Sähen sich
Steuerpflichtige aus ethisch-religiösen Gründen nicht zu
einer heterologen Insemination in der Lage, sei bei
Zeugungsunfähigkeit eines Ehegatten die Adoption die einzige
Möglichkeit der Familiengründung.
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2. Der VI. Senat ist nach der
Geschäftsverteilung des BFH seit 2009 für
außergewöhnliche Belastungen i.S. der §§ 33
ff. EStG zuständig, „wenn nur diese streitig
sind“. Bis zum Jahr 2008 war hierfür der III. Senat
des BFH zuständig. Der III. Senat hat mit Urteilen vom
13.3.1987 III R 301/84 (BFHE 149, 245, BStBl II 1987, 495 = SIS 87 11 04) und vom 20.3.1987 III R 150/86 (BFHE 149, 539, BStBl II
1987, 596 = SIS 87 16 03) entschieden, dass Aufwendungen für
eine Adoption nicht als außergewöhnliche Belastung
gemäß § 33 EStG abgezogen werden können.
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Nach der derzeitigen Geschäftsverteilung
des BFH ist der III. Senat u.a. für Einkommensteuer
zuständig (vgl. A. III. Senat Nrn. 1 und 2 des
Geschäftsverteilungsplanes für 2014). Er kann daher mit
Fragen der Anwendung der §§ 33 ff. EStG befasst werden,
wenn nicht nur diese streitig sind.
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III. Vorlagebeschluss des VI.
Senats
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1. Die Vorlagefrage ist nach Auffassung des
VI. Senats zu verneinen. Der Senat, der aufgrund einer
Änderung des Geschäftsverteilungsplanes vorrangig
für ein bestimmtes Rechtsgebiet zuständig geworden sei,
könne von der Rechtsprechung eines anderen Senats des BFH ohne
vorherige Anfrage bei diesem abweichen. Eine Pflicht zur Vorlage an
den Großen Senat sei zu verneinen.
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Die Pflicht zur Anrufung des Großen
Senats entfalle, wenn der erkennende Senat aufgrund einer
Änderung in der Geschäftsverteilung ausschließlich
für die streitige Rechtsfrage zuständig geworden sei. Die
Gefahr einander widerstreitender Urteile bestehe dann künftig
nicht.
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Ebenso sei es, wenn der bisher zuständige
Senat aufgrund der Änderung der Geschäftsverteilung
künftig nur noch gelegentlich in die Lage kommen könne,
über die Rechtsfrage zu entscheiden, weil die
Zuständigkeit auf einen anderen Senat übergegangen sei,
soweit nur diese Rechtsfrage streitig ist.
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Durch die Zuweisung eines Rechtsgebiets an
einen bestimmten Senat werde diesem die Rechtsfortbildung
hierfür übertragen. Auch wenn der bislang zuständige
Senat in seltenen Fällen weiterhin mit Rechtsfragen aus diesem
Rechtsgebiet befasst werden könne, werde er sich nach dem
Zuständigkeitswechsel mit fortschreitender Zeit von der
Rechtsmaterie entfernen. Dies spreche dafür, die Entscheidung
über Streitfragen dem Senat zuzuweisen, der vornehmlich
für dieses Rechtsgebiet zuständig geworden sei. Die
Gefahr widerstreitender Urteile sei gering, weil ein Senat, der
sich nur gelegentlich mit der Materie eines anderen Senats befassen
müsse, in aller Regel der Rechtsprechung dieses Senats folgen
werde.
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Die durch die Geschäftsverteilung seit
2009 in erster Linie dem vorlegenden (VI.) Senat für das
Rechtsgebiet der außergewöhnlichen Belastungen
zugewiesene Aufgabe der Rechtsfortbildung sei vorrangig vor dem
Interesse an der Einheitlichkeit der Rechtsprechung, das durch die
Verpflichtung zur Vorlage an den Großen Senat in den
gesetzlich vorgesehenen Fällen gewahrt werden solle. Der
mehrdeutige Wortlaut des § 11 Abs. 3 Satz 2 FGO stehe einer
Änderung der Rechtsprechung ohne Anfrage nicht entgegen.
