Spekulationsgewinne 1999, 2000, Verfassungsmäßigkeit der Besteuerung: Die Verfassungsmäßigkeit des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG i.d.F. ab 1999 ist nicht zweifelhaft. - Urt.; BFH 19.12.2007, IX B 219/07; SIS 08 08 15
I. Die Antragsteller und Beschwerdegegner
(Antragsteller) erzielten in den Streitjahren (1999 und 2000)
Gewinne aus privaten Wertpapiergeschäften in Höhe von
871.384 DM (1999) und in Höhe von 334.248 DM (2000),
erklärten sie aber nicht zur Einkommensteuerveranlagung. Der
Antragsgegner und Beschwerdeführer (das Finanzamt - FA - )
erfuhr von diesem Sachverhalt erst durch eine bei den
Antragstellern im Jahr 2006 durchgeführte
Außenprüfung. Er erließ für die Streitjahre
Änderungsbescheide. Die dagegen gerichteten Einsprüche
ruhen gemäß § 363 Abs. 2 Satz 2 der Abgabenordnung
(AO) wegen der gegen das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom
29.11.2005 IX R 49/04 (BFHE 211, 330, BStBl II 2006, 178 = SIS 06 06 75) eingelegten Verfassungsbeschwerde (Aktenzeichen des
Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - 2 BvR 294/06). Das FA lehnte
es ab, die Vollziehung der Änderungsbescheide
auszusetzen.
Die Antragsteller beantragten die
Aussetzung der Vollziehung der Änderungsbescheide vor dem
Finanzgericht (FG). Gestützt auf ein Rechtsgutachten trugen
sie vor, es bestünden Zweifel, ob das Kontenabrufverfahren
rückwirkend das strukturelle Vollzugsdefizit der
Besteuerungszeiträume 1999 und 2000 beheben könnte. Wenn
überhaupt kämen dafür nur theoretisch mögliche
Kontrollmöglichkeiten innerhalb des Regelsteuerverfahrens
(vierjährige Verjährungsfrist) in Betracht.
Der Antrag hatte Erfolg. Das FG setzte die
Vollziehung der Bescheide im angefochtenen Umfang aus. In seinem in
DStR 2007, 2056 = SIS 08 02 39 veröffentlichten Beschluss
folgte das FG den Antragsgründen und insbesondere den
Ausführungen des Rechtsgutachtens. Das BVerfG habe in seinem
Beschluss vom 9.3.2004 - 2 BvL 17/02 (BStBl II 2005, 56 = SIS 04 13 59) vorgegeben, der Vollzug müsse regelmäßig noch
innerhalb des Laufs einer vierjährigen Festsetzungsfrist
gelingen. Mit dem Abstellen auf die
„Hinterziehungsverjährung“ überschreite der
BFH in seinem Urteil in BFHE 211, 330, BStBl II 2006, 178 = SIS 06 06 75 diese Zeit- und Zielvorgabe.
Hiergegen richtet sich die vom FG
zugelassene Beschwerde des FA, mit der es sinngemäß
beantragt,
den angefochtenen Beschluss aufzuheben und
die Anträge auf Aussetzung der Vollziehung der geänderten
Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre
abzulehnen.
Die Antragsteller beantragen
sinngemäß, die Beschwerde als unbegründet
zurückzuweisen.
II. Die Beschwerde ist begründet. Der
angefochtene Beschluss ist aufzuheben. Die Anträge, die
Vollziehung der geänderten Einkommensteuerbescheide für
die Streitjahre auszusetzen, werden abgelehnt.
Nach § 69 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 2
Sätze 2 bis 6 der Finanzgerichtsordnung (FGO) kann das Gericht
der Hauptsache die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsakts
ganz oder teilweise aussetzen. Die Vollziehung soll ausgesetzt
werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit
des Verwaltungsakts bestehen (§ 69 Abs. 2 Satz 2 FGO). Das ist
nach ständiger Rechtsprechung des BFH der Fall, wenn bei
summarischer Prüfung des Verwaltungsakts gewichtige
Umstände zutage treten, die Unentschiedenheit in der
Beurteilung der entscheidungserheblichen Rechtsfragen oder
Unklarheit in der Beurteilung entscheidungserheblicher Tatfragen
bewirken (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 22.2.2006 I B 145/05,
BFHE 213, 29, BStBl II 2006, 546 = SIS 06 19 81, und vom 3.2.2005 I
B 208/04, BFHE 209, 204, BStBl II 2005, 351 = SIS 05 15 22,
m.w.N.).
Bei summarischer Prüfung der Sach- und
Rechtslage bestehen im Streitfall keine ernstlichen Zweifel an der
Rechtmäßigkeit der angefochtenen Änderungsbescheide
des FA, insbesondere nicht, ob die Rechtsgrundlage für die
steuerrechtliche Erfassung der Wertpapiergewinne, § 23 Abs. 1
Satz 1 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes i.d.F. der Streitjahre
(EStG), wegen strukturellen Erhebungsdefizits
verfassungsmäßig ist.
