Abitur für Nichtschüler, Berufsausbildung: Die ernsthafte Vorbereitung auf ein Abitur für Nichtschüler ist - zumindest ab dem Monat der Anmeldung zur Prüfung - als Berufsausbildung anzusehen. - Urt.; BFH 18.3.2009, III R 26/06; SIS 09 27 02
I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte
(Klägerin) bezog für ihre am 12.4.1981 geborene Tochter
(T) Kindergeld. Diese besuchte im Schuljahr 2000/2001 die 13.
Klasse eines Gymnasiums in A. Im Januar 2001 verließ sie die
Schule vorzeitig, ab Oktober 2001 studierte sie in Paris
Französisch und französische Kultur. Nach ihrer
Rückkehr im Sommer 2002 meldete sie sich im September 2002 bei
der Bezirksregierung Düsseldorf zu einer Abiturprüfung
für Nichtschüler an. Die schriftlichen Prüfungen
fanden im Februar 2003, die mündlichen Prüfungen im Juni
2003 statt. Im Jahr 2004 bestand sie die Wiederholungsprüfung,
nachdem sie im Jahr zuvor gescheitert war.
Die Beklagte und Revisionsklägerin
(Familienkasse) gewährte ab Juli 2002 kein Kindergeld mehr, da
sie der Ansicht war, die Abiturprüfung für
Nichtschüler sei keine Berufsausbildung i.S. von § 32
Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a des Einkommensteuergesetzes (EStG).
Den hiergegen gerichteten Einspruch wies die Familienkasse
zurück.
Die anschließend erhobene Klage, mit
der die Familienkasse verpflichtet werden sollte, Kindergeld ab
Juli 2002 zu zahlen, hatte überwiegend Erfolg (Urteil des
Finanzgerichts - FG - vom 21.2.2006 10 K 171/03 Kg, EFG 2006, 1073
= SIS 06 27 78). Das FG war der Auffassung, die Vorbereitung auf
die Abiturprüfung für Nichtschüler sei als
Berufsausbildung anzusehen, auch wenn es an einer Einbindung in
eine schulische Mindestorganisation gefehlt habe. Spätestens
seit der Anmeldung zu dieser Prüfung im September 2002 habe T
mit der Ausbildung begonnen. Die Zeitspanne zwischen dem Ende der
Ausbildung in Paris und dem Ausbildungsbeginn in Deutschland habe
den Zeitraum von vier Monaten nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2
Buchst. b EStG unterschritten. Das FG hob den angefochtenen
Bescheid sowie die Einspruchsentscheidung auf. Da die Sache nicht
spruchreif war, verpflichtete es gemäß § 101 Satz 2
der Finanzgerichtsordnung (FGO) die Familienkasse, über den
Anspruch auf Kindergeld unter Beachtung seiner Rechtsauffassung
erneut zu entscheiden und insbesondere die Ernsthaftigkeit der
Prüfungsvorbereitung zu prüfen. Im Übrigen wies es
die Klage ab.
Zur Begründung der Revision trägt
die Familienkasse im Wesentlichen vor, der im Passiv formulierte
Gesetzeswortlaut „für einen Beruf ausgebildet
wird“ spreche dafür, dass eine gewisse organisatorische
Eingliederung in einen Schulbetrieb unter Mitwirkung entsprechender
„Ausbilder“ erforderlich sei, damit eine sinnvolle und
zweckgerichtete Vermittlung von Lerninhalten mit Leistungs- und
Fortschrittskontrollen gesichert sei. Andernfalls bliebe die Dauer
des Kindergeldbezuges bis zur Altersgrenze der freien Disposition
des Kindes und der Eltern überlassen. Auch die Rechtsprechung
des Bundesfinanzhofs (BFH) zu Au-Pair-Verhältnissen
stütze ihre Rechtsansicht. Ein Sprachaufenthalt im Ausland sei
nur dann als Berufsausbildung anzusehen, wenn er im Rahmen
anerkannter Formen eines theoretisch-systematischen Unterrichts mit
einer Mindestzahl von Unterrichtsstunden absolviert werde.
Die Familienkasse beantragt, das
angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin hat keinen Antrag
gestellt.
II. Die Revision ist unbegründet und
daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO). Das FG hat
zutreffend entschieden, dass eine ernsthafte Vorbereitung auf die
Abiturprüfung für Nichtschüler als Berufsausbildung
anzusehen ist.
