Wechsel des Berichterstatters, rechtliches Gehör: Erklärt der Berichterstatter ausdrücklich auch im Namen seiner Senatskollegen im Rahmen mehrerer eingehend begründeter Berichterstatterschreiben, die Klage werde Erfolg haben, so stellt es eine Verletzung des rechtlichen Gehörs wie auch der Anforderungen an ein faires Gerichtsverfahren dar, wenn das FG die Klage nach einem Wechsel des Berichterstatters ohne einen entsprechenden Hinweis an den Kläger abweist. - Urt.; BFH 11.11.2008, IX R 14/07; SIS 09 00 25
I. Der Kläger und Revisionskläger
(Kläger) erhielt u.a. in den Streitjahren 1996 bis 1998 als
nichtselbständig tätiger Bereichsleiter für
Projektentwicklung/Baumanagement bei der X-Immobiliengesellschaft
mbH für verschiedene Projekte Schmiergelder, die er im Laufe
des im April 2000 eröffneten Strafverfahrens an seine
Arbeitgeberin abführte.
Die Schmiergelder waren in den
Steuererklärungen für die Streitjahre nicht erklärt
worden. Nachdem der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -
FA - ) von den Zahlungen Kenntnis erlangt hatte, änderte er
die Einkommensteuerbescheide der betreffenden Jahre
gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO)
und behandelte die Schmiergeldzahlungen als sonstige Einkünfte
gemäß § 22 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes
(EStG). Aus der Anlage der Schmiergelder auf einem Schweizer Konto
wurden zudem Guthabenzinsen geschätzt. Es kam zu Nachzahlungen
von insgesamt 1.979.712,14 DM (Einkommensteuer,
Solidaritätszuschlag und Nachzahlungszinsen). Über den
Einspruch gegen die geänderten Einkommensteuerbescheide ist
noch nicht entschieden.
Bei der Veranlagung für das Jahr 2000
machte der Kläger die an die Arbeitgeberin abgeführten
Schmiergelder in Höhe von 2.405.490 DM als Werbungskosten bei
den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit geltend. Das
FA setzte diesen Betrag als Werbungskosten bei den sonstigen
Einkünften nach § 22 Nr. 3 EStG an, was zu einem
verrechenbaren Verlust i.S. von § 22 Nr. 3 Satz 4 EStG
führte, der sich jedoch aufgrund der gesetzlichen
Verlustverrechnungsbeschränkung bei der
Einkommensteuerveranlagung im Jahre 2000 nicht auswirkte. Der im
Jahr 2000 entstandene Verlust wurde in Höhe von 200.000 DM in
das Jahr 1999 zurückgetragen. Den verbleibenden Verlust von
2.205.490 DM stellte das FA auf den 31.12.2000 gesondert
fest.
Im Februar 2001 stellte der Kläger den
Antrag, im Billigkeitswege von der Anwendung des Zu- und
Abflussprinzips abzusehen und bei der Veranlagung der Streitjahre
1996 bis 1998 die im Jahr 2000 abgeführten Gelder als
Werbungskosten bzw. negative Einnahmen bei den sonstigen
Einkünften anzusetzen; dies lehnte das FA ab. Der Einspruch
hiergegen blieb ohne Erfolg.
Im finanzgerichtlichen Verfahren
führte der Berichterstatter am 19.11.2003 einen
Erörterungstermin durch; nach dem Protokoll hierzu
äußerte er sich dahingehend, dass seiner Auffassung nach
Abwägungsdefizite in der Ermessensentscheidung des FA
bestünden. Die Beteiligten kamen überein, dass ihnen eine
ausführliche rechtliche Einschätzung des erkennenden
Senats durch ein Berichterstatterschreiben mitgeteilt werden solle;
auf Grundlage des Berichterstatterschreibens sollten sich die
Kläger- und Beklagtenseite untereinander über das weitere
Vorgehen verständigen. Dem folgte unter dem 21.11.2003 das
angekündigte Berichterstatterschreiben zu den „mit den
übrigen Senatsmitgliedern abgestimmten rechtlichen
Einschätzungen zu dem Streitfall“. Danach sind „in
der angegriffenen ablehnenden Ermessensentscheidung grundlegende
(verfassungs-)rechtliche Aspekte unberücksichtigt geblieben,
so dass der Senat schon aus diesem Grunde jedenfalls zu einer
aufhebenden Entscheidung gelangen müsste“. Nach einem
weiteren Berichterstatterschreiben vom 6.7.2004 wird die materielle
Rechtslage „gegenwärtig dahingehend eingeschätzt,
dass nichts dafür spricht, dass der Ermessensspielraum des
Beklagten hinsichtlich des begehrten Erlasses - nämlich
Änderung der Einkommensteuer 1996 bis 1998 - auf null
reduziert wäre, also nur der Erlass in Betracht kommt. ...
