1
|
I. Der Kläger und Revisionskläger
(Kläger), ein türkischer Staatsangehöriger,
hält sich seit Ende 1995 in der Bundesrepublik Deutschland
(Bundesrepublik) auf. Er lebt mit seiner Familie in einer
Gemeinschaftsunterkunft und erhält Leistungen nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz. Eine Erwerbstätigkeit ist ihm
nicht gestattet. Das Asylverfahren ist noch nicht
abgeschlossen.
|
|
|
2
|
Am 4.5.2006 beantragte der Kläger
rückwirkend Kindergeld für seine im Januar 1996, August
1998, Dezember 1999 und Oktober 2003 geborenen Kinder. Die Beklagte
und Revisionsbeklagte (Familienkasse) lehnte den Antrag ab. Den
Einspruch wies sie durch Einspruchsentscheidung vom 6.5.2008
zurück.
|
|
|
3
|
Mit der Klage begehrte der Kläger
Kindergeld von Januar 2003 bis September 2003 für drei Kinder
und von Oktober 2003 bis Mai 2008 für vier Kinder. Das
Finanzgericht (FG) wies die Klage ab (Urteil vom 30.4.2009 1 K
1031/08 (Kg), EFG 2010, 154 = SIS 09 31 67). Es führte im
Wesentlichen aus, ein nicht freizügigkeitsberechtigter
Ausländer erhalte Kindergeld nur, wenn er - anders als der
Kläger - einen der in § 62 Abs. 2 des
Einkommensteuergesetzes (EStG) genannten Aufenthaltstitel besitze.
Ein Anspruch auf Kindergeld ergebe sich auch nicht aus Art. 2 Abs.
1 Buchst. d des Vorläufigen Europäischen Abkommens
über soziale Sicherheit unter Ausschluss der Systeme für
den Fall des Alters, der Invalidität und zugunsten der
Hinterbliebenen vom 11.12.1953 (BGBl II 1956, 507) -
Vorläufiges Europäisches Abkommen (VEA) -, da der
Kläger mit seiner Familie nicht seit wenigstens sechs Monaten
in der Bundesrepublik „gewohnt“ habe. Das Merkmal
„Wohnen“ sei im VEA nicht definiert. Allerdings
unterscheide das VEA in Art. 2 Abs. 1 Buchst. a bis d die Begriffe
„Wohnen“ und „Aufenthalt“ bzw.
„gewöhnlicher Aufenthalt“, so dass dem Merkmal
„Wohnen“ eine eigene Bedeutung zukommen müsse.
Nach § 8 der Abgabenordnung (AO) habe jemand einen Wohnsitz
dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehabe, die darauf
schließen ließen, dass er die Wohnung beibehalten und
benutzen werde. Der bloße Aufenthalt in einem
Übergangsheim, der von vornherein nicht auf Dauer angelegt sei
und zudem nicht auf einer freien Entscheidung, sondern auf einer
staatlichen Zuweisung beruhe, erfülle nicht das Merkmal
„Wohnen“.
|
|
|
4
|
Zur Begründung der Revision trägt
der Kläger vor, das FG habe bei der Auslegung des Begriffs
„Wohnen“ nicht die Gesetzesmaterialien herangezogen und
sich nicht mit der Begrifflichkeit im englischen Text „that
he has been resident for six months“ und der Übersetzung
des Wortes „resident“ auseinandergesetzt. Die
Unterscheidung zwischen den Begriffen „Wohnen“,
„Aufenthalt“ sowie „gewöhnlicher
Aufenthalt“ beruhe auf der Übersetzung in die deutsche
Sprache. Aus der englischen Originalfassung des VEA ergebe sich
kein Anhaltspunkt für das vom FG vertretene
Begriffsverständnis.
|
|
|
5
|
Der Kläger beantragt
sinngemäß, das Urteil des FG, den Ablehnungsbescheid vom
22.6.2006 und die Einspruchsentscheidung vom 6.5.2008 aufzuheben
und die Familienkasse zu verpflichten, Kindergeld von Januar 2003
bis September 2003 für drei Kinder und von Oktober 2003 bis
Mai 2008 für vier Kinder festzusetzen.