1. Der BFH hat mit seinem Urteil in BFHE 211,
330, BStBl II 2006, 178 = SIS 06 06 75 erkannt, dass die
Besteuerung von Einkünften aus privaten
Veräußerungsgeschäften i.S. des § 23 Abs. 1
Satz 1 Nr. 2 EStG verfassungsgemäß ist. Hieran hält
er fest. Auch der Bundesgerichtshof (BGH) hat sich in seinem
Beschluss vom 9.10.2007 - 5 StR 162/07 explizit dieser Auffassung
angeschlossen.
Der BFH hat seine Rechtsansicht wesentlich auf
die Einführung des sog. Kontenabrufverfahrens der § 93
Abs. 7 und § 93b AO gestützt, das nach dem Beschluss des
BVerfG vom 13.6.2007 - 1 BvR 1550/03 u.a. (BStBl II 2007, 896 = SIS 07 23 61) mit dem Grundgesetz (GG) vereinbar ist. Es eröffnet
Verifikationsmöglichkeiten auch in Bezug auf vergangene
Veranlagungszeiträume. Dies hat der BFH in seinem Urteil in
BFHE 211, 330, BStBl II 2006, 178 = SIS 06 06 75 (unter II. 2. b
bb) im Einzelnen eingehend dargelegt und verweist darauf, um
Wiederholungen zu vermeiden.
a) Diese - von einer Rückwirkung des
Steuergesetzes streng zu unterscheidende (missverständlich
insoweit das Hessische FG, Beschluss vom 5.7.2007 - 1 V 1282/07,
PStR 2007, 203 = SIS 07 33 22) - rückbezügliche Anwendung
des Kontenabrufverfahrens widerspricht entgegen den
Ausführungen des Rechtsgutachtens, dessen Inhalt sich die
Vorentscheidung zu eigen gemacht hat, keinen Vorgaben des BVerfG in
seinem Beschluss vom 9.3.2004 - 2 BvL 17/02 (BGBl I 2004, 591,
BVerfGE 110, 94, BStBl II 2005, 56 = SIS 04 13 59).
Wenn das BVerfG in BGBl I 2004, 591, BVerfGE
110, 94, BStBl II 2005, 56 = SIS 04 13 59 unter D. II., 2. Absatz
ausführt, „gegen die Möglichkeit der
zeitgerechten Herstellung eines nicht mehr defizitären
Vollzugs für die Veranlagungszeiträume 1997 und
1998“ spreche bereits der Umstand, dass dieser Vollzug im
Einzelfall regelmäßig noch innerhalb einer
vierjährigen Festsetzungsfrist gelingen müsse, so
formuliert es damit keine Vorgabe, die das erkennende Gericht in
seiner Entscheidung nicht zugrunde gelegt hätte. Abgesehen
davon, dass sich der BFH mit dieser Beschlusspassage des BVerfG
bereits explizit auseinander gesetzt hat (in BFHE 211, 330, BStBl
II 2006, 178 = SIS 06 06 75, unter II. 2. b bb (5) der
Gründe), ist sie vom FG nur unvollkommen zitiert. Sie steht
nämlich im Zusammenhang mit Ausführungen des BVerfG zu
den Rechtsfolgen seiner Entscheidung (Nichtigkeitserklärung).
Der defizitäre Vollzug für die Jahre 1997 und 1998 konnte
danach nicht mehr korrigiert werden, weil - so die notwendige
Fortsetzung des Zitats - „die Verfassungswidrigkeit der
vorgelegten Norm … die Geltung der verlängerten
Festsetzungsfrist nach § 169 Abs. 2 Satz 2 AO für
Fälle … (ausschließt), in denen allein
Spekulationsgewinne unzulänglich deklariert worden
sind“. Bewirkt ein strukturelles Vollzugsdefizit die
bloß temporäre Unvereinbarkeit der Norm mit dem GG, so
entspricht diesem dynamischen Moment die nachträgliche
Korrigierbarkeit durch Effektuierung des normativen Umfelds. Wenn
nun eine Norm für verfassungswidrig und nichtig erklärt
wird, löst sie keine Rechtsfolgen aus. Auch ein
nachträglich, aber rückbezüglich eingeführtes
Kontenabrufverfahren kann daran nichts (mehr) ändern. Wenn der
Steuerpflichtige seine Gewinne nicht erklärt, macht er keine
unrichtigen Angaben über steuerlich erhebliche Tatsachen i.S.
des § 370 Abs. 1 AO, da eine Norm, die private
Veräußerungsgeschäfte der Besteuerung unterwirft,
in den Jahren 1997 und 1998 - weil für nichtig erklärt -
gar nicht existiert. Das BVerfG konnte im Jahr 2004 also - auch
unter Berücksichtigung des dynamischen Moments - die
Nichtigkeit der Norm aussprechen, da für die Jahre 1997 und
1998 die vierjährige Festsetzungsfrist regelmäßig
bereits abgelaufen war und bis zum Entscheidungszeitpunkt keine
gesetzlichen Maßnahmen zur verbesserten Verifizierung
ergriffen waren. Ganz anders ist die Situation in den Streitjahren.