Denn auch eine Entscheidung des Beklagten, die Rückzahlungen
der Bestechungsgelder im Veranlagungszeitraum der
tatsächlichen Rückführung einkommensteuerlich zu
berücksichtigen, erscheint dem Gericht als
ermessensgerecht“. Eine streitige Entscheidung
„könnte mangels Ermessensreduzierung auf null und aus
den im Berichterstatterschreiben vom 21.11.2003 näher
dargelegten Gründen nur dahingehend lauten, dass die
angegriffenen Entscheidungen des Beklagten aufgehoben werden und
der Beklagte verurteilt wird, ... den Erlassantrag erneut zu
bescheiden“. Der Berichterstatter schlug im Schreiben vom
6.7.2004 eine Konsenslösung vor. Hierauf folgte ein reger
Schriftsatzwechsel zwischen den Beteiligten, die sich nicht auf
eine Konsenslösung verständigten.
Nachdem der Kläger bereits zu einem
früheren Zeitpunkt auf die Durchführung einer
mündlichen Verhandlung verzichtet hatte, erklärte das FA
mit Schreiben vom 9.12.2004, nicht auf mündliche Verhandlung
zu verzichten. Am 6.7.2006 erfolgte die Ladung zur mündlichen
Verhandlung am 13.9.2006. Mit Schreiben vom 4.8.2006 verzichtete
das FA daraufhin auf mündliche Verhandlung. Nach einem in den
Akten befindlichen Vermerk des mittlerweile für den
ursprünglichen Berichterstatter neu eingetretenen
Berichterstatters rief der Kläger am 15.8.2008 beim
Finanzgericht (FG) an, um mitzuteilen, dass er weiterhin auf
mündliche Verhandlung verzichten wolle. Er weise noch einmal
auf seine Auffassung hin, wonach das vom FA gefundene Ergebnis
verfassungswidrig sei. Er wolle keinen weiteren Schriftsatz mehr
einreichen.
Mit seinem in EFG 2007, 1137 = SIS 07 17 82, veröffentlichten Urteil entschied das FG, die Ablehnung
des beantragten Erlasses durch abweichende Festsetzung der
Einkommensteuer 1996, 1997 und 1998 aus Billigkeitsgründen
gemäß § 163 AO sei ermessensfehlerfrei.
Hiergegen richtet sich die Revision des
Klägers, mit der er die Verletzung seines rechtlichen
Gehörs wie auch die Verletzung materiellen Rechts
rügt.
Der Kläger beantragt, unter Aufhebung
des finanzgerichtlichen Urteils und des Ablehnungsbescheids vom
16.5.2001 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 12.3.2002 den
Beklagten zu verpflichten, die Einkommensteuer für die Jahre
1996 bis 1998 unter Berücksichtigung der in den Jahren 2000
und 2001 abgeführten Schmiergelder als negative Einnahmen oder
Werbungskosten festzusetzen.
Das FA beantragt, die Revision als
unbegründet zurückzuweisen.
II. Die Revision ist begründet; sie
führt zur Aufhebung der Entscheidung des FG und
Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und
Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der
Finanzgerichtsordnung - FGO - ).
Das FG hat den Anspruch des Klägers auf
rechtliches Gehör (§ 119 Nr. 3 FGO, Art. 103 Abs. 1 des
Grundgesetzes) verletzt, indem es im Widerspruch zu den
vorangegangenen eindeutigen Berichterstatterschreiben ohne einen
entsprechenden richterlichen Hinweis die Klage abgewiesen hat
(§ 96 Abs. 2 FGO).
Zwar geht die Rechtsprechung
grundsätzlich davon aus, dass der in seiner Entscheidung freie
Vollsenat im Rahmen einer mündlichen Verhandlung die
Beteiligten nicht darauf hinzuweisen brauche, dass er
möglicherweise eine Rechtsansicht vertrete, die von einer vor
der Entscheidung des Senats bekundeten Auffassung des
Berichterstatters abweiche (vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs -
BFH - vom 28.11.2006 X B 160/05, BFH/NV 2007, 480 = SIS 07 07 28).
Auch lässt ein Wechsel in der Besetzung des Gerichts die
Wirksamkeit eines zuvor erklärten Verzichts auf mündliche
Verhandlung grundsätzlich unberührt (BFH-Beschlüsse
vom 22.10.2003 I B 39/03, BFH/NV 2004, 350 = SIS 04 09 81; vom
3.12.1995 VIII S 3/96, BFH/NV 1997, 292, m.w.N.).
Vorliegend hat das FG jedoch eine
unzulässige Überraschungsentscheidung (vgl. zum Begriff
BFH-Beschluss vom 17.3.2008 IX B 258/07, BFH/NV 2008, 1180 = SIS 08 25 08, m.w.N.) getroffen, nachdem sich der frühere
Berichterstatter nicht nur im Erörterungstermin, sondern -
ausdrücklich auch im Namen des Senats - in zwei weiteren
Berichterstatterschreiben mit umfangreicher verfassungsrechtlicher
wie einfachrechtlicher Begründung dahingehend
geäußert hatte, dass die Klage Erfolg haben müsse.
Vor diesem Hintergrund stellt es einen Verstoß gegen die
Anforderungen eines fairen Verfahrens wie auch des rechtlichen
Gehörs dar, wenn das FG im Widerspruch zu seiner vorherigen
eindeutigen Äußerung nach einem Wechsel des
Berichterstatters die Klage ohne einen Hinweis im schriftlichen
Verfahren abweist.