|
|
|
6
|
Die Familienkasse beantragt, die Revision
des Klägers zurückzuweisen.
|
|
|
7
|
Sie beruft sich auf die
Geschäftsanweisung der Bundesagentur für Arbeit vom
3.12.2002, BA-Rundbrief 76/2002, Anlage 2 Tz. 2.5 Abs. 4
(abgedruckt bei Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich,
Kommentar, Fach D, III. Rundschreiben, 3.). Danach setze der
Begriff „Wohnen“ in Art. 2 Abs. 1 Buchst. d VEA voraus,
dass der Betreffende über eine eigene Wohnung
verfüge.
|
|
|
8
|
II. Die Revision ist begründet. Sie
führt zur Aufhebung der Vorentscheidung, des
Ablehnungsbescheids und der Einspruchsentscheidung sowie zur
Verpflichtung der Familienkasse, Kindergeld gemäß dem
Antrag des Klägers festzusetzen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr.
1, § 101 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO - ).
|
|
|
9
|
1. Das am 11.12.1953 u.a. von der
Bundesrepublik und der Türkei unterzeichnete VEA basiert auf
der Satzung des Europarates vom 5.5.1949 und hat mit Gesetz vom
7.5.1956 (BGBl II 1956, 507) innerstaatliche Geltung erlangt.
Entgegen seiner ursprünglichen Intention als
„vorläufiges“ Abkommen ist es nach wie vor
gültig. Das VEA ist in englischer und französischer
Sprache abgefasst, wobei beide Fassungen gleichermaßen als
authentisch festgelegt wurden (Art. 16 VEA). Art. 1 VEA gibt ein
Grundmuster vor, welche Leistungssysteme von dem Abkommen
grundsätzlich erfasst werden; orientiert an diesem Grundmuster
bestimmen die vertragschließenden Staaten sodann im Anhang I
(Art. 7 Abs. 1 und 2 VEA) jeweils für sich, auf welche
nationalen Systeme sozialer Sicherheit das VEA angewendet werden
soll (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 23.9.2004 B
10 EG 3/04 R, BSGE 93, 194).
|
|
|
10
|
Das VEA ist auf alle Gesetze und Regelungen
über soziale Sicherheit anzuwenden, die in jedem Teil des
Gebietes der Vertragschließenden am Tage der Unterzeichnung
Geltung haben oder in der Folge in Kraft treten und sich auf
Familienbeihilfen beziehen (Art. 1 Abs. 1 Buchst. d VEA). Durch das
Schreiben des Ständigen Vertreters der Bundesrepublik vom
19.8.1956 wurde der Anhang I zum VEA in Bezug auf die
Bundesrepublik um „(d) Family allowances“
erweitert. Entsprechend berücksichtigen die Bekanntmachung
über das Inkrafttreten sowie über den Geltungsbereich des
VEA vom 8.1.1958 (BGBl II 1958, 18) sowie die Neufassungen der
Anhänge I, II und III vom 8.3.1972 (BGBl II 1972, 175) und vom
25.1.1985 (BGBl II 1985, 311) im Anhang I für die
Bundesrepublik unter Buchst. d „Family
allowances“ bzw. „Les allocations
familiales“ und in der deutschen Übersetzung
„Kindergeld“.
|
|
|
11
|
2. Der Kläger erfüllt die
persönlichen Voraussetzungen für die Gewährung von
Kindergeld nach dem VEA.
|
|
|
12
|
a) Gemäß Art. 2 Abs. 1 Buchst. d
VEA haben die Staatsangehörigen eines der
Vertragschließenden Anspruch auf die Leistungen nach den
Gesetzen und Regelungen jedes anderen Vertragschließenden
unter denselben Bedingungen wie die Staatsangehörigen des
letzteren, sofern sie bezüglich der nicht auf Beiträgen
beruhenden Leistungen, unter Ausschluss der Leistungen bei
Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten, seit wenigstens sechs
Monaten im Gebiet des letzteren Vertragschließenden
„wohnen“.
|
|
|
13
|
b) Türkische Staatsangehörige, die
seit wenigstens sechs Monaten in der Bundesrepublik wohnen, haben
daher wie deutsche Staatsangehörige einen Anspruch auf
Kindergeld unter den Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 EStG.