1. Nach § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. §
32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG ist ein Kind
kindergeldrechtlich zu berücksichtigen, das für einen
Beruf ausgebildet wird.
a) Nach der Übernahme des
Kindergeldrechts in das EStG durch das Jahressteuergesetz 1996 vom
11.10.1995 (BGBl I 1995, 1250, BStBl I 1995, 438) hat der BFH den
Begriff der Berufsausbildung neu bestimmt und erweiternd ausgelegt
(vgl. BFH-Urteile vom 9.6.1999 VI R 33/98, BFHE 189, 88, BStBl II
1999, 701 = SIS 99 18 09; vom 24.6.2004 III R 3/03, BFHE 206, 413,
BStBl II 2006, 294 = SIS 04 36 35). Er umfasst jede Ausbildung zu
einem künftigen Beruf. Zur Berufsausbildung gehört auch
die Schulausbildung (BFH-Urteil vom 9.6.1999 VI R 34/98, BFHE 189,
95, BStBl II 1999, 705 = SIS 99 18 11). In Berufsausbildung
befindet sich, wer seine Berufsziele noch nicht erreicht hat, sich
aber ernsthaft darauf vorbereitet (Senatsurteil in BFHE 206, 413,
BStBl II 2006, 294 = SIS 04 36 35, m.w.N.). Einzubeziehen sind alle
Maßnahmen, die dem Erwerb von Kenntnissen, Fähigkeiten
und Erfahrungen dienen, die als Grundlage für die
Ausübung des angestrebten Berufes geeignet sind (BFH-Urteile
vom 16.4.2002 VIII R 58/01, BFHE 199, 111, BStBl II 2002, 523 = SIS 02 84 87; vom 15.7.2003 VIII R 47/02, BFHE 203, 106, BStBl II 2003,
848 = SIS 03 45 49). Sie müssen nicht zwingend in einer
Ausbildungs- oder Studienordnung vorgeschrieben sein, auch muss die
Ausbildungsmaßnahme nicht überwiegend Zeit und
Arbeitskraft des Kindes in Anspruch nehmen (BFH-Urteil in BFHE 189,
88, BStBl II 1999, 701 = SIS 99 18 09).
b) Entgegen der Dienstanweisung zur
Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X.
Abschnitt des Einkommensteuergesetzes 63.3.2.1 Abs. 2 Satz 7 (BStBl
I 2004, 742) ist eine Schulausbildung nicht nur dann anzuerkennen,
wenn der Schüler in eine schulische Mindestorganisation
eingebunden ist, die eine gewisse Lernkontrolle ermöglicht.
Auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Begriff der
Schulausbildung in § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 des
Bundeskindergeldgesetzes a.F. (Urteile vom 7.9.1988 10 RKg 6/87,
Aktueller Informationsdienst für die berufsgenossenschaftliche
Sachbearbeitung 1988, 2115, betr. Nichtschülerabitur, und vom
22.11.1994 10 RKg 3/93, Neue Zeitschrift für Sozialrecht 1995,
234, betr. Gasthörerstudium zur Erlangung der Hochschulreife),
kann nur eingeschränkt zurückgegriffen werden, da seit
der Systemumstellung zum 1.1.1996 der steuerrechtliche Begriff der
Berufsausbildung im Kindergeldrecht gilt und somit eine
einheitliche steuerrechtliche Auslegung geboten ist. Bei der
Auslegung ist der Zweck des Kindergelds zu berücksichtigen,
das Existenzminimum eines Kindes von der Besteuerung auszunehmen
(vgl. § 31 Satz 1 EStG), weil durch den kindbedingten Aufwand
die steuerliche Leistungsfähigkeit der Eltern gemindert wird
(BFH-Urteil in BFHE 189, 88, BStBl II 1999, 701 = SIS 99 18 09,
m.w.N.).
2. Das FG hat zutreffend die vorgenannten
Grundsätze seiner Entscheidung zugrunde gelegt und zu Recht
die Vorbereitung auf die Abiturprüfung für
Nichtschüler zumindest ab dem Monat der Anmeldung zur
Prüfung als Berufsausbildung i.S. von § 32 Abs. 4 Satz 1
Nr. 2 Buchst. a EStG beurteilt (ebenso FG Baden-Württemberg
vom 4.5.2001 14 K 73/01, EFG 2001, 1299 = SIS 02 79 04; vgl. auch
FG Baden-Württemberg vom 26.11.1998 8 K 268/97, EFG 1999, 296
= SIS 99 09 07, zu einer Schulfremdenprüfung zur Erreichung
des Hauptschulabschlusses).
a) Die Abiturprüfung ist Abschluss einer
schulischen Ausbildung und führt zur allgemeinen
Hochschulreife (§ 1 der Verordnung über die
Abiturprüfung für Nichtschülerinnen und
Nichtschüler - PO-NSchA NRW - vom 30.1.2000, Gesetz- und
Verordnungsblatt für das Land Nordrhein-Westfalen 2000, 140).