Beabsichtige ein dritter Senat, für den zu keinem Zeitpunkt
eine vorrangige Zuständigkeit bestanden habe, von der
Rechtsprechung des früher vorrangig zuständigen (III.)
Senats abzuweichen, müsse dieser nach § 11 Abs. 3 Satz 2
FGO beim nunmehr vorrangig zuständigen (VI.) Senat
anfragen.
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2. Der VI. Senat hält die vorgelegte
Rechtsfrage für entscheidungserheblich. Er sieht sich als zu
einer Abweichung von der Rechtsprechung des III. Senats berechtigt
an, ohne dass hierin eine Abweichung i.S. von § 11 Abs. 2 und
3 FGO zu sehen sei, die eine Entscheidung durch den Großen
Senat erforderlich mache. Dies führe zum Erfolg der
Revision.
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IV. Rechtsgrund der Vorlage
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1. Der vorlegende Senat begründet die
Vorlage mit der grundsätzlichen Bedeutung i.S. des § 11
Abs. 4 FGO. Die vorgelegte Rechtsfrage stelle sich nicht nur bei
außergewöhnlichen Belastungen, sondern auch bei anderen
Materien des Ertragsteuerrechts.
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Der Große Senat habe in den
Beschlüssen vom 15.11.1971 GrS 1/71 (BFHE 103, 433, BStBl II
1972, 68 = SIS 72 00 42), vom 21.10.1985 GrS 2/84 (BFHE 145, 147,
BStBl II 1986, 207 = SIS 86 05 43) und vom 28.11.1988 GrS 1/87
(BFHE 154, 556, BStBl II 1989, 164 = SIS 89 02 09) über die
hier vorgelegte Rechtsfrage noch nicht abschließend
entschieden. Diese Entscheidungen beschäftigten sich in erster
Linie mit der Frage, welchem Senat des BFH ein Entsendungsrecht an
den Großen Senat (§ 11 Abs. 2 Satz 2 FGO a.F.) zustehe.
Zudem habe der zum Zeitpunkt der bisherigen Entscheidung des
Großen Senats anzuwendende § 11 FGO a.F. einen anderen
Wortlaut als § 11 FGO in der seit 1992 geltenden Fassung des
Rechtspflege-Vereinfachungsgesetzes (RpflVereinfG) vom 17.12.1990
(BGBl I 1990, 2847, BStBl I 1991, 3) gehabt.
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19
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Auch andere Senate des BFH seien der
Auffassung, dass einen Senat, der vorrangig für ein
Rechtsgebiet zuständig sei, keine Pflicht zur Anfrage wegen
Divergenz an den Großen Senat treffe, wenn er von einer
Entscheidung eines anderen Senats abweichen wolle, der nach wie vor
im Zusammenhang mit anderen Streitpunkten mit der
streitgegenständlichen Rechtsfrage befasst werden könne.
Den Entscheidungen des Großen Senats in BFHE 103, 433, BStBl
II 1972, 68 = SIS 72 00 42, in BFHE 145, 147, BStBl II 1986, 207 =
SIS 86 05 43 und in BFHE 154, 556, BStBl II 1989, 164 = SIS 89 02 09 sei für die heute geltende Fassung des § 11 FGO keine
Bedeutung beizumessen.
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2. Hilfsweise sei der Große Senat nach
§ 11 Abs. 2 FGO anzurufen, da der vorlegende Senat
beabsichtige, von den Entscheidungen des Großen Senats in
BFHE 103, 433, BStBl II 1972, 68 = SIS 72 00 42, in BFHE 145, 147,
BStBl II 1986, 207 = SIS 86 05 43 und in BFHE 154, 556, BStBl II
1989, 164 = SIS 89 02 09 abzuweichen.
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B. I. Zulässigkeit der Vorlage
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Die Vorlage des VI. Senats ist
zulässig.
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1. Die Zulässigkeit der Vorlage ergibt
sich aus § 11 Abs. 4 FGO. Der erkennende Senat kann danach
eine Frage grundsätzlicher Bedeutung dem Großen Senat
zur Entscheidung vorlegen, wenn das nach seiner Auffassung zur
Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen
Rechtsprechung erforderlich ist.