Da für die Jahre 1999 und 2000 die Verfassungswidrigkeit der
Norm gerade nicht festgestellt ist, § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
EStG also gilt und im Zusammenhang mit § 22 Nr. 2 EStG die
Steuerbarkeit privater Veräußerungsgewinne anordnet, ist
hier die Festsetzungsfrist des § 169 Abs. 2 Satz 2 AO zu
beachten, wenn die Steuerpflichtigen - wie im Streitfall die
Antragsteller - ihre Gewinne nicht erklärt und damit den
Tatbestand der Steuerhinterziehung erfüllt haben (vgl. dazu
auch BGH-Beschluss vom 9.10.2007 - 5 StR 162/07, m.w.N.).
b) Es kommt für die Entscheidung nicht
darauf an, ob und in welchem Umfang tatsächlich vom
Kontenabrufverfahren Gebrauch gemacht wird (in diese Richtung aber
das Hessische FG im Beschluss vom 5.7.2007 - 1 V 1282/07, a.a.O.).
Denn zur Gleichheitswidrigkeit führt nicht ohne weiteres die
empirische Ineffizienz von Rechtsnormen, sondern das normative
Defizit des widersprüchlich auf Ineffektivität angelegten
Rechts (so BVerfG in BGBl I 2004, 591, BVerfGE 110, 94, BStBl II
2005, 56 = SIS 04 13 59). Unmaßgeblich ist danach, wie oft -
gegebenenfalls regional unterschiedlich - die Finanzbehörden
tatsächlich vom Kontenabruf Gebrauch machen und ob dieser
Gebrauch fehlerlos funktioniert. Zwar hat der BFH in seinem Urteil
in BFHE 211, 330, BStBl II 2006, 178 = SIS 06 06 75 (unter II. 2. d
der Gründe) die Länge einer Anlaufphase ebenso offen
gelassen, wie die Frage, ob und ab wann von einem strukturellen
Vollzugsdefizit trotz der gegebenen - eine effektive Erhebung
ermöglichenden - rechtlichen Struktur auszugehen ist. Indes
ist ein verfassungsrechtlich bedeutsames strukturelles
Vollzugsdefizit jenseits eines normativen Erhebungsdefizits nur
denkbar, wenn - so der BFH in seinem Urteil in BFHE 211, 330, BStBl
II 2006, 178 = SIS 06 06 75 (a.a.O.) - das Kontenabrufverfahren aus
politischen Gründen nicht vollzogen wird oder in der
Anlaufphase erkennbare Umsetzungsprobleme nicht gelöst werden.
Dafür bestehen aber keinerlei Anhaltspunkte. Im Gegenteil
zeigt sich mit der durch das Unternehmenssteuerreformgesetz 2008
(UntStRefG 2008) vom 14.8.2007 (BGBl I 2007, 1912, BStBl I 2007,
630) ab 2009 implementierten Quellenbesteuerung - als wirksamste
Form des gegenwartsnahen Gesetzesvollzugs (so BVerfG-Beschluss vom
10.4.1997 - 2 BvL 77/92, BGBl I 1997, 1690, BVerfGE 96, 1, BStBl II
1997, 518 = SIS 97 14 55, unter B. II. 1 der Gründe) - die
Intention zur effektiveren Erhebung (vgl. BTDrucks 16/4841 S. 30)
auch der Erträge aus
Wertpapierveräußerungsgeschäften (vgl. § 20
Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2, § 43 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 9 bis 12
EStG i.d.F. der UntStRefG 2008).
Soweit das Hessische FG im Beschluss vom
5.7.2007 - 1 V 1282/07, a.a.O., eine Intention der Finanzverwaltung
im Anwendungserlass zur AO (zu § 93 Nr. 2.3) zu erkennen
glaubt, vom Kontenabruf in zurückhaltender Weise Gebrauch zu
machen, lässt es außer Acht, dass diese Restriktionen
beim Ermessensgebrauch im Zusammenhang mit dem Verfahren der
einstweiligen Anordnung vor dem BVerfG entwickelt wurden (vgl.
BVerfG-Beschluss vom 22.3.2005 - 1 BvR 2357/04, 1 BvQ 2/05, BVerfGE
112, 284, NJW 2005, 1179 = SIS 05 17 22), worauf der erkennende
Senat in seinem Urteil in BFHE 211, 330, BStBl II 2006, 178 = SIS 06 06 75 (unter II. 2. b bb (4) der Gründe) bereits
ausdrücklich hingewiesen hat.
2. Da der angefochtene Beschluss diesen
Maßstäben nicht entspricht, ist er aufzuheben. Die Sache
ist spruchreif. Der Senat entscheidet in der Sache selbst und lehnt
den Antrag ab. Gründe dafür, dass die Vollziehung
für die Antragsteller eine unbillige, nicht durch
überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte
zur Folge hätte (§ 69 Abs. 3 Satz 1, 2. Halbsatz, Abs. 2
Satz 2 FGO), sind im erstinstanzlichen Verfahren durch das
Rechtsgutachten zwar eingeführt, dort allerdings - ohne sie zu
substantiieren - nur behauptet worden und werden im
Beschwerdeverfahren ersichtlich nicht weiter verfolgt.