Um zur Prüfung zugelassen zu werden, muss der Bewerber
darlegen, dass er sich angemessen auf die Prüfung vorbereitet
hat, z.B. durch Selbststudium oder durch die Teilnahme an
Fernlehrgängen oder an anderen geeigneten
Vorbereitungslehrgängen (§ 4 Abs. 3 PO-NSchA NRW). Die
obere Schulaufsichtsbehörde informiert und berät
über die Regelungen der Abiturprüfung und über die
Prüfungsanforderungen (§ 5 Abs. 1 i.V.m. § 2
PO-NSchA NRW), der Vorsitzende des Fachprüfungsausschusses
oder ein von ihm bestimmtes Ausschussmitglied berät in Fragen
der fachlichen Vorbereitung und des Prüfungsverfahrens (§
5 Abs. 2 PO-NSchA NRW). Die Prüfung selbst umfasst insgesamt
acht Fächer und setzt sich aus einem schriftlichen und einem
mündlichen Teil zusammen (§ 3 Abs. 3 PO-NSchA NRW). Nach
Bestehen der beiden Prüfungsteile erkennt der Zentrale
Abiturausschuss die allgemeine Hochschulreife zu (§ 17
PO-NSchA NRW). Bereitet sich ein Kind ernsthaft auf das Abitur
für Nichtschüler vor, ist es nicht gerechtfertigt, im
Hinblick auf die fehlende schulische Mindestorganisation eine
Berufs- bzw. Schulausbildung des Kindes zu verneinen und kein
Kindergeld zu gewähren; denn in solchem Fall wird die
Leistungsfähigkeit der Eltern durch Unterhaltsaufwendungen
für das Kind ebenso gemindert wie bei der Abiturvorbereitung
auf einem Gymnasium.
b) Diesem Ergebnis steht die
höchstrichterliche Rechtsprechung zur Kindergeldgewährung
bei sog. Au-Pair-Aufenthalten im Ausland nicht entgegen. Bei einem
Auslandsaufenthalt im Rahmen eines Au-Pair-Verhältnisses, der
auch dem Erwerb berufsbezogener Sprachkenntnisse dient, ist darauf
abzustellen, ob das Kind an einem theoretisch-systematischen
Unterricht teilnimmt (BFH-Urteile in BFHE 189, 88, BStBl II 1999,
701 = SIS 99 18 09; vom 9.6.1999 VI R 143/98, BFHE 189, 107, BStBl
II 1999, 710 = SIS 99 18 10, und VI R 24/99, BFH/NV 2000, 27 = SIS 00 50 22; vom 19.2.2002 VIII R 83/00, BFHE 198, 192, BStBl II 2002,
469 = SIS 02 08 23; Senatsbeschluss vom 31.8.2006 III B 39/06,
BFH/NV 2006, 2256 = SIS 06 44 78). Dieses Erfordernis dient jedoch
in erster Linie dazu, eine Abgrenzung zu Urlaubsaufenthalten zu
ermöglichen. Liegen die von der Rechtsprechung aufgestellten
Voraussetzungen vor, ist der Sprachaufenthalt im Ausland als
Berufsausbildung zu qualifizieren. Ein Au-Pair-Aufenthalt im
Ausland ist aber mit einer üblichen Schul- oder
Universitätsausbildung nicht zu vergleichen.
3. Da eine ernsthafte Abiturvorbereitung
jedenfalls seit dem Monat der Anmeldung (September 2002) als
Berufsausbildung zu beurteilen ist, sind die Monate Juli und August
2002 zumindest als Übergangszeit nach § 32 Abs. 4 Satz 1
Nr. 2 Buchst. b EStG anzusehen, sofern die Familienkasse zu dem
Ergebnis kommen sollte, dass sämtliche Voraussetzungen
für die Gewährung von Kindergeld im nachfolgenden
Zeitraum erfüllt sind.