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2. Eine erneute Vorlage derselben Rechtsfrage
an den Großen Senat ist nur zulässig, falls in der
Zwischenzeit neue rechtliche Gesichtspunkte aufgetreten sind, die
bei der ursprünglichen Entscheidung nicht berücksichtigt
werden konnten, und/oder neue Rechtserkenntnisse eine andere
Beurteilung der entschiedenen Rechtsfrage rechtfertigen
könnten (BFH-Beschluss vom 20.2.2013 GrS 1/12, BFHE 140, 282,
BStBl II 2013, 441 = SIS 13 11 96, Rz 19).
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3. Der Große Senat hat im Streitfall
nicht zu entscheiden, ob an dieser Einschränkung festzuhalten
ist (vgl. hierzu BFH-Beschluss in BFHE 140, 282, BStBl II 2013, 441
= SIS 13 11 96, Rz 21), da jedenfalls aufgrund der Änderungen
in § 11 FGO durch das RpflVereinfG neue rechtliche
Gesichtspunkte vorliegen, die der Große Senat in seiner
bisherigen Rechtsprechung in BFHE 103, 433, BStBl II 1972, 68 = SIS 72 00 42, in BFHE 145, 147, BStBl II 1986, 207 = SIS 86 05 43 und
in BFHE 154, 556, BStBl II 1989, 164 = SIS 89 02 09 noch nicht
berücksichtigen konnte.
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4. Da die aufgeworfene Rechtsfrage erhebliche
Bedeutung für die Abgrenzung der Entscheidungskompetenz
zwischen den einzelnen Senaten des BFH hat, besteht auch ein
allgemeines Interesse an einer Klärung der Rechtslage durch
den Großen Senat.
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5. Ob die Vorlage hilfsweise auch nach §
11 Abs. 2 FGO zulässig wäre, ist ohne Bedeutung.
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II. Entscheidungserheblichkeit
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Die vorgelegte Rechtsfrage ist für die
Entscheidung des vorlegenden Senats erheblich. Bei einer Verneinung
der Vorlagefrage entsprechend der Rechtsauffassung des vorlegenden
Senats wäre die Revision der Kläger begründet, da
der vorlegende Senat abweichend von der bisherigen Rechtsprechung
des III. Senats in BFHE 149, 245, BStBl II 1987, 495 = SIS 87 11 04
und in BFHE 149, 539, BStBl II 1987, 596 = SIS 87 16 03
Aufwendungen für eine Adoption als außergewöhnliche
Belastung gemäß § 33 EStG anerkennen will. Bei
einer Bejahung der Vorlagefrage wäre dies nicht möglich.
Denn der III. Senat hat den Anfragebeschluss des vorlegenden Senats
vom 13.11.2012 zur Zustimmung zu einer Abweichung von der
bisherigen Rechtsprechung durch Beschluss vom 31.1.2013 dahingehend
beantwortet, dass er an seiner Rechtsauffassung festhalte.
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III. Entscheidung des Großen Senats
über die vorgelegte Rechtsfrage
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1. Rechtsgrundlagen
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Nach § 11 Abs. 2 FGO in der seit 1.1.1992
geltenden Fassung entscheidet der Große Senat, wenn ein Senat
in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen Senats oder
des Großen Senats abweichen will.
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Eine Vorlage an den Großen Senat ist
gemäß § 11 Abs. 3 FGO n.F. nur zulässig, wenn
der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, auf
Anfrage des erkennenden Senats erklärt hat, dass er an seiner
Rechtsauffassung festhält. Kann der Senat, von dessen
Entscheidung abgewichen werden soll, wegen einer Änderung des
Geschäftsverteilungsplanes mit der Rechtsfrage nicht mehr
befasst werden, tritt der Senat an seine Stelle, der nach dem
Geschäftsverteilungsplan für den Fall, in dem abweichend
entschieden wurde, nunmehr zuständig wäre. Über die
Anfrage und die Antwort entscheidet der jeweilige Senat durch
Beschluss in der für Urteile erforderlichen Besetzung.