Obwohl sie nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländer
sind, gelten für sie aufgrund des VEA die Einschränkungen
des § 62 Abs. 2 EStG nicht.
|
|
|
14
|
c) Der Begriff „Wohnen“ ist
im VEA nicht definiert. Für die Begriffsauslegung sind im
Rahmen der innerstaatlichen Rechtsanwendung die Grundsätze des
Teil III Abschnitt 3 des Wiener Übereinkommens über das
Recht der Verträge (WÜRV) vom 23.5.1969 (BGBl II 1985,
926) heranzuziehen. Das WÜRV ist für die Bundesrepublik
seit dem 20.8.1987 in Kraft (BGBl II 1987, 757). Seine
Auslegungsgrundsätze sind zugleich Ausdruck allgemeiner Regeln
des Völkerrechts, die als solche auch auf Verträge
angewendet werden können, die wie das VEA bereits vor dem
Inkrafttreten des WÜRV abgeschlossen wurden (vgl. BSG-Urteil
in BSGE 93, 194).
|
|
|
15
|
Wurde ein Vertrag in zwei oder mehr Sprachen
als authentisch festgelegt, ist nach Art. 33 Abs. 1 WÜRV der
Text in jeder Sprache in gleicher Weise maßgebend, sofern
nicht der Vertrag vorsieht oder die Vertragsparteien vereinbaren,
dass bei Abweichungen ein bestimmter Text vorgehen soll. Eine
Vertragsfassung in einer anderen Sprache als einer der Sprachen,
deren Text als authentisch festgelegt wurde, gilt nach Art. 33 Abs.
2 WÜRV nur dann als authentischer Wortlaut, wenn der Vertrag
dies vorsieht oder die Vertragsparteien dies vereinbaren. Danach
gilt die deutsche Übersetzung des VEA nicht als authentischer
Wortlaut. Die Auslegung hat sich vielmehr an dem englischen und dem
französischen Vertragstext zu orientieren.
|
|
|
16
|
Nach Art. 31 Abs. 1 WÜRV ist ein Vertrag
„nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der
gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang
zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes
auszulegen“. Die Präambel des VEA betont den
Grundsatz der Gleichbehandlung der Angehörigen aller
Vertragschließenden bei Anwendung der in jedem dieser Staaten
geltenden Gesetze und Regelungen über soziale Sicherheit. Ziel
des VEA ist danach - soweit die jeweilige Regelung reicht - die
Gleichstellung Angehöriger anderer Vertragschließender
mit Inländern.
|
|
|
17
|
Gemäß der Systematik des VEA werden
alle Vertragschließenden durch Art. 2 VEA dem Grunde nach
gleichermaßen verpflichtet. Verpflichtungen im Besonderen
kann sich ein Vertragschließender entweder durch
Nichtaufnahme des betreffenden Systems der sozialen Sicherheit in
Anhang I (Art. 7 Abs. 1 VEA) oder durch einen in Anhang III
aufzunehmenden Vorbehalt (Art. 9 VEA) entziehen. Das bundesdeutsche
Kindergeld ist im Anhang I zum VEA angeführt, einen Vorbehalt
i.S. des Art. 9 VEA hat die Bundesrepublik nicht formuliert. Danach
verbietet es sich, den Anwendungsbereich des für alle
Vertragschließenden gleichermaßen geltenden Art. 2 VEA
in Bezug auf die Bundesrepublik durch eine nicht authentische
Übersetzung des englischen und französischen
Vertragstextes einzuschränken.
