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I. Der Kläger und Revisionsbeklagte
(Kläger) wurde für das Jahr 2000 (Streitjahr) zusammen
mit seiner im Juni 2000 verstorbenen Ehefrau zur Einkommensteuer
veranlagt. Für zwei seiner drei Töchter bezog er
Kindergeld. Der Kläger, der als Architekt tätig gewesen
war, erzielte im Streitjahr einen tarifbegünstigten
Veräußerungsgewinn von 140.000 DM bei den
Einkünften aus selbständiger Arbeit. Das zu versteuernde
Einkommen belief sich auf 159.154 DM. Darin war der
Veräußerungsgewinn enthalten, der nach § 34 Abs. 1
des Einkommensteuergesetzes (EStG) in der für das Jahr 2000
geltenden Fassung ermäßigt besteuert wurde. Der Beklagte
und Revisionskläger (das Finanzamt - FA - ) setzte bei der
Vergleichsrechnung nach § 31 EStG für die zwei
Töchter jeweils den (doppelten) Kinderfreibetrag von 6.912 DM
nach § 32 Abs. 6 EStG an. Nach Hinzurechnung des im Jahr 2000
gezahlten Kindergeldes von 6.480 DM setzte es im Bescheid vom
12.11.2001 eine Steuer von 31.716 DM fest.
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Aufgrund einer Mitteilung über die
gesonderte und einheitliche Feststellung von Einkünften aus
einer Fondsbeteiligung erließ das FA unter dem Datum des
12.2.2003 einen nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der
Abgabenordnung geänderten Einkommensteuerbescheid 2000. Es
erhöhte die Einkünfte des Klägers aus
Kapitalvermögen um 2.485 DM. Bei der Vergleichsrechnung nach
§ 31 EStG kam es nunmehr zu dem Ergebnis, dass das gezahlte
Kindergeld für den Kläger günstiger sei als die
Gewährung von Kinderfreibeträgen. Dabei fasste es die
Kinderfreibeträge nicht zusammen, vielmehr führte es die
Vergleichsrechnung für die beiden Töchter einzeln durch.
Das FA setzte im Änderungsbescheid die Einkommensteuer auf
19.994,58 EUR (umgerechnet 39.106 DM) fest. Der Einspruch des
Klägers war erfolglos.
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Das Finanzgericht (FG) gab der
anschließend erhobenen Klage statt und setzte die Steuer auf
(umgerechnet) 34.590 DM herab (Urteil vom 26.4.2007 3 K 60/07, EFG
2008, 625 = SIS 08 13 00). Es führte im Wesentlichen aus, die
Ansicht der Finanzverwaltung und die herrschende Ansicht in der
Literatur, wonach sich aus dem Gesetzeswortlaut ergebe, dass die
Vergleichsrechnung für jedes einzelne Kind vorzunehmen sei,
führe nicht zu zutreffenden Ergebnissen. Sachgerecht sei nur
eine Berechnung, bei der das Einkommen um die
Kinderfreibeträge für beide Kinder vermindert und die
dadurch bewirkte Minderung der Einkommensteuer dem gezahlten
Kindergeld gegenübergestellt werde. Die vom FA angestellte
Berechnung habe nicht nur eine Schlechterstellung zur Folge,
sondern sogar eine verfassungswidrige Überbelastung. So habe
eine Erhöhung der Einkünfte aus Kapitalvermögen um
2.485 DM eine zusätzliche Einkommensteuerbelastung von 7.390
DM ausgelöst.
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Zur Begründung der Revision trägt
das FA vor, aus der Formulierung in § 31 Satz 1 EStG, die
steuerliche Freistellung eines Einkommensbetrags in Höhe des
Existenzminimums „eines“ Kindes werde entweder durch
die Freibeträge oder das Kindergeld bewirkt, ergebe sich, dass
bei der Günstigerprüfung stets auf das einzelne Kind
abzustellen sei. Eine zusammengefasste Betrachtungsweise
dergestalt, dass das Kindergeld für mehr als ein Kind
ermittelt und mit der steuerlichen Wirkung der
Kinderfreibeträge verglichen werde, sei nicht zulässig.
Verfassungsrechtliche Bedenken wegen einer
Übermaßbesteuerung bestünden nicht, weil die auf
laufende Einkünfte entfallende Steuer nicht isoliert
betrachtet werden dürfe.
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Das FA beantragt, das angefochtene Urteil
aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Der Kläger beantragt, die Revision
zurückzuweisen.
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Er trägt vor, eine Einzelbetrachtung,
die bei Anwendung der Fünftelregelung zu einer
Ungünstigerprüfung führe, sei nicht gesetzlich
vorgeschrieben.