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2. Rechtsentwicklung
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Regelungen zur Entscheidung durch den
Großen Senat enthielten bereits die Reichsabgabenordnung 1919
in § 46 und die Reichsabgabenordnung 1931 in § 66.
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Die Finanzgerichtsordnung vom 6.10.1965 (BGBl
I 1965, 1477) bestimmte in § 11 Abs. 3: „Will in
einer Rechtsfrage ein Senat des Bundesfinanzhofs von der
Entscheidung eines anderen Senats oder des Großen Senats
abweichen, so entscheidet der Große Senat.“
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§ 2 Abs. 2 der neu gefassten
Geschäftsordnung des BFH vom 1.1.1971 (BStBl II 1974, 286 -
GeschOBFH 1971 - ) regelte ergänzend, dass in den Fällen
des § 11 Abs. 3 FGO der Senat, der von der Entscheidung des
anderen Senats abweichen will, zunächst bei diesem anzufragen
hat, ob er der Abweichung zustimmt. Hat sich die
Geschäftsverteilung geändert, so ist als anderer Senat
derjenige anzusehen, auf den die Zuständigkeit für die
Streitfrage übergegangen ist.
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3. Rechtsprechung
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39
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Der Große Senat hat die Vorlagefrage
unter Geltung von § 11 FGO a.F. bejaht. Nach dem BFH-Beschluss
in BFHE 103, 433, BStBl II 1972, 68 = SIS 72 00 42, unter V.1. gilt
die bisherige Rechtsprechung, nach der es keiner Anrufung des
Großen Senats bedarf, wenn die die früheren Fälle
betreffende Zuständigkeit inzwischen auf den nunmehr
erkennenden Senat übergegangen ist, nur für den Fall,
dass die Beurteilung der zu entscheidenden Frage
ausschließlich dem erkennenden Senat zugewiesen ist.
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40
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Nach den BFH-Beschlüssen in BFHE 145,
147, BStBl II 1986, 207 = SIS 86 05 43, unter B.I.2.b und in BFHE
154, 556, BStBl II 1989, 164 = SIS 89 02 09, unter B.I.2.c bb liegt
eine Abweichung i.S. des § 11 Abs. 3 FGO auch dann vor, wenn
zwar eine Änderung in der Geschäftsverteilung eingetreten
ist, der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll,
aber trotz des Wechsels in der Zuständigkeit jederzeit in die
Lage kommen kann, über die Rechtsfrage erneut entscheiden zu
müssen, so dass diesem auch das Entsendungsrecht nach §
11 Abs. 2 Satz 2 FGO a.F. zustand.
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41
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Das Bundessozialgericht (BSG) hat erkannt, die
Vorlagepflicht wegen Divergenz entfalle nur dann, wenn für die
Zukunft die Gefahr divergierender Entscheidungen
auszuschließen sei (vgl. Beschluss des Großen Senats
des BSG vom 24.6.1985 GS 1/84, BSGE 58, 183, unter 2. der
Entscheidungsgründe). Nur wenn der nach einer
Geschäftsverteilung nunmehr zuständige Senat für die
Bearbeitung eines abgeschlossenen Rechtsgebietes allein
zuständig sei, entfalle die Vorlagepflicht.
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42
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4. Schrifttum
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Im Schrifttum wird die Vorlagefrage
unterschiedlich beurteilt.
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44
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Sunder-Plassmann in
Hübschmann/Hepp/Spitaler - HHSp -, § 11 FGO Rz 60
schließt aus § 11 Abs. 3 Satz 2 FGO, dass die Anfrage
bei dem früher entscheidenden Senat nur unterbleiben kann,
wenn er die Zuständigkeit für die zu entscheidende
Rechtsfrage vollständig verloren hat. Nach Brandis in
Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 11 FGO
Rz 5 ist ein Abweichen von einer Entscheidung eines anderen Senats,
dessen Zuständigkeit aber vollständig auf den nun
entscheidenden Senat übergegangen ist, nicht vorlagepflichtig.