|
|
|
18
|
Nach der englischen Fassung hängen die
unterschiedlichen zu gewährenden Leistungen gemäß
Art. 2 Abs. 1 Buchst. a bis d VEA davon ab, ob jemand im Inland
„resides“ (Buchst. a), „is ordinarily
resident“ bzw. „had become
ordinarily resident“ (Buchst. b
und c) oder „has been resident for six months“
(Buchst. d). Die französische Fassung unterscheidet
danach, ob die Personen „résident“
(Buchst. a), „aient leur résindence
normale“ (Buchst. b und c) oder „résident
depuis six mois“ (Buchst. d). Es wird offensichtlich
angeknüpft an den Aufenthalt oder den - in den einzelnen
Rechtsordnungen unterschiedlich definierten - gewöhnlichen
Aufenthalt, oder an einen Aufenthalt von mindestens sechs Monaten
Dauer. Dementsprechend sind nach der deutschen Fassung die
Leistungen geknüpft an den Aufenthalt (Buchst. a) und den
gewöhnlichen Aufenthalt (Buchst. b und c). Abweichend von der
englischen und französischen Fassung wird in der deutschen
Fassung in Buchst. d aber nicht derselbe Begriff wie in Buchst. a
bis c verwendet („sich aufhalten“ oder
„Aufenthalt“), sondern der Begriff
„Wohnen“. Nach dem Wortsinn umfasst der Begriff
„Wohnen“ auch den Aufenthalt in einer
Gemeinschaftsunterkunft. Eine - wegen der von Buchst. a bis c
abweichenden Wortwahl - einschränkende Auslegung in dem Sinne,
dass zu Leistungen nach Buchst. d nur der Aufenthalt in einer
eigenen Wohnung berechtigt, würde dem authentischen englischen
und französischen Text widersprechen. Auch nach der
Dienstanweisung zur Durchführung des
Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des
Einkommensteuergesetzes 2009 - DA-FamEStG 2009 - (BStBl I 2009,
1030 = SIS 09 30 63) 62.4.3 Abs. 3 Satz 6 folgt aus dem VEA nach
einem sechsmonatigen Aufenthalt im Bundesgebiet ein Anspruch auf
Kindergeld für türkische Staatsangehörige (so
bereits Verfügung vom 13.6.2007 zur Änderung der
DA-FamEStG 2004, BStBl I 2007, 489, 492 = SIS 07 21 35; zustimmend
Helmke in Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach
D, II. Kommentierung VEA Rz 5; a.A. noch die
Geschäftsanweisung der Bundesagentur für Arbeit vom
3.12.2002, BA-Rundbrief 76/2002, Anlage 2, Tz. 2.5 Abs. 4,
abgedruckt bei Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Kommentar,
Fach D, III. Rundschreiben, 3.).
|
|
|
19
|
d) Da der Kläger nach Art. 2 Abs. 1
Buchst. d VEA einem Inländer gleichzustellen ist, waren die
Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG zu prüfen. Der
Kläger hatte bis zuletzt - wie die übrigen
Familienmitglieder - im Inland seinen gewöhnlichen Aufenthalt
i.S. des § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Nach § 9 Satz 2 AO ist
als gewöhnlicher Aufenthalt im Geltungsbereich der AO stets
und von Beginn an ein zeitlich zusammenhängender Aufenthalt
von mehr als sechs Monaten Dauer anzusehen. Aufgrund der
unwiderlegbaren gesetzlichen Vermutung des § 9 Satz 2 AO (vgl.
Senatsurteil vom 11.9.1987 III R 148/86, BFHE 151, 46, BStBl II
1988, 14 = SIS 88 01 03) kommt es nicht darauf an, ob in einem
Übergangswohnheim ein gewöhnlicher Aufenthalt i.S. des
§ 30 Abs. 3 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch begründet
werden kann (bejahend Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom
18.3.1999 5 C 11/98, Buchholz, Sammel- und Nachschlagewerk der
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, 436.0, § 107
BSHG Nr. 1; ablehnend für die Dauer des Asylverfahrens noch
BSG-Urteil vom 31.1.1980 8b RKg 4/79, BSGE 49, 254).
|
|
|
20
|
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 143
Abs. 1 i.V.m. § 135 Abs. 1 FGO.
|
|
|