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II. Die Revision ist begründet. Sie
führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur
Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der
Finanzgerichtsordnung - FGO - ). Das FG hat zu Unrecht bei der
Vergleichsrechnung nach § 31 EStG die für zwei Kinder des
Klägers zu berücksichtigenden Kinderfreibeträge
zusammengefasst und keine Einzelberechnung vorgenommen.
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1. Nach § 31 Satz 1 EStG wird die
steuerliche Freistellung eines Einkommensbetrags in Höhe des
Existenzminimums eines Kindes einschließlich des
Betreuungsbedarfs entweder durch die Freibeträge nach §
32 Abs. 6 EStG oder durch das Kindergeld nach dem X. Abschnitt des
EStG bewirkt. Für das Streitjahr 2000 wird ein Freibetrag von
3.456 DM für das sächliche Existenzminimum des Kindes
(Kinderfreibetrag) sowie - unter weiteren, hier nicht vorliegenden
Voraussetzungen - ein Betreuungsfreibetrag von 1.512 DM
gewährt. Die Freibeträge sind bei zusammen zur
Einkommensteuer veranlagten Ehegatten zu verdoppeln (§ 32 Abs.
6 Satz 3 EStG).
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a) Welche der beiden Alternativen des §
31 Satz 1 EStG im Einzelfall zutrifft, bestimmt sich nach § 31
Satz 4 EStG. Hiernach sind die Freibeträge nach § 32 Abs.
6 EStG abzuziehen, wenn das Kindergeld die gebotene steuerliche
Freistellung nicht in vollem Umfang bewirkt; in diesem Fall wird
das gezahlte Kindergeld der Einkommensteuer hinzugerechnet (§
36 Abs. 2 Satz 1 EStG). Die gebotene steuerliche Freistellung wird
nicht in vollem Umfang bewirkt, wenn das Kindergeld geringer ist
als die Entlastung, die bei Abzug der Freibeträge nach §
32 Abs. 6 EStG eintritt.
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b) Die Systematik des Gesetzes erfordert eine
Vergleichsrechnung. Der Einkommensteuer, die sich nach Abzug der
Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG ergibt, wird die
Einkommensteuer gegenübergestellt, die bei einer
Steuerfestsetzung ohne Abzug der Freibeträge anfällt. Ist
die Differenz geringer als das Kindergeld, so scheidet ein Abzug
der Freibeträge aus, der Familienleistungsausgleich wird durch
das Kindergeld bewirkt. Wegen der Progressionswirkung des
Steuertarifs kann die Vergleichsrechnung bei mehreren Kindern
unterschiedlich ausfallen, wenn sie für jedes einzelne Kind,
beginnend beim ältesten, gesondert durchgeführt wird. Die
im Regelfall für den Steuerpflichtigen günstige
Einzelbetrachtung wird auch von der Finanzverwaltung angestellt
(Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 30.11.1995 IV B
5 - S 2282 a - 438/95 II, BStBl I 1995, 805 = SIS 96 03 01 Rz 7; R
31 Abs. 1 der Einkommensteuer-Richtlinien 2008).
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2. Aus § 31 Satz 1 EStG und aus § 32
Abs. 6 Satz 1 EStG ergibt sich, dass die Vergleichsrechnung
für jedes Kind einzeln durchzuführen ist, beginnend beim
ältesten. Nach § 31 Satz 1 EStG ist ein Einkommensbetrag
in Höhe des Existenzminimums „eines“ Kindes
steuerlich freizustellen. Ebenso spricht der Wortlaut des § 32
Abs. 6 Satz 1 EStG, wonach die Freibeträge „für
jedes zu berücksichtigende Kind“ des
Steuerpflichtigen anzusetzen sind, gegen eine Zusammenfassung
mehrerer Kinderfreibeträge (s. Schmidt/Loschelder, EStG, 29.
Aufl., § 31 Rz 13; Kanzler in Herrmann/Heuer/Raupach, §
31 EStG Rz 34; Pust in Littmann/Bitz/Pust, Das
Einkommensteuerrecht, Kommentar, § 31 EStG Rz 242; Jachmann,
in: Kirchhof/Söhn/ Mellinghoff, EStG, § 31 Rz B 28;
Plenker, DB 1996, 2095; i.E. ebenso Helmke in Helmke/Bauer,
Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach A, I. Kommentierung,
§ 31 Rz 23; Seiler in Kirchhof, EStG, 9. Aufl., § 31 Rz
8; Dürr in Frotscher, EStG, 6. Aufl., Freiburg 1998 ff.,
§ 31 Rz 46; Stache in Bordewin/Brandt, § 31 EStG Rz 33a;
Leichtle, DB 1997, 1149; a.A. FG des Landes Sachsen-Anhalt, Urteil
vom 14.10.2002 1 K 925/98, EFG 2003, 169 = SIS 03 10 59; FG
München, Urteil vom 19.6.2008 15 K 4625/05, EFG 2008, 1460 =
SIS 08 33 74). Für ein Wahlrecht dahingehend, die für
mehrere Kinder zu gewährenden Freibeträge
zusammenzufassen, wenn dies bei Anwendung der sog.