Ruban in Gräber, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 11 Rz
20 geht davon aus, dass die Anfragepflicht bei dem anderen Senat
nur entfällt, wenn der bisher zuständige Senat
künftig nicht mehr in die Lage kommen kann, über die
streitige Rechtsfrage entscheiden zu müssen.
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45
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Nach Auffassung von List entsprechen die
BFH-Beschlüsse in BFHE 145, 147, BStBl II 1986, 207 = SIS 86 05 43 und in BFHE 154, 556, BStBl II 1989, 164 = SIS 89 02 09 nicht
dem Sinn und Zweck des Anfrageverfahrens (DStR 1987, 439, 440). Der
BFH-Beschluss in BFHE 145, 147, BStBl II 1986, 207 = SIS 86 05 43
sei aufgrund der Neuregelung des § 11 FGO nicht mehr anwendbar
(List, DStR 1992, 382, 385; ähnlich Pust, HFR 2001, 1084, der
dennoch die Auffassung vertritt, auch für die Neufassung des
§ 11 Abs. 3 FGO solle an der Rechtsprechung des Großen
Senats festgehalten werden, wonach nur eine ausschließliche
Zuständigkeit des erkennenden Senats eine Anfrage bei dem
Senat erübrigt, von dessen Entscheidung abgewichen werden
soll). Müller-Horn in Beermann/Gosch, FGO § 11 Rz 14
sieht es als sachgerecht an, dass der vorrangig für eine
Rechtsfrage zuständige Fachsenat in der Rechtsfortbildung frei
ist, ohne nach § 11 Abs. 3 FGO zur Vorlage verpflichtet zu
sein.
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46
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Die Autoren zu den § 11 FGO
inhaltsgleichen Vorschriften der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO
- (§ 11), des Arbeitsgerichtsgesetzes - ArbGG - (§ 45),
des Sozialgerichtsgesetzes - SGG - (§ 41) und des
Gerichtsverfassungsgesetzes - GVG - (§ 132) vertreten - soweit
sie sich mit dieser Fragestellung befassen - übereinstimmend
die Auffassung, die Divergenzlage entfalle nur dann, wenn der
früher zuständige Senat mit der in Rede stehenden
Rechtsfrage nicht mehr befasst werden könne (Kronisch, in:
Sodan/Ziekow, VwGO, 4. Aufl., § 11 Rz 37; Pietzner in
Schoch/Schneider/Bier, VwGO § 11 Rz 27; Liebscher in
Schwab/Weth, 2. Aufl., § 45 ArbGG Rz 20; Lüdtke in
Lüdtke, SGG, 4. Aufl., § 41 Rz 7; Leitherer in
Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, 11. Aufl., § 41 SGG Rz 11;
Peters/Sautter/Wolff, SGG, Bd. 1, 4. Aufl., § 41 SGG Rz 22;
Kissel/Mayer, GVG, § 132 Rz 17).
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IV. Auffassung des Großen
Senats
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1. Der Große Senat teilt nicht die
Auffassung des vorlegenden Senats.
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49
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a) § 11 Abs. 3 Satz 2 FGO setzt voraus,
dass der andere Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden
soll, „wegen einer Änderung des
Geschäftsverteilungsplanes mit der Rechtsfrage nicht mehr
befasst werden [kann]“. Dies erfordert bei
grammatikalischer Auslegung einen vollständigen
Zuständigkeitsverlust des anderen Senats und damit die
Unmöglichkeit einer nochmaligen Befassung dieses Senats mit
der streitigen Rechtsfrage.
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50
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b) Dass § 11 Abs. 3 Satz 2 FGO in Bezug
auf seine Voraussetzungen und Rechtsfolgen als „nicht
homogen“ (vgl. Sunder-Plassmann in HHSp, § 11 FGO Rz
60) anzusehen sein könnte, rechtfertigt keine vom Wortlaut der
Vorschrift abweichende Auslegung. An den Gründen, die den
Großen Senat bewogen haben, für das Absehen vom
Erfordernis einer Anfrage bei einem anderen Senat auf einen
vollständigen und nicht nur auf einen
schwerpunktmäßigen Zuständigkeitswechsel
abzustellen, ist vielmehr unter der Geltung des § 11 FGO n.F.
ebenfalls festzuhalten.
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51
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Auch nach der Neuregelung wäre es
„sinnwidrig“, einen erkennenden Senat über
die Verbindlichkeit der von einem anderen Senat vertretenen
Rechtsauffassung entscheiden zu lassen, wenn der bisher für
ein bestimmtes Sachgebiet zuständige Senat trotz der
Änderung der Geschäftsverteilung aufgrund seiner nunmehr
bestehenden Zuständigkeit gleichwohl jederzeit in die Lage
kommen kann, die strittige Rechtsfrage erneut entscheiden zu
müssen (vgl. BFH-Beschlüsse in BFHE 145, 147, BStBl II
1986, 207 = SIS 86 05 43, unter B.I.2.b, und in BFHE 154, 556,
BStBl II 1989, 164 = SIS 89 02 09, unter B.I.2.c bb). Gleiches gilt
für die Annahme, dass der andere Senat bei einer Entscheidung
über die Rechtsfrage seinerseits den Großen Senat
anrufen müsse, um seiner ursprünglichen Rechtsansicht
Geltung zu verschaffen (vgl. BFH-Beschlüsse in BFHE 145, 147,
BStBl II 1986, 207 = SIS 86 05 43, unter B.I.2.b, und in BFHE 154,
556, BStBl II 1989, 164 = SIS 89 02 09, unter B.I.2.c bb).
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52
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c) Zu berücksichtigen ist, dass die
Einrichtung der Großen Senate bei allen obersten
Bundesgerichten vor allem der Sicherung einer einheitlichen
Rechtsprechung dient (vgl. z.B. Kronisch, in: Sodan/Ziekow, a.a.O.,
§ 11 Rz 9; Pietzner in Schoch/Schneider/Bier, a.a.O., §
11 Rz 14, und Kissel/Mayer, a.a.O., § 132 Rz 1). Sie
herzustellen und zu bewahren ist speziell Aufgabe der obersten
Bundesgerichte und durch das im Gleichheitsgrundsatz wurzelnde
Postulat der Rechtsanwendungsgleichheit auch verfassungsrechtlich
geboten (Pietzner in Schoch/Schneider/Bier, a.a.O., § 11 Rz
14). Die Einheitlichkeit der Rechtsprechung ist ein Gebot der
Rechtssicherheit und damit des Rechtsstaatsprinzips (Kissel/Mayer,
a.a.O, § 132 Rz 1).
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53
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Die Divergenzvorlage soll die Einheitlichkeit
der Rechtsprechung nicht nur innerhalb des BFH, sondern in der
gesamten Finanzgerichtsbarkeit sichern und so auseinanderdriftendes
Recht möglichst verhindern (vgl. hierzu Pietzner in
Schoch/Schneider/Bier, a.a.O., § 11 Rz 14). Die
Divergenzvorlage erreicht dies, indem sie Meinungsverschiedenheiten
zwischen den einzelnen Senaten des BFH dem Großen Senat zur
Entscheidung bringt und damit auf einer gleichsam höheren
Ebene zum Ausgleich und zur Koordination bringt (Pietzner in
Schoch/Schneider/Bier, a.a.O., § 11 Rz 4). Dementsprechend
entfällt eine Vorlagepflicht wegen Divergenz nur, wenn
für die Zukunft die Gefahr divergierender Entscheidungen
auszuschließen ist (vgl. Beschluss des Großen Senats
des BSG in BSGE 58, 183, unter 2.).
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Im Fall der Änderung eines
Geschäftsverteilungsplanes setzt dies voraus, dass der
früher zuständige Senat mit der in Rede stehenden
Rechtsfrage nicht mehr befasst werden kann. Hiervon ist nur dann
auszugehen, wenn der abweichungswillige Senat die
Zuständigkeit für das Sachgebiet, aus dem die
frühere Entscheidung stammt, vollständig übernommen
hat (Kronisch, in: Sodan/Ziekow, a.a.O., § 11 Rz 37), so dass
er aufgrund des Wechsels der Geschäftsverteilung für die
zu entscheidende Rechtsfrage allein zuständig geworden ist
(Liebscher in Schwab/Weth, a.a.O., § 45 ArbGG Rz 20;
Lüdtke in Lüdtke, a.a.O., § 41 Rz 7, und
Kissel/Mayer, a.a.O., § 132 Rz 17).