Fünftelregelung nach § 34 Abs. 1 EStG günstiger sein
sollte, findet sich im Gesetz keine Stütze.
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3. Der vom FG hervorgehobene Umstand, dass im
Streitfall der Ansatz zusätzlicher Kapitaleinkünfte von
2.485 DM eine weitere Belastung mit Einkommensteuer von 7.390 DM
bewirkt habe, ist kein ausreichender Grund, abweichend von den
vorstehenden Ausführungen die Vergleichsrechnung nach §
31 EStG unter Zusammenfassung der Freibeträge nach § 32
Abs. 6 EStG durchzuführen. Denn der starke Anstieg der
Einkommensteuerbelastung, der durch zusätzliche, nicht nach
§ 34 EStG begünstigte Einkünfte oder durch den
Wegfall von Abzugsbeträgen bewirkt wird, ist keine
Besonderheit der Vergleichsrechnung. Er ist Folge der sog.
Fünftelregelung in § 34 Abs. 1 EStG (ebenso Bozza-Bodden,
Anm. in EFG 2008, 626).
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Nach § 34 Abs. 1 Satz 2 EStG beträgt
die für außerordentliche Einkünfte anzusetzende
Einkommensteuer das Fünffache des Unterschiedsbetrags zwischen
der Einkommensteuer für das um diese Einkünfte
verminderte zu versteuernde Einkommen (verbleibendes zu
versteuerndes Einkommen) und der Einkommensteuer für das
verbleibende zu versteuernde Einkommen zuzüglich eines
Fünftels dieser Einkünfte. Der aus dieser Art der
Berechnung resultierende Vorteil ist umso größer, je
geringer die nicht begünstigten Einkünfte sind (s.a.
Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 22.9.2009 IX R 93/07, BFHE
226, 510, BFH/NV 2010, 296 = SIS 09 37 65). Die Erhöhung nicht
begünstigter Einkünfte oder der Wegfall von
Abzugsbeträgen bewirkt dementsprechend eine Minderung dieser
(Über-)Begünstigung und einen starken Anstieg der
Steuerprogression.
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4. Entgegen der Rechtsansicht des Klägers
und auch des FG führt der Ansatz der zusätzlichen
Kapitaleinkünfte nicht zu einer verfassungswidrigen
Besteuerung. Der von einigen Autoren (Jahndorf/Lorscheider, FR
2000, 433; List, BB 2003, 761; Siegel, DStR 2007, 978; s.a.
Henning/Hundsdoerfer/Schult, DStR 1999, 131; Birk/Kulosa, FR 1999,
433) angenommene Verstoß gegen den Gleichheitssatz nach Art.
3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) oder gegen das Verbot einer
konfiskatorischen Besteuerung (Art. 14 GG) lässt sich nur bei
einer isolierten Betrachtung der nicht begünstigten
Einkünfte begründen. Maßstab für die Gleich-
oder Ungleichbehandlung zweier Steuerpflichtiger ist jedoch die
Belastung des gesamten zu versteuernden Einkommens (BFH-Urteil vom
6.12.2006 X R 22/06, BFH/NV 2007, 442 = SIS 07 06 89, unter Hinweis
auf Sieker, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 34 Rz
A 102; ebenso Horn in Herrmann/Heuer/Raupach, § 34 EStG Rz 4).
Entsprechendes gilt, wenn - wie im Streitfall - eine
konfiskatorische Besteuerung gerügt wird (s. BFH-Urteil in
BFHE 226, 510, BFH/NV 2010, 296 = SIS 09 37 65). Unabhängig
hiervon ist die auf Antrag des Klägers durchgeführte
Besteuerung der außerordentlichen Einkünfte nach §
34 Abs. 1 EStG trotz des Wegfalls der Kinderfreibeträge
für ihn weitaus vorteilhafter als es eine Besteuerung
sämtlicher Einkünfte mit dem normalen Steuertarif
wäre.
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5. Der im finanzgerichtlichen Verfahren
gestellte Antrag des Klägers, ausländische Steuern von
622 DM nicht nach § 34c Abs. 1 EStG anzurechnen, sondern sie
nach § 34c Abs. 2 EStG bei der Ermittlung der Einkünfte
abzuziehen, führt nicht zu einer Herabsetzung der vom FA in
Höhe von 19.994,58 EUR festgesetzten Steuer (umgerechnet
39.106 DM). Dies ergibt sich aus seiner dem FG mit Schreiben vom
5.4.2007 vorgelegten Berechnung, in der eine tarifliche
Einkommensteuer von 39.404 DM ermittelt ist.
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