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55
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d) Die Pflicht zur Anfrage gemäß
§ 11 Abs. 3 FGO bleibt im Übrigen auch dann bestehen,
wenn ein erkennender Senat bereits in der Vergangenheit von der
Rechtsprechung eines anderen Senats bewusst oder unbewusst
abgewichen ist.
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2. Für ein Festhalten an der bisherigen
Rechtsprechung des Großen Senats sprechen auch die
Änderungen in § 11 FGO im Vergleich zu der zuvor
bestehenden Rechtslage.
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§ 11 FGO a.F. enthielt keine
eigenständige Regelung zum Anfrageverfahren. Vielmehr
bestimmte nur § 2 Abs. 2 Satz 2 GeschOBFH 1971, dass anderer
Senat der Senat ist, auf den die Zuständigkeit für die
Streitfrage übergegangen ist, wenn „sich die
Geschäftsverteilung geändert [hat]“.
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58
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Während es somit nach alter Rechtslage
möglicherweise statthaft gewesen wäre, auf eine Anfrage
bei einem anderen Senat nach Änderung der
Geschäftsverteilung - entsprechend der Rechtsauffassung des
vorlegenden Senats - zu verzichten, ist dies nach dem Wortlaut der
Neuregelung in § 11 Abs. 3 Satz 2 FGO ausgeschlossen.
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59
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3. Die vom vorlegenden Senat gegen die
Beibehaltung der bisherigen Rechtsprechung geäußerten
Bedenken greifen nicht durch.
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§ 11 Abs. 3 Satz 2 FGO ist nicht
mehrdeutig. Im Übrigen besteht die Gefahr einander
widerstreitender Entscheidungen auch, wenn der bisher allgemein
für eine Rechtsfrage zuständige Senat nur noch
gelegentlich in die Lage kommen kann, über die Rechtsfrage zu
entscheiden. Die Zuweisung eines Rechtsgebiets an einen bestimmten
Senat überträgt diesem die Rechtsfortbildung hierfür
nur in den Grenzen des § 11 FGO. Das Spannungsverhältnis,
das zwischen Rechtsfortbildung und Einheitlichkeit der
Rechtsprechung bestehen kann, ist nach Maßgabe des § 11
FGO aufzulösen. Dass sich hieraus ein Vorrang der
Einheitlichkeit der Rechtsprechung gemäß den
Voraussetzungen dieser Vorschrift ergibt, beruht auf einer
gesetzgeberischen Entscheidung, die von der Rechtsprechung zu
beachten und auch im Fall des Übergangs einer
„primären“ Zuständigkeit angemessen
ist.
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Die Überlegungen des vorlegenden Senats
zu einer Abweichungsanfrage eines dritten Senats greifen schon
deshalb nicht durch, weil die Voraussetzungen für einen
Zuständigkeitsübergang in Bezug auf den anzufragenden
Senat nach § 11 Abs. 3 Satz 2 FGO nicht vorliegen. Für
die Erwartung, dass ein Senat, der sich nur gelegentlich mit der
Materie eines anderen Senats befassen müsse, in aller Regel
der Rechtsprechung dieses Senats folgen werde, besteht
schließlich keine hinreichende Grundlage, wie auch der
Ausgangsfall in diesem Verfahren zeigt.
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C. Entscheidung der Vorlagefrage
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Der Große Senat beantwortet die ihm
vorgelegte Frage wie folgt:
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Ein Senat des BFH, der von einer Entscheidung
eines anderen Senats abweichen will, hat auch dann bei diesem Senat
nach § 11 Abs. 3 FGO anzufragen und für den Fall, dass
dieser an seiner Rechtsauffassung festhält, den Großen
Senat anzurufen, wenn der erkennende Senat zwar nach dem
Geschäftsverteilungsplan für die Rechtsfrage
zuständig geworden ist, der andere Senat aber weiterhin mit
der Rechtsfrage befasst werden